| # taz.de -- Französische Literatur: Die Kronzeugin | |
| > Mit „Die Scham“ ist ein neuer Band von Annie Ernaux’ | |
| > autobiografisch-soziologischer Prosa erschienen. Warum können sich gerade | |
| > alle auf sie einigen? | |
| Bild: Findet unsentimentale Worte für sentimentale Menschen: Annie Ernaux | |
| Es ist ein bisschen kurios. Um die Wut im eigenen Land zu verstehen, die | |
| Unzufriedenheit der „einfachen Leute“, schaut man in Deutschland seit ein | |
| paar Jahren in die französische Provinz, in die Häuser der Fabrikarbeiter | |
| und Lädchenbesitzer, und zwar besonders gern durch die Augen von Annie | |
| Ernaux. | |
| Die Geschichte der 80-jährigen Autorin ist der Aufstiegskampf eines | |
| Arbeiterkindes aus der Normandie. Nach dem Besuch der Privatschule arbeitet | |
| sie als Lehrerin und wird als Autorin im Frankreich der 80er-Jahre | |
| schließlich zu einer Art literarischem Pendant zu Pierre Bourdieu, der in | |
| seinem Soziologie-Standard „Die feinen Unterscheide“ herleitete, was Ernaux | |
| in ihrer Prosa eindrücklich beschrieb: Du kriegst das Mädchen raus aus dem | |
| Prekariat, aber du kriegst das Prekariat nicht raus aus dem Mädchen. | |
| Vor Kurzem ist mit „Die Scham“ ein weiterer Band von Ernaux’ Prosa, die | |
| Autobiografie und (Zeit-)Geschichtsschreibung verbindet, auf Deutsch | |
| erschienen. Das Interesse an ihr ist ziemlich neu: In Deutschland wurde | |
| Ernaux kaum gelesen, bis der Soziologe Didier Eribon sie dem Publikum in | |
| seinem autobiografischen Sachbuch „Rückkehr nach Reims“ als seine Meisterin | |
| vorstellte. Die Verlage Fischer und Goldmann hatten Ernaux schon früher | |
| übersetzt, aber die Bücher liefen nicht gut – was im Falle von Goldmann | |
| vielleicht an der irritierenden Groschenroman-Optik des Titels lag. | |
| ## Messerblock und schmutzige Nachtwäsche | |
| Im Zuge des Eribon-Hypes wagte Suhrkamp 2017 noch einen Anlauf und brachte | |
| „Die Jahre“ heraus, eine Art short guide to Annie Ernaux, Schlüssel zu | |
| ihrem experimentellen Schreiben und Erinnern: Ernaux nähert sich ihrem | |
| Leben in Schnappschüssen oder Fragmenten, die oft mehr beschreiben als | |
| erläutern, als literarische Collagen aber wirkmächtiger sind als das | |
| protzigste Zeitgemälde. | |
| Jedes weitere seither erschienene Buch, allesamt neu übersetzt von Sonja | |
| Finck, zoomt tiefer in einen anderen Bereich ihres Lebens hinein: „Eine | |
| Frau“ etwa erzählt die Geschichte ihrer Mutter, „Der Platz“ die ihres | |
| Vaters. | |
| Der in Frankreich schon 1996 erschienene Text „Die Scham“ beginnt mit einem | |
| Hammerschlag, mit der betont nüchternen Beschreibung des Ereignisses, das | |
| ihre Familie fast ausgelöscht hätte: „An einem Junisonntag am frühen | |
| Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Auf wenigen Seiten | |
| handelt sie schließlich ab, was sich am 15. Juni 1952 ereignet: Ernaux’ | |
| Eltern geraten am Esstisch in Streit miteinander, der Vater zieht ein Beil | |
| aus dem Messerblock, es gibt Tränen, Geschrei – aber schließlich doch kein | |
| Blut. Der Vater lässt von der Mutter ab, im Anschluss unternehmen sie eine | |
| Radtour aufs Land. Über den Vorfall werden sie nie wieder sprechen. | |
| Erst 44 Jahre später kann Ernaux rekonstruieren, wie die Scham über sie | |
| kam: die Scham darüber, nun hochoffiziell zu einer Familien zu gehören, die | |
| roh und gewöhnlich ist, gegen die Sittlichkeitsregeln ihrer Gemeinschaft | |
| verstößt, einen groben Dialekt pflegt und schmutzige Nachtwäsche trägt. | |
| Diese Disruption wird für sie zum Anlass, sich vom eigenen Milieu zu | |
| entfremden. Ernaux beschreibt, wie sie Jahre später das Zeitungsarchiv | |
| ihrer Heimatstadt durchsucht und überrascht ist, keine Lokalmeldung über | |
| den versuchten Mord zu finden: Was sie als Wendepunkt und Trauma ihres | |
| Leben empfand, scheint die Welt nicht mitbekommen zu haben. | |
| Weil Ernaux weiß, dass die Witterung an einem bestimmten Tag für das | |
| Erinnern genauso wichtig ist wie die politische Großwetterlage, ziehen auch | |
| in „Die Scham“ wieder Wolken vorbei, wieder scheiden sich Milieus an | |
| Artefakten wie Brillen, Blusen und Strümpfen, während sich die Welt um | |
| Ernaux wandelt. Geschichte passiert nur im Abgleich mit sich selbst, formt | |
| aber zugleich – anders als bei vielen Ich-Schreibern – unablässig das | |
| Studienobjekt Ernaux. | |
| ## Ihr später Erfolg in Deutschland hat viel mit Timing zu tun | |
| Obwohl ihre Sprache oft als unsentimental beschrieben wird, ist Ernaux | |
| unbedingt eine Autorin für sentimentale Menschen. Wenn sie auflistet, | |
| welche Begriffe sie 1952 zum Träumen brachten – „die Königin von Golkonda, | |
| der Boulevard der Dämmerung, Icecream, Pampa“ -, erklärt sie trotzdem nicht | |
| nur Befindlichkeiten; stattdessen beschreibt sie, was in der Welt eines | |
| französischen Arbeitermädchens in den 50ern denk- aber nicht greifbar war. | |
| „Mir ist es wichtig, die Worte wiederzufinden, mit denen ich damals über | |
| mich selbst und die Welt nachdachte“, schreibt sie in „Die Scham“. Die | |
| demonstrative Demut der „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich selbst | |
| beschreibt; ihre Reflektionen über die Prozesshaftigkeit des Erinnerns und | |
| die hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns wirken wundersamerweise selten | |
| kokett. | |
| Ernaux’ später Erfolg in Deutschland hat viel mit Timing zu tun. Der | |
| Soziologe Franz Schultheis sagte neulich im Interview mit der Zeitung | |
| Jungle World, dass die deutsche Mainstream-Soziologie vor vier Jahrzehnten | |
| – als Ernaux in Frankreich längst zum Standardrepertoire gehörte – just d… | |
| Ende der Klassengesellschaft feierte. Heute hingegen scheine man sich | |
| angesichts wachsender Ungleichheit beim Zugang zu allen Formen an | |
| Lebenschancen zu besinnen, dass der „Fahrstuhl nach oben“ eben doch nicht | |
| alle mitnimmt. Der Boom der Milieuerklärungsbücher, seien es die Texte von | |
| Annie Ernaux, Eribon oder dessen Schüler im Geiste Édouard Louis, kann man | |
| dem (wieder-)erwachenden Interesse an sozialen Frage zuschreiben. | |
| Und dieses Interesse wirft auch in Deutschland gerade ziemlich viele | |
| Veröffentlichungen ab. Schon vor sechs Jahren berichtet die Autorin Undine | |
| Zimmer, die heute in einem Jobcenter arbeitet, in ihrem autobiografischen | |
| Buch „Nicht von schlechten Eltern“ vom Aufwachsen mit Hartz IV. Die | |
| Schriftstellerin Daniela Dröscher habe „Rückkehr nach Reims“ mit „glüh… | |
| Ohren“ gelesen, um in ihrem Buch „Zeige deine Klasse“ von 2018 schließli… | |
| zu beschreiben, dass man offenbar auch als Tochter einer Kleinbürger- statt | |
| Arbeiterfamilie Eribon’sche Komplexe mit sich herumtragen kann. Christian | |
| Barons autobiografischer Roman „Ein Mann seiner Klasse“ und Anna Mayrs | |
| Sachbuch „Die Elenden“ aus diesem Jahr thematisieren das Aufwachsen im und | |
| mit dem Prekariat – hier sehr, dort weniger persönlich. | |
| ## Kritiklos mit den Gelbwesten | |
| Auch in Anke Stellings Roman „Schäfchen im Trockenen“ 2019 geht es um | |
| Klassenfragen, um den Übergang von einem PVC- zu einem Dielenbodenleben, | |
| und in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ wird sich an eine Jugend im | |
| westdeutschen Prekariat aus (post-)migrantischer Perspektive erinnert: an | |
| den Rassismus wie auch an die Räume voller Zigaretten- oder | |
| Shishapfeifen-Dunst. | |
| Von niemandem aber kann man sich so präzise und analytisch, hochpersönlich | |
| und universell wie von Ernaux ein Milieu erklären lassen, das es in der von | |
| ihr dokumentierten Form nicht mehr gibt – aber trotzdem in der Autorin | |
| fortwirkt, obwohl die Bildungsaufsteigerin nicht mehr die verunglückte | |
| Dauerwelle von einst trägt. Der ganze Körper erinnert sich bei Ernaux, die | |
| Gedanken hingegen sind längst einmal um die Welt gereist. | |
| Trotzdem bringt Ernaux bis heute mit, was viele wohl als Klassenbewusstsein | |
| beschreiben würden. Sie solidarisierte sich, wie auch Eribon, 2018 (sehr) | |
| kritiklos mit den Gelbwesten-Protesten in Frankreich, wettert regelmäßig | |
| gegen den Neoliberalismus des Präsidenten Macron und sagte mal im Interview | |
| mit der Süddeutschen Zeitung, sie sei keine Universal-Feministin, die | |
| glaube, alle Frauen hätten die gleichen Probleme: Auch unter Frauen könne | |
| es keine Gleichheit geben. Eine Wahrheit, die der liberale Feminismus | |
| eigentlich nicht gern hört. | |
| Und so ist es eigentlich komisch, dass Ernaux in Deutschland, wo | |
| Klassenbewusstsein vielen suspekt ist, nicht skeptischer gelesen wird. | |
| Vielleicht treibt ihre Fans die Sehnsucht nach einer intellektuellen | |
| Armutserklärerfigur, nach einer Kronzeugin mit radikaler Stimme, deren | |
| Klang einem behagt, weil sie empathisch klingt, aber eben nicht mehr nach | |
| Provinz; weil sich Ernaux ihr früheres Milieu voller Zuneigung (und bei | |
| aller Scham auch manchmal: stolz) durch die Augen eines Mädchens | |
| erschließt, das eben diesem Milieu mit aller Kraft entkommen wollte – und | |
| eben auch entkam. | |
| 11 Oct 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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