# taz.de -- Debatte Erziehung: Ein Ort für Kinder | |
> Kinder spielen immer seltener draußen. Die Kitas kümmern sich zu wenig | |
> darum, die Kinder mit interessanten Raumgestaltungen herauszufordern. | |
Bild: Wie wäre es denn, wenn tatsächlich Orte für Kinder geschaffen würden? | |
Dass man auf die Idee kommt, nach Orten für Kinder zu fragen, ist | |
historisch neu. Es ist noch nicht lange her, da war die Antwort klar: | |
draußen. | |
Draußen bot sich ein Universum: der Wald oder eine Baustelle, der Hinterhof | |
oder die Straße. Zeitweilig auch Trümmergrundstücke. In meiner Kindheit in | |
den 1950er Jahren rief nachmittags immer jemand: „Kahli, kommst du runter?“ | |
Unsere Tochter hat ähnliche Worte schon nicht mehr kennengelernt. Was ist | |
passiert? | |
Remo Largo ist Kinderarzt und hat wie kaum ein anderer das Leben der Kinder | |
erforscht. Bis zu seiner Emeritierung hat er die Abteilung „Wachstum und | |
Entwicklung“ an der Universitäts-Kinderklinik Zürich geleitet und 800 | |
Kinder auf ihrem Weg von der Geburt bis ins Erwachsenenleben beobachtet. | |
Ihn stimmt der Alltag der meisten Kinder heute geradezu pessimistisch. Viel | |
zu viele wachsen nicht mehr mit anderen Kindern auf. Vielfalt sei wichtig. | |
Kinder seien immer auch mit vielen Erwachsenen aufgewachsen. | |
Und noch etwas: Dreißig Jahre habe er gebraucht, bis er darauf gekommen | |
sei, dass bis vor etwa zweihundert Jahren die Kinder in der Natur | |
aufgewachsen sind. Nur zum Schlafen waren sie in Höhlen und Hütten. Sonst | |
waren sie draußen. „Noch nie“, sagt er, „habe ich ein Kind im Wald geseh… | |
das sich dort gelangweilt hat.“ | |
## Zurück zur Natur | |
Neurobiologen stoßen ins selbe Horn. Ein derzeit beliebtes Thema ist die | |
Ausbildung der exekutiven Funktionen im Frontalhirn. Man könnte es auch | |
Selbstkontrolle oder Willen nennen. Diese Funktionen werden trainiert, wenn | |
das Leben etwas widerständig ist, wenn man Erfolge hat und angefangene | |
Dinge zu Ende bringt. Zum Beispiel Bucheckern sammeln und Lieder singen. | |
Das gehörte in den letzten hunderttausend Jahren zum Normalfall einer | |
„artgerechten Erziehung“, so argumentiert jedenfalls Herbert Renz-Polster. | |
Er ist Forscher und Arzt und verlangt mehr Naturerfahrung für eine „neue | |
Balance von drinnen und draußen“. | |
Das könnte die Überschrift für ein großes Projekt sein, das die Politik | |
mutig zu formulieren und in Gang zu bringen hätte. Stattdessen verzaudert | |
sie sich in einer Doppelstrategie mit allerdings einem gemeinsamen Nenner: | |
Betreuung. Seit dem 1. August verführt das staatliche Betreuungsgeld | |
Eltern, ihre Kinder zu Hause zu lassen. Zugleich gilt von diesem Tag an das | |
„Kinderförderungsgesetz“, das Kindern von ihrem ersten Geburtstag an einen | |
Betreuungsplatz garantiert. Den Kindern? Oder den Eltern? Oder der | |
Wirtschaft? Betreuungsplatz, Betreuungsgeld, hätte man nicht lieber gleich | |
Verwahrung sagen sollen? | |
Wie wäre es denn, wenn tatsächlich Orte für Kinder geschaffen würden? Orte, | |
an denen sie erfahren, dass sie nicht nur einen Körper haben, sondern einer | |
sind. Orte, an denen sie verschiedene Erwachsene kennenlernen, sozusagen | |
Botschafter aus der tätigen Welt. Denn die können auch die genialsten | |
Pädagogen nicht simulieren. Aber auch Orte, an denen Kinder sich der | |
erwachsenen Dauerkontrolle entziehen können. | |
Die Erfahrung starker Erwachsener und auch Erfahrungen von Abenteuern ganz | |
ohne sie, beides wäre gewissermaßen das Yin und Yang gelingender Erziehung. | |
So schwarz der Erziehungsfuror früher Generationen auch gewesen sein mag. | |
Für die Kinder gab es immer noch das große weite Draußen. Und den Wald. | |
Diese Antagonisten brauchen die heutigen, sanft Dauerumsorgten erst recht. | |
## Affenpolitik | |
Also Freiraum und kultivierte Orte! Es gibt ja solche Orte, nur sind sie | |
selten und werden fatalerweise durch das neue Gesetz erst mal noch | |
seltener, weil jetzt Quantität vor Qualität geht. Nun muss eine Erzieherin | |
vielleicht ein Kind mehr betreuen. Wer wird denn so egoistisch sein und | |
nicht teilen wollen? Ein paar passen doch noch rein! Das ist der Skandal | |
einer Politik, deren Akteure in vielem an die drei Affen erinnern, die | |
nichts hören, nichts sehen und auch nichts sagen wollen. | |
Aber zugleich gibt es neben diesem eingeschränkten Gesichtsfeld der | |
Politikerpolitik gerade in der frühkindlichen Bildung eine andere Art von | |
Politik, eine im Wortsinn, die aus dem Wunsch nach einer lebendigen Polis | |
aus der Polis selbst kommt. So hat Daniel Barenboim in Berlin 2005 einen | |
Musikkindergarten gegründet, in dem es nicht um Musikerziehung geht, | |
sondern um Erziehung durch Musik. Wenn die Musiker aus der Staatskapelle | |
Berlin zu den Kindern gehen, will er damit, so sagt er, eine Revolution in | |
der Bildung anzetteln. Es gibt inzwischen Ableger. | |
Oder in Mülheim an der Ruhr. Eine Schlucht, in der Kinder auf sich selbst | |
gestellt Wasser stauen, Hänge hoch kraxeln oder vor dem Eingang zu einem | |
ehemaligen Bunker kauernd sagenhafte Tiere vermuten. Sie heben Löcher aus | |
und bedecken sie mit Reisig. Eine Falle für den Wolf. Neben der Schlucht | |
steht ein Haus, ihr Basislager, in dem sie ihre Exkursionen vorbereiten und | |
anschließend mit kundigen Erwachsenen auswerten. | |
Oder nehmen wir eine ganz normale öffentliche Einrichtung der Stadt, die | |
Kinderkrippe Tornquiststraße in Hamburg-Eimsbüttel. Dort sind die | |
Innenräume wie Landschaften gestaltet. Galerien auf unterschiedlichen | |
Ebenen. Treppen, Nischen, Rutschen, Leitern. Raum für Exkursionen auf | |
eigene Faust. Es beginnt schon mit einem Aufgang aus unterschiedlichem | |
Material, der vom Garten ins Haus führt. Das bringt Wahrnehmungen für die | |
Füße. Erste Übungen für die Kinder, zu unterscheiden und sich zu | |
entscheiden, welchen Weg sie gehen wollen. | |
## Kathedralen der Erziehung | |
Warum reden wir so selten über solche Orte? Warum fangen zum Beispiel | |
unsere rüstigen und zumeist lebensfrohen Pensionäre nicht zusammen mit | |
Pädagogen damit an, sie zu bauen und dort mitzuwirken? Warum nicht statt | |
dieser grässlichen Betreuungsmetaphorik und Unterbringungs- und | |
Verwahrpraxis das unverschämte Leitbild, dass unsere Bildungshäuser von den | |
Krippen bis zu den Schulen – und vielleicht irgendwann auch die | |
verwahrlosesten Hochschulen – das sein sollten, was im Hochmittelalter die | |
Kathedralen waren? | |
Unsere schönsten und besten Orte. Orte, die gutes und gelungenes Leben | |
symbolisieren und auch ganz konkret ermöglichen. | |
10 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Kahl | |
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