Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Elena Ferrantes grandiose Neapel-Saga: Gefährlicher als das Heroin
> Der krönende Abschluss eines erzählerischen Jahrhundertwerks: „Die
> Geschichte des verlorenen Kindes“ von Elena Ferrante.
Bild: Blick auf Rione Luzzatti in Neapel. Angenommen wird, dass Ferrante ihre R…
Die permanente Auseinandersetzung um das, was du bist, sein willst und vor
allen Dingen sein sollst, zwischen beharrender Tradition und
emanzipatorischer Behauptung schwingt auch in jeder Zeile des vierten
Bandes von Elena Ferrantes Neapel-Saga mit. Bis auf die letzten der 600
(von insgesamt über 2.100) Romanseiten weiß die Autorin ihr millionenfaches
Lesepublikum mitzunehmen und zu begeistern.
In „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ treibt sie die um ihre
Hauptpersonen Lila und Elena angelegte Erzählung in makellosem Stil weiter
voran. Mit den ungleichen, im Nachkriegsitalien aufgewachsenen Freundinnen
durchschreiten die Leser*innen nun die italienische Nach-68er-Gesellschaft.
Aus den wütenden Jugendlichen der 1960er Jahre sind in den 1970ern Eltern
geworden. Ferrantes Frauenfiguren teilen jetzt in den 1980ern, ob sie mit
Linksintellektuellen oder rechten Camorristi zusammenleben, ein ähnliches
Los: Für Haushalt und Kinderaufzucht sollen sie in der Regel allein
zuständig sein.
Ferrante lässt im vierten Band ihres Romanzyklus, der Periode der
Ernüchterung, die Kinder- und Jugendfreundschaft ihrer beiden Hauptfiguren
Elena und Lila neu aufleben. Beide bekommen mit zweiten Partnern erneut und
zugleich Kinder. Lila ist die unbeugsame geblieben. Die harte, stolze und
geheimnisvolle Frau, aber nun deutlich gezeichnet von dem konfliktreichen
Leben. Im Gegensatz zu Freundin Elena hat sie Neapel und den plebejischen
Rione nie verlassen. Dort versucht sie die Dinge weiterhin frontal
anzugehen.
## Die Widersacherin der Camorra- und Faschistenclans
Mit Mut und Intelligenz will sie die Männerhorden in Schach halten,
bändigen, auf deren Terrain vernichtend schlagen. Sie ist die zähe
Widersacherin der lokalen Camorra- und Faschistenclans, deren sie sich
bedient, um sie gegeneinander auszuspielen und mit denen sie
versippschwägert ist. An ihrer Seite schweigsame proletarische Männer, die
versuchen, „anständig“ zu bleiben, die auf unklare Weise wie Lila selbst
mit dem linken Untergrund Neapels und den Roten Brigaden verbunden zu sein
scheinen.
Ferrantes Bild der lokalen Mafia, der Camorra von 1980, ist eines, in der
die Salumerias nur noch der Romantik oder der Tarnung für das schnelle
Geschäft mit den harten Drogen dienen. Aus kleinen Banditen,
antistaatlichen Unternehmern und Steuerhinterziehern sind nihilistische
Heroin-Dealer geworden. An der Errichtung einer produktiven Ökonomie sind
sie nicht mehr interessiert. Aber der Heroinkonsum sickert auch in die
eigene Basis ein, zerstört die alten Strukturen. Die Party ist over – auf
beiden Seiten.
Denn auch die stärksten Widersacher der Camorra aus dem Viertel, die linken
Militanten gleichen flüchtenden Schatten oder sind bereits im Knast. Die
alten Familienclans des Rione zeigen sich (genauso wie Lila) von den
fortwährenden Kämpfen ausgezehrt, psychisch instabil. Und nicht nur die
militante autonome Linke, auch der neue antipatriarchale Zeitgeist,
„gefährlicher als das Heroin“, hat den vielen kleinen Paten zugesetzt. Und
homosexuell sind jetzt nicht mehr nur die anderen.
## Gegensätzliche Milieus
Geschickt verschränkt Ferrante über ihre beiden Hauptfiguren Elena und Lila
weiterhin die Beschreibung verschiedener Milieus, ohne dabei erzählerisch
vorwegzunehmen, wie die weitere Entwicklung wohl sein wird. Während Lila im
Süden um ihre Existenz kämpft, erlebt Elena im gesettelten universitären
Milieu des italienischen Nordens den Niedergang der aktivistischen Linken.
Vor allem auch die geschlechtlichen Widersprüche im desillusionierenden
Leben der vermeintlich besseren Leute. Gerade noch erfolgreiche
Schriftstellerin, soll Elena nun Hausfrau werden. Schließlich kehrt sie dem
feinen Professorenhaushalt den Rücken, zieht mit ihren beiden Töchtern
zurück in den „chaotischen“ Süden, ihrer Heimatstadt Neapel.
Ferrante schildert Elena als eine Frau ihrer Zeit, ausgebrochen und
aufgestiegen aus einfachen Verhältnissen, ohne sie zu heroisieren, genauso
wenig wie ihre Freundin Lila. Als Alleinerziehende und Schwangere erwarten
Elena Schwierigkeiten, „ein Alltag wie eine Ohrfeige“. So sucht sie wieder
die Nähe zu Lila, die ihr zuvor als zu dominant, destruktiv, konkurrent und
boshaft erschien. Sie fürchtet und verehrt sie.
Über Männer lässt Ferrante ihre Elena nicht viel Schmeichelhaftes
berichten. Sie seien alle so „schmierig“ wie ihr Nino. Allerdings wird kaum
plausibel, wie sich Elena zu dieser „kontinuierlichen Täuschung des
Verstands“ durch Liebe zu einem Opportunisten wie Nino hinreißen lassen
konnte – eine der wenigen Schwächen des Personals über vier Bände hinweg.
## Dinge, die passieren
Als Elena schließlich mit ihren inzwischen drei Töchtern in den schmutzigen
Rione zurückzieht, hat es Lila dank ihrem Fanatismus zu einem Start-up, der
Computerfirma Basic Sight und zwischenzeitlich auch zur erfolgreichsten
(legalen) Unternehmerin des Viertels gebracht. Doch der Titel von Band 4,
„Die Geschichte des verlorenen Kindes“, sagt es bereits, das Unheil ist mit
im Gepäck. Und so passieren Dinge, die im wirklichen Leben auch passieren,
ohne dass man genau weiß, warum.
Ferrante spielt im letzten Band ihres großen italienischen Nachkriegsepos
[1][noch ausdrücklicher als zuvor] mit schriftstellerischen
Selbstreflexionen, ohne dass diese den Lesefluss für daran weniger
Interessierte negativ beeinflussen würden. Raffiniert betreibt sie ihr
Spiel um Authentizität und Faktizität („Der Rione hörte auf, eine Fiktion
zu sein“). Auch wenn die meisten der Millionen von Ferrante-Fans kaum an
literaturwissenschaftlichen Details interessiert sein dürften, bei Ferrante
kommen auch Literaturwissenschaftler auf ihre Kosten.
Ihre vielschichtige Perspektive vermag verschiedene Erwartungen zu
befriedigen. Mit dem Schluss befinden wir uns literarisch in der
Übergangsphase zu den heutigen, offeneren Gesellschaften. Bei Debatten über
die Pluralität der Lebensstile oder dem Recht des Individuums auf
Differenz. Da gibt es künftig leider nun ein Problem: Wir müssen diese ohne
einen fünften Band von Elena Ferrante fortsetzen.
17 Mar 2018
## LINKS
[1] /!5436766
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Elena Ferrante
Neapel
Camorra
Schwerpunkt LGBTQIA
Literatur
Literatur
Literatur
Heroin
Elena Ferrante
Elena Ferrante
Elena Ferrante
Elena Ferrante
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pier Paolo Pasolini im NBK Berlin: Eine italienische Karriere
Pier Paolo Pasolini wurde geliebt und gehasst. Eine Berliner Schau gibt
Einblicke in das Werk des 1975 ermordeten homosexuellen Autors und
Regisseurs.
Roman „Die schönen Jahre“ von Ciabatti: Mädchen der Achtziger
Was geschah in jener Nacht? Teresa Ciabatti verschränkt in „Die schönen
Jahre“ das Porträt zweier Freundinnen mit Spannung und Feminismus.
Feministische Autorin Alba de Céspedes: Ein Heft für sich allein
Die italienisch-kubanischen Autorin Alba de Céspedes war eine sehr
erfolgreiche Autorin und Widerstandskämpferin. Nun wird ihr Werk neu
entdeckt.
Neuer Roman von Elena Ferrante: Genau so wollte sie es machen
In „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ porträtiert Elena Ferrante eine
fragile familiäre Idylle. Der Roman lässt formale Risiken vermissen.
Internationaler Schmuggel von Heroin: Asiatischer Stoff für Afrikas Junkies
Die Kriege in der Ukraine und Syrien haben die Landrouten von Asien nach
Europa gestört. Jetzt ist Ostafrika Drogen-Transit – und Endstation.
Neapelsaga von Elena Ferrante: Für immer abhauen
Der dritte Band des Jahrhundertepos schildert die Erwachsenenjahre der
Protagonistinnen. Es geht mitten in die wilden 1970-er Jahre in Italien.
Band 2 von Elena Ferrantes Neapel-Saga: Puder über dem Grauen
Ferrantes Erzählung handelt von Liebe, Sex und Adoleszenz im Italien der
sechziger Jahre. Die Geschichte zweier ungleicher Freundinnen.
Um ihr Inkognito betrogene Autorin: Liebesbrief an Elena Ferrante
Sie erzählt von zwei Mädchen in einer von Männern dominierten Welt. Wie
aber vermarktet man die scheue Elena Ferrante? Ein Besuch bei Suhrkamp.
Autorin Elena Ferrante ist „enttarnt“: Eine gar nicht geniale Recherche
Keine Begegnung. Keine Homestory. Keine Bilder. Nun wurde der echte Name
von Elena Ferrante bekannt. Gewonnen ist dadurch gar nichts.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.