# taz.de -- Nachruf auf Pädagogen Remo Largo: „Jedes Kind ist ein Unikat“ | |
> Remo H. Largo klagte die Schulen an, dass sie der Verschiedenheit von | |
> Kindern zu wenig gerecht werden. Ein Nachruf zum großen Autor und | |
> Pädagogen. | |
Bild: „Beziehung statt Erziehung“: Bestsellerautor Remo Largo 2011 in Uetli… | |
Remo Largo hätte nicht widersprochen, wenn ich seine Stimmung melancholisch | |
nenne. Das hatte nichts mit persönlichem Optimismus oder Pessimismus zu | |
tun. Nur war es ihm zeitlebens offensichtlich, dass unsere Lebensweise sich | |
nicht als zukunftsfähig oder enkeltauglich erweist. Allein wenn er von | |
seinem Haus oberhalb des Zürichsees auf die Gletscher blickte. Er hatte sie | |
schon als Kind gesehen und geliebt. | |
Groß, erhaben und schön. Er sah, wie sie dahinschwanden. Zugleich waren | |
Berge, Natur, Kinder starke Kontrapunkte zu der wachsenden Sorge, dass es | |
mit unserem Weltverbrauch nicht gut gehen kann. Doch wenn Remo Largo keine | |
Zuversicht gehabt hätte, wäre er nicht so unglaublich produktiv und nicht | |
so mit der Welt befreundet gewesen. | |
Kaum jemand, der in den letzten Jahrzehnten Mutter oder Vater wurde, kennt | |
eines seiner Bücher nicht. „Babyjahre“, „Kinderjahre“, „Jugendjahre�… | |
gehören zu den einflussreichsten – und jetzt bleibt einem das Wort im Munde | |
stecken – „Ratgebern“. Denn Ratgeber sind seine Bücher nicht. Und sie si… | |
es doch. | |
„Als unsere Kinder klein waren,“ schrieb mir jetzt eine sonst nur mit | |
Büchern befasste Freundin, „haben diese Bücher unmittelbar geholfen, von | |
welchem Autor kann man das sagen?“ Remo Largo predigte keine Haltung. Er | |
hatte eine. Aus seinen genauen, zuweilen überraschenden Beobachtungen an | |
Kindern folgt so viel mehr als aus den schnellen Urteilen und Rezepten der | |
immerzu schon Wissenden. Seine Antwort auf die Bitte um ein Kondensat | |
seiner Studien: „Jedes Kind ist ein Unikat. Die Kinder kommen schon | |
einmalig auf die Welt und werden im Laufe ihres Lebens immer | |
verschiedener.“ | |
## Menschliche Grundbedürfnisse | |
Er stimmte ein hohes Lied auf die Einzigartigkeit eines jeden Menschen an. | |
Und darauf, dass wir mit allen Lebewesen verwandt sind. So hieß sein | |
letztes, in diesem Jahr erschienenes Buch „Zusammen leben“. Nach seinen | |
über eine Million Mal verkauften Büchern über Kinder und Jugendliche machte | |
er sich an eine Art Inventur der menschlichen Grundbedürfnisse und | |
Kompetenzen. „Das passende Leben“ hieß sein vorletztes Buch. | |
Angesichts seiner düsteren Gedanken an die Zukunft könnte man an ein | |
Testament für einen möglichen day after denken. Ein Arche-Noah-Projekt? | |
Eher eine Arche Nova, die rechtzeitig in Umlauf gebracht, das | |
Selbstverständliche, das nicht selbstverständlich ist, stärkt. | |
Wir kannten uns seit 15 Jahren. Waren befreundet, haben uns getroffen und | |
regelmäßig telefoniert. Zuletzt entwickelte sich in den Gesprächen ein Sog | |
dahin, für möglich zu halten, dass es tatsächlich und ganz konkret um | |
solche Archen gehen könnte. Schulen, aus denen endlich Lebensorte werden | |
sollten, in denen sich die Generationen treffen. | |
Vielleicht wäre es in diesen [1][Schulen, in denen Zukunft entsteht, für | |
uns Erwachsene ebenso wichtig, von Kindern zu lernen], wie dass sie von | |
Erwachsenen lernen. Orte, um ganz gegenwärtig zu sein. | |
## Von Kindern lernen | |
Kinder waren seine wichtigsten Lehrer. Sie haben ihm im Laufe der Zeit auch | |
Demut beigebracht. Das begann für den Kinderarzt und späteren | |
Hochschullehrer Mitte der 1970er-Jahre als er die Leitung der „Zürcher | |
Longitudinalstudie“ übernahm. Für diese Langzeitstudie zur | |
Kindesentwicklung wurden inzwischen 900 Kinder bis ins Erwachsenenalter | |
beobachtet. Sie ist weltweit eine der umfangreichsten Studien dieser Art. | |
An der Universitätsklinik blieb Remo Largo bis zu seiner Emeritierung im | |
Jahr 2006 Professor für Kinderheilkunde. | |
Seine Genauigkeit wies ihm Wege und unerwartete Standpunkte in dem häufig | |
von Ideologen planierten Gelände der „Bildung“. Er klagte die Schulen an, | |
dass sie der Verschiedenheit und Individualität so wenig gerecht werden. | |
Bei all der Stofffülle – und wir waren uns einig, dass man den „Stoff“ d… | |
Dealern überlassen sollte – geizten sie mit guten Gelegenheiten für Kinder, | |
selbst tätig zu werden. | |
Er klagte sie nicht dafür an, dass sie nicht jedes Kind mit Abitur | |
entlassen. Denn die ursprüngliche Verschiedenheit – und dazu gehören auch | |
Schwächen – ist im Kern nicht aufzulösen. Sie ist anzuerkennen. Mit ihr ist | |
umzugehen. Und dann lässt sich auch aus Schwächen oft eine Stärke machen. | |
Es gibt so viele Möglichkeiten für das „passende Leben“, das ihn die | |
letzten Jahren beschäftigte. Die Betonung liegt im Plural. Es gibt nicht | |
die eine Form. Und auch zwei oder drei Prokrustesbetten nebeneinander | |
aufzustellen hilft nicht weiter. Man erinnere sich: Prokrustes war in der | |
griechischen Mythologie der Wirt, der seine Gäste entweder dehnte oder | |
beschnitt, damit sie in sein Einheitsbett passten. | |
## Autonomes Lernen | |
Für Kinder wirklich geeignete Schulen erwartete er erst, wenn diese | |
„autonom“ würden. Schulen, die selbst lernen. Die verstehen, wie | |
verschieden Kinder sind, damit jedes Kind auf seine Weise das tun kann, was | |
alle Kinder ohnehin wollen: lernen. Man darf Lernen nicht länger zur | |
passiven Seite von Belehrung stutzen und auf das Erreichen von Standards | |
reduzieren. | |
Denn: „Kinder können nur dann eigene Lernstrategien entwickeln, wenn man | |
sie lässt.“ Die Erwachsenen müssten für die Kinder einfach da sein. | |
Selbstständigkeit und Individualität, das war sein Credo, entwickeln Kinder | |
aus sicheren Bindungen. | |
Das passende Leben für die Verschiedenen kann nur aus der Vielfalt von | |
Gelegenheiten entstehen. Eine fand Remo Largo selbst vor ein paar Jahren | |
auf der gegenüberliegenden Seite des Zürichsees. Eine kleine Schule, in der | |
nicht unterrichtet wird. Wie bitte? Eine Schule, in der nicht unterrichtet | |
wird? Er hatte mir empfohlen, sie unbedingt zu besuchen, um einen Film zu | |
drehen. Er zitierte seine Frau, die ihn fragte, „wo kommst du denn her“, | |
wenn er von dort so entspannt nach Hause kam. | |
Die Schule heißt Villa Monte. Es ist kein Schulhaus mit Klassenräumen, | |
sondern eine Villa mit lauter schönen verschiedenen Räumen. Draußen | |
Werkstattgeräusche. Stolz zeigt ein Knirps sein Schwert. Ein anderer sein | |
halbfertiges Holzgewehr. Nanu, eine Waffenkammer? Die Kinder werden nicht | |
pazifistisch agitiert, sie werden handwerklich unterstützt. Keine Schule | |
habe ich je so friedvoll erlebt wie diese. Irgendwann lassen die Kinder die | |
Waffen, um die kein pädagogischer Krieg geführt wird, einfach stehen. | |
## Wenn sie nur dürfen | |
Im Gebäude fällt über dem Telefontisch dieser Spruch auf: „Wenn ich nur | |
darf, was ich soll, aber nie kann, wenn ich will, dann mag ich auch nicht, | |
wenn ich muss. Wenn ich aber darf, wenn ich will, dann mag ich auch, wenn | |
ich soll, und dann kann ich auch, wenn ich muss. Denn die können sollen, | |
müssen wollen dürfen.“ Diesen Satz hat Remo Largo immer wieder zitiert. | |
Ebenso diesen hier: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht.“ | |
In diesem Sinne war er gegen Erziehung und setzte an deren Stelle | |
Beziehung. | |
Im Hauseingang der Villa Monte stehen Schuhe. Es geht raus und rein. Die | |
Erwachsenen in dieser Schule mit 80 Kindern und Jugendlichen binden Kindern | |
geduldig die Schuhbänder. Kein Insistieren auf Selbstständigkeit. Schon | |
wieder so eine Irritation. Für Remo Largo war das eine typische Situation. | |
Sie helfen den Kindern und dann dauert es manchmal länger. | |
Aber meistens geht es ganz schnell, dass die Kinder ihre Schuhbänder selbst | |
zubinden wollen. Ja, sie wollen. Lernen ist zumeist ein indirekter Vorgang. | |
Das allzu Direkte beleidigt uns und aktiviert unser psychisches | |
Immunsystem. Aber das Indirekte erfordert Geduld und, ja, Liebe. [2][Liebe | |
zu den Kindern und Liebe zur Welt.] | |
Die Eltern sind übrigens nicht die Reichen vom Zürichsee. Interessant auch: | |
die Kinder kommen später in die Pubertät. Oft zwei oder noch mehr Jahre | |
später als der Durchschnitt. In dieser Schule, die nicht unterrichtet, wird | |
viel gelernt. Und was wird aus den Absolventen? Von den kürzlich nach 30 | |
Jahren befragten Abgängern ist keiner arbeitslos. | |
## Nein sagen zu dürfen | |
Sie sind auch nicht, wie die Gründer mal dachten, überwiegend Künstler | |
geworden. Eigenwillige Biografien sind häufig. Etwa der Gründer einer | |
erfolgreichen Informatikfirma, der in der Schule matheabstinent blieb. Es | |
läuft eben anders. Bei einem meiner Besuche konnte ich miterleben, wie | |
plötzlich ein Mathefieber ausbrach, ein Lernvirus. Die Möglichkeit, nein zu | |
sagen, ist die Voraussetzung, bejahen zu können. Vor allem aber, so Remo | |
Largo, braucht es das „Gottvertrauen, das die Erwachsenen in die Kinder | |
haben“. | |
Am vergangenen Mittwoch ist Remo Largo gar nicht unerwartet in seinem | |
schönen Haus zwischen den noch nicht völlig abgetauten Gletschern und dem | |
weiten Zürichsee gestorben. Er hatte in diesem Jahr den dritten Hirnschlag | |
seines Lebens. Er sprach darüber, dass er nie erwartet hatte, so alt zu | |
werden. Sein 77. Geburtstag stand diesen Monat bevor. | |
Die einer Erbkrankheit geschuldeten Einschläge, den ersten Hirnschlag hatte | |
er mit 31 Jahren, hatten ihn den Gegenpol zur wunderbaren „Gebürtlichkeit“ | |
(Hannah Arendt) erfahren lassen, unsere Sterblichkeit. Von der wusste er, | |
dass auch sie eine Quelle ist. So wie Lessing, der über die Götter der | |
Antike schrieb, dass sie, die Unsterblichen, uns Sterbliche gerade für | |
unsere Sterblichkeit beneideten. Erst diese ermögliche Freundschaft. | |
15 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Reinhard Kahl | |
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