| # taz.de -- Band 2 von Elena Ferrantes Neapel-Saga: Puder über dem Grauen | |
| > Ferrantes Erzählung handelt von Liebe, Sex und Adoleszenz im Italien der | |
| > sechziger Jahre. Die Geschichte zweier ungleicher Freundinnen. | |
| Bild: Ischia: wo nicht nur Merkel, sondern auch Lila und Elena gerne Urlaub mac… | |
| Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens. Diese Phrase gilt nicht | |
| unbedingt für Lila und Elena, die beiden Hauptfiguren von Elena Ferrantes | |
| Neapel-Saga. Die beiden sind als Kinder und Mädchen die tragenden Figuren | |
| des ersten Bandes dieses international gefeierten Romanepos. Darin erzählte | |
| Ferrante zunächst von einem Neapel der 1950er Jahre, italienischer | |
| Unterschichtenkultur, wilden Vierteln wie dem Rione, in denen der Staat | |
| abwesend, Armut und Camorra allgegenwärtig waren. | |
| Lila und Elena, die zwei ungleichen Freundinnen, sind auch die beiden | |
| Hauptfiguren des jetzt auf Deutsch erscheinenden zweiten Bandes („Die | |
| Geschichte eines neuen Namens“, Suhrkamp Verlag, ab 10. Januar). | |
| Mittlerweile befinden wir uns in den 1960er Jahren. Lila, das eigenwillige | |
| Kind, ist von der einfachen Tochter einer rohen Schusterfamilie zu einer | |
| glamourösen „Jackie Kennedy“ des Rione-Viertels aufgestiegen. | |
| Elena, ihre loyale Freundin, tritt in ihrer Selbstwahrnehmung als | |
| „Brillenschlange“ hingegen auf der Stelle, sexuell wie ökonomisch. Die | |
| fleißige, integre Pförtnerstochter, von pubertären Selbstzweifeln und | |
| habituellen Minderwertigkeitsgefühlen geplagt, dient Autorin Ferrante als | |
| Icherzählerin und zentrales Werkzeug. | |
| ## Familie, Kleinunternehmer und Camorra | |
| Das alles grundierende literarische Thema Ferrantes bleibt, was der | |
| Franzose Didier Eribon in seinem Buch „Reise nach Reims“ soziologisch als | |
| „Männlichkeitskult der unteren Schichten“ benennt. In diesen verharren | |
| Ferrantes Figuren, oder sie versuchen, ihnen mit allen Mitteln zu | |
| entkommen. Gegen Armut, paternalistische Gewalt- und Klassenverhältnisse | |
| lässt Ferrante Elena auf Bildung setzen, die so schließlich die Flucht nach | |
| außen antritt. Im Nachkriegsitalien war das Bildungssystem für untere | |
| Schichten nur rudimentär vorhanden. | |
| Doch Disziplin, Förderung durch eine Lehrerin sowie der Wettstreit mit Lila | |
| machen Elena zur Klassenbesten, ein Stipendium in der toskanischen | |
| Universitätsstadt Pisa folgt. | |
| Lila geht einen anderen Weg. Emotional dem Territorium mit seinem | |
| Herkunfts- und Beziehungsgeflecht verhaftet, bricht sie im Rione eine | |
| persönliche Revolte vom Zaun. Sie veranstaltet so etwas wie ihren privaten | |
| „Marsch durch die Institutionen“. Die impulsive und glamouröse junge Frau | |
| sucht Familie, Kleinunternehmertum und Camorra durch die Platzierung ihrer | |
| selbst in entscheidender Position zu reformieren. Doch die Grenzen (im | |
| klassischen Sinne) weiblicher Macht werden rasch aufgezeigt. | |
| Die Vernunftehe mit dem Lebensmittelhändler Stefano schützt Lila weder vor | |
| rauen Sitten noch der Camorra. Ein „dreckiger Strom lebendiger Materie“, | |
| vor dem Lila sich in Mutterschaft und innere Emigration zurückzieht, | |
| schließlich den harten Weg in die Proletarisierung antritt. Statt Salami zu | |
| verspeisen, wird sie diese nun verwursten. | |
| ## Lumpenproletarischer Freigeist | |
| Zunehmend ablehnender lässt Erzählerin Ferrante das nihilistische und | |
| extravagante Aufbegehren Lilas durch Elena kommentieren. Lila, die | |
| Hochbegabte, die die Schule im Gegensatz zu Elena abbrach und sich auf das | |
| Spiel mit den gefährlichen Männern einließ und dafür bezahlt. Aber Lila | |
| bleibt auch die herausragende jugendliche Selbstdenkerin, ein | |
| lumpenproletarischer Freigeist, der sich in einer Szene bohemehaft Pasolini | |
| nähern kann, dem großen Literaten und Filmer, den auch ihre männlichen | |
| kommunistischen Freunde vor allem für eine abgehobene „Tunte“ halten. | |
| Für Elena bahnt sich mit Band 2 und den 1960er Jahren endlich Glück und | |
| unverhofft Karriere an. Sie setzt sich im Studium durch, lernt in Pisa | |
| Habitus und Umgangsformen der gebildeten Schichten kennen. „Auf der | |
| Landkarte des Status kannte ich mich nicht aus“, die süditalienische | |
| Außenseiterin versteht es dennoch zu bestehen. In den Worten ihres | |
| Liebhabers lässt Ferrante Elena andere Frauen als „Scheinanständige“ | |
| kommentieren. „Spießige Mädchen, die lieber ihren Arsch hinhielten, als die | |
| Sache so zu machen, wie es sich gehörte“, um später als unbefleckte | |
| Jungfrauen in den Hafen der Ehe einzulaufen. | |
| Mit intellektuell reizvollen und wohlhabenden Partnern lernt Elena hingegen | |
| eine freiere Sexualität kennen. Und deren Grenzen. Ferrante beschreibt ein | |
| akademisches Milieu, das unmittelbare Körperlichkeit abwärts der Zunge eher | |
| vermeidet: „Was war das? Eine Diskussion? Eine Übung, um uns künftig mit | |
| Leuten zu messen, die wie wir gelernt hatten, mit Wörtern umzugehen? Ein | |
| Austausch von Signalen, mit dem wir uns bewiesen, dass die Voraussetzungen | |
| für eine lange, fruchtbare Freundschaft gegeben waren? Ein kultivierter | |
| Schutzschild gegen sexuelles Verlangen?“ | |
| Auch Band 2 von Ferrantes Neapel-Saga ist spannender als jede noch so gute | |
| Fernsehserie. Mit Vergnügen folgt man ihren Figuren auf der Suche nach | |
| wahrer Radikalität und Subjektivität. Wie sie sich verheddern, | |
| aufschwingen, bruchlanden. Bezog der erste Band seinen Reiz aus der | |
| kindlichen Erzählperspektive, sind es nun die Teenager und ihre jäh | |
| zerschellenden Träume, ihr Entdecken großer Gefühle, Empfindungen, | |
| Bedürfnisse und Zweifel, die die Handlung behutsam, aber unerbittlich | |
| vorantreiben. | |
| ## „Der dreckige Strom lebendiger Materie“ | |
| Ist die Schönheit eine Täuschung, wie der Garten bei Leopardi?, wird Elena | |
| bei einem akademischen Gespräch in Pisa gefragt. Sie beherrscht inzwischen | |
| das Spiel: „Ich wusste nichts über Gärten bei Leopardi, sagte aber: Ja. Wie | |
| das Meer an einem wolkenlosen Tag. Oder wie ein Sonnenuntergang. Oder wie | |
| der Himmel bei Nacht. Sie ist Puder über dem Grauen. Wischt man ihn ab, | |
| bleiben wir allein mit unserem Entsetzen.“ | |
| Autorin Ferrante skizziert für Elena einen Weg, den der Soziologe Eribon | |
| für sich so beschrieb: „Ich musste meine Wünsche so weit herunterschrauben, | |
| bis sie zu meinen sozialen Möglichkeiten passten. Ich musste kämpfen, und | |
| zwar zuallererst gegen mich selbst, um mir Fähigkeiten zuzusprechen und | |
| Rechte zu erschließen, die anderen von vornherein mitgegeben waren. Wege, | |
| die für andere wie eine gut ausgeschilderte Straße aussahen, musste ich mir | |
| zögerlich ertasten. Oder ganz andere finden, weil sich herausstellte, dass | |
| die existierenden für Leute wie mich nicht offenstanden.“ | |
| Für Elena scheint die Welt Ende des zweiten Bandes weit offen. Für Lila | |
| hingegen die Jugend um 1968 bereits unwiderruflich vorbei. Wohin „der | |
| dreckige Strom lebendiger Materie“ weitertreibt? Der im Frühjahr auf | |
| Deutsch erscheinende dritte Band wird uns Aufschluss geben. | |
| 8 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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