Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neuer Roman von Elena Ferrante: Genau so wollte sie es machen
> In „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ porträtiert Elena Ferrante ei…
> fragile familiäre Idylle. Der Roman lässt formale Risiken vermissen.
Bild: Elena Ferrantes Roman erzählt auch vom Erfahrungshunger junger Frauen
„Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner
Mutter, ich sei sehr hässlich.“
Elena Ferrante, Autorin der [1][neapolitanischen Erfolgssaga „Meine geniale
Freundin“], borgte sich den ersten Satz ihres neuen Romans „Das lügenhafte
Leben der Erwachsenen“ bei keiner Geringeren als Madame Bovary: „Es ist
seltsam“, ließ Flaubert seine Protagonistin Emma Bovary mit Blick auf ihre
Tochter Berthe denken, „wie hässlich dieses Kind ist!“
Madame Bovary, eine der berühmtesten Frauenfiguren der Literatur,
erschaffen von einem Mann, schreit förmlich nach der Frage: Hätte ein so
unsäglicher, in seiner Wirkung bis heute seinesgleichen suchender Satz auch
von einer Frau stammen können? Oder waren, sind, bis heute, einzig
Schriftsteller in der Lage, ihre literarischen Frauenfiguren Dinge sagen zu
lassen, die Frauen denken, sagen, in der Realität leben, in ihrer ganzen
ungeschönten Brutalität jedoch niemals aufs Papier bringen würden?
Elena Ferrante, das zeigt auch ihr neuer Roman, hält nichts von
Selbstzensur: Ihre zwölfjährige Protagonistin Giovanna überwacht sich, ohne
sich überwachen zu lassen, masturbiert, mit oder ohne Freundinnen, erlebt
erste sexuelle Gehversuche, ohne dass diese in der Lage wären, sie zu
begeistern. Als der Junge, an den sie ihre Unschuld verliert, sagt: „Selbst
schuld, das hätte man besser machen können“, antwortet ihm Giovanna: „Gen…
so wollte ich es machen.“
## Furcht vor rohen Umgangsformen
Ferrante, dafür bekannt, die vielen (nach wie vor ungeschriebenen) Aspekte
weiblicher Erfahrung zu kartografieren, legt den Flaubert’schen
Eingangssatz ihres Romans, der Giovannas Leben von Grund auf erschüttert,
in den Mund ihres Vaters: Seine Tochter, stellt dieser verdrießlich fest,
gerate immer mehr nach ihrer Tante. Seiner Schwester, einer primitiven
Jungfer, nie rausgekommen aus dem peripheren Neapel der Zona Industriale,
die Art Tante, die auf Familienfotos ausgemerzt wird.
Für Giovanna, Ich-Erzählerin des Romans, markiert jener Satz das Ende ihrer
unschuldigen Kindheit. Bei ihr zu Hause, in einer betuchten Gegend
Neapels, fürchtet man die ungehobelten, verrohten Umgangsformeln der
väterlichen Verwandtschaft. Vater Andrea hatte über den Rettungsanker der
Bildung alles daran gesetzt, seiner ärmlichen Herkunft zu entfliehen. Seine
Schwester Vittoria inkarniert all die Eigenschaften, die das gutbürgerliche
Neapel verabscheut: Sie ist ungebildet und unkontrolliert, arm, hat das
Herz auf der Zunge, spricht im Dialekt. Und löse, so schildert es Giovanna,
in ihren Eltern „Angst“ und „Ekel“ aus.
Um jeden Preis gelte es, die unzivilisierte Tante von ihrer Tochter
fernzuhalten. Doch die Worte ihres Vaters bewirken das genaue Gegenteil:
Giovanna will sehen, wie das Gesicht und Leben ihrer Zukunft ausschaut.
## Wie zwei verschiedene Städte
Sie besucht ihre Tante. Vom Rione Alto rund um den gutbürgerlich-gepflegten
Vomero-Hügel geht es sowohl geografisch als auch sozioökonomisch bergab.
Giovanna gewinnt den Eindruck, sie und ihre Verwandtschaft lebten „in zwei
verschiedenen Städten“. Nach und nach tut sich ein anderes Neapel auf,
dessen Bewohnerinnen und Bewohner womöglich einfacher, jedoch auch
vielleicht ehrlicher sind.
Sie sprechen im Dialekt, den Giovanna nicht beherrscht und den Ferrante
ihrer Leserschaft auch in diesem Roman vorenthält. Nicht jedoch ohne ihn
unermüdlich zu erwähnen.
Mit dem Auftauchen ihrer Tante entgleiten Giovanna ihre Werte- und
Wahrheitsanker: „Er“ [dein Vater], wird sie von Vittoria aufgeklärt, „h�…
sich für intelligent, aber das ist er nie gewesen. Ich bin intelligent, er
ist bloß gerissen.“
[2][Wie schon in der Vorgänger-Tetralogie] kommt auch im neuen Roman das
Intellektuellen-Profil nicht gut weg. „Ich bin nicht klug“, sagt Giovanna
von sich selbst, „ich lese nur viele Romane.“ Und, wenige Sätze später:
„statt eigener Worte fallen mir Sätze aus Büchern ein.“
Giovannas Mutter, Lehrerin und Lektorin von Liebesromanen, entpuppt sich
als unfähig, ein erfülltes Leben ohne einen Mann an ihrer Seite zu
imaginieren. Sie verliert nach dem Fortgang ihres Ehemanns – der eine
andere, die Mutter von Giovannas Freundinnen Ida und Angela, liebt –
sämtliche Lebenslust.
## Der Preis für die Bildung
Gebildete, emanzipierte (Frauen-)Figuren in Ferrantes Romanen – wir
erinnern uns an die emsige Elena, die trotz ihrer akademischen
Anstrengungen Lila als die ihr Überlegene begreift, den ungerührten
Langweiler Pietro, Nino, den fadenscheinigen Opportunisten – so bekommt man
den Eindruck, haben durch ihr Streben nach Aufstieg und Anerkennung mehr
verloren als gewonnen. Sie haben, in Giovannas Augen, die von „den vielen
Stimmen des Vaters“ spricht, ihre Wahrhaftigkeit eingebüßt. Jene Form der
Authentizität, die Ferrante im Dialekt verortet.
Giovanna ist angezogen von dieser Tante, die sie behandelt und mit ihr
spricht wie eine Erwachsene. Sie findet in ihr Rohheit und Impulsivität
genauso wie Herzlichkeit und Güte. Wohingegen die hyperkorrekten Sätze
ihrer Eltern, ihr beherrschter Ton zunehmend klängen, „als würde jedes Wort
eigentlich andere, wahrhaftigere Wörter verbergen“.
Die familiäre Idylle entpuppt sich als fragil. Nicht nur entlarvt Giovanna
die Konstruiertheit ihrer Umgebung, sie verweist auch unaufhörlich auf den
fingierten Charakter der eigenen Geschichte: „Offen gesagt weiß ich nicht
mehr, was wir gesprochen haben, doch ich möchte gerne erzählen, dass es
folgendermaßen war.“
Ferrante, so scheint es, möchte ihre Leserschaft nicht vergessen lassen,
welches Maß an Kniffen und Kunstfertigkeit vonnöten ist, um Geschichten zu
schreiben, die wahr scheinen. Vielleicht deshalb wirken einige von
Giovannas Empfindungen gestelzt, ihre Aussagen konstruiert, als hätte die
Autorin zu lange an ihnen geschliffen. Und auch ein derart ausgeprägtes
Reflexionsvermögen, wie Giovanna es an den Tag legt, würden wohl nur die
wenigsten einer zwölfjährigen, pubertierenden Teenagerin zusprechen.
Auch der für Ferrante typische lakonische Stil, in deutscher Übersetzung
von Karin Krieger, wird an seine Grenzen getrieben. Statt Fahrt
aufzunehmen, plätschert die Erzählung über die ersten Kapitel vielmehr vor
sich hin. Erst mit dem Auftritt Vittorias, die gleichwohl selbst in ihren
stärksten Momenten nicht an die Stahlkraft einer Lila, ihre
Vielschichtigkeit und ihre Spitzzüngigkeit, heranzureichen vermag, tut sich
etwas. Stellenweise baut sich, dem Ferrante-Schema entsprechend, an
Kapitelenden Spannung auf.
Doch insgesamt lässt der Roman formale Risiken vermissen. Giovanna benutzt
ihre Tante wie eine Sparringspartnerin, um den eigenen
Transformationsprozess in Gang zu bringen. Bis sie, einmal selbst zur
Meisterin des Betrugs und Selbstbetrugs aufgestiegen, ihrer Tante
überdrüssig wird.
Mit dem Verschwinden Vittorias büßt der Roman Dynamik ein. Zumal eine der
großen Errungenschaften der Erzählerin Ferrante darin besteht, in „Meine
geniale Freundin“ [3][ein halbes Jahrhundert italienischer Geschichte
vielgestaltig erzählt] zu haben, ohne dass die psychologische Präzision und
Pertinenz von Protagonistinnen wie Randfiguren gelitten hätte.
Wo das neapolitanische Quartett anhand eines mannigfaltigen Personals die
komplexen sozialen und politischen Verstrickungen im Neapel des 20.
Jahrhunderts nachzeichnete, fokussiert Ferrantes neuer Roman zu vehement
auf das Innenleben seiner Protagonistin. Dabei hätte es gelohnt, der Spur
anderer spannender, aber doch allzu wenig ausgearbeiteter Figuren zu
folgen. Ihren Träumen, Kämpfen und Illusionen, einer Zeit geschuldet und
einem Ort – den Neunzigern, dem beginnenden Aufstieg Berlusconis, dem
beginnenden Abstieg eines Landes, von denen uns „Das lügenhafte Leben der
Erwachsenen“ leider nicht erzählt.
Daran ändert auch ein Ende nichts, das den Beginn einer neuen Saga erahnen
lässt.
3 Nov 2020
## LINKS
[1] /Neapel-Saga-von-Elena-Ferrante/!5333039
[2] /Band-2-von-Elena-Ferrantes-Neapel-Saga/!5368867
[3] /Neapelsaga-von-Elena-Ferrante/!5436766
## AUTOREN
Marielle Kreienborg
## TAGS
Literatur
Roman
Italien
Neapel
Elena Ferrante
Emanzipation
Bildung
Literatur
Buch
Literatur
taz.gazete
Literatur
Didier Eribon
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
Feministische Autorin Alba de Céspedes: Ein Heft für sich allein
Die italienisch-kubanischen Autorin Alba de Céspedes war eine sehr
erfolgreiche Autorin und Widerstandskämpferin. Nun wird ihr Werk neu
entdeckt.
Neuer Roman von Julia Deck: Banale Ungeheuerlichkeit
Eigenheim ist nicht Glück allein. In „Privateigentum“ dekonstruiert Julia
Deck die Vorstellung vom perfekten Leben in der Pariser Vorstadt.
Italienische Weihnachtsgeschichten: Von Gütern und Güte
Autor:innen erzählen von Weihnachten. Dabei reisen die Heiligen Drei Könige
per Raumschiff an und ausgebeutete Weihnachtsmänner fluten die Straßen.
Nachruf auf Pädagogen Remo Largo: „Jedes Kind ist ein Unikat“
Remo H. Largo klagte die Schulen an, dass sie der Verschiedenheit von
Kindern zu wenig gerecht werden. Ein Nachruf zum großen Autor und
Pädagogen.
Entdeckung eines Emanzipationsromans: In Sätzen träumen
Vor siebzig Jahren schrieb Josepha Mendels über ein Mädchen, das
Schriftstellerin werden will. Zu entdecken ist eine sehr moderne Autorin.
Französische Literatur: Die Kronzeugin
Mit „Die Scham“ ist ein neuer Band von Annie Ernaux’
autobiografisch-soziologischer Prosa erschienen. Warum können sich gerade
alle auf sie einigen?
Elena Ferrantes grandiose Neapel-Saga: Gefährlicher als das Heroin
Der krönende Abschluss eines erzählerischen Jahrhundertwerks: „Die
Geschichte des verlorenen Kindes“ von Elena Ferrante.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.