# taz.de -- Um ihr Inkognito betrogene Autorin: Liebesbrief an Elena Ferrante | |
> Sie erzählt von zwei Mädchen in einer von Männern dominierten Welt. Wie | |
> aber vermarktet man die scheue Elena Ferrante? Ein Besuch bei Suhrkamp. | |
Bild: Wer steckt hinter Elena Ferrantes Büchern, wollten viele wissen – wich… | |
Sie haben Sachen gemacht bei Suhrkamp, die haben sie noch nie gemacht – | |
oder schon lange nicht mehr. Deshalb muss Tanja Postpischil, die | |
Unternehmenssprecherin, ein wenig kramen, ehe sie eine Plastiktüte aus | |
einem Schrank geangelt hat. Ein Brecht-Jubiläum, dafür haben sie eine Tüte | |
mit seinem Konterfei bedrucken lassen und dem Firmen-Schriftzug. Jahre her. | |
Haben sie seither nicht mehr gemacht, weil der Verlag das nicht nötig hatte | |
oder nicht nötig haben wollte, weil man eh keine Plastiktüten mehr bedruckt | |
oder weil sie sich in Zeiten des Streits unter den Gesellschaftern – zum | |
Glück überwunden – wahrscheinlich gar nicht um solche Sachen hätten kümme… | |
können. | |
Jetzt aber mussten sie. Weil Ferrante über sie gekommen ist. Die Autorin, | |
die ihre Identität nicht preisgeben will – trotz des Versuchs eines | |
italienischen Journalisten, sie zu enttarnen –, mit ihrem Roman „Meine | |
geniale Freundin“. Erstes Buch einer Saga in vier Bänden, die nach und nach | |
veröffentlicht wird. 250.000 Exemplare sind seit Erscheinen Ende August | |
ausgeliefert worden, und es wird weiter gedruckt. | |
## Brutale Männer | |
Gewinner des Deutschen Buchpreises verkaufen zwischen 70.000 und 400.000 | |
Exemplare in einem Jahr. Ferrante ist ein riesiger Erfolg. | |
Die Geschichte von Lila und Elena, unzertrennliche Freundinnen über sechs | |
Jahrzehnte, bis die eine verschwindet, erzählt aus der Perspektive der | |
anderen. Ein weites Panorama wird da aufgespannt, beginnend im | |
Arbeitermilieu Neapels in den fünfziger Jahren, ein Leben von brutalen | |
Männern dominiert, darin die beiden Mädchen. Dafür nun haben sie bei | |
Suhrkamp keine Plastiktüten, sondern Stoffbeutel herstellen lassen; | |
dunkelblau, darauf der Twitter-Hashtag #FerranteFever. | |
Was soll man machen, sagt Postpischil in ihrem Büro im Suhrkamp-Haus, „wenn | |
sie keine Autorin haben, die auf große Lesereise geht oder Interviews | |
gibt“? Sie trägt das, was sie sich zu Ferrante haben einfallen lassen, mit | |
so großem Elan vor, dass man merkt: Es hat ihnen Spaß gemacht. Und dass sie | |
es jetzt mit einem Buch zu tun haben, das in Stapeln sogar in | |
Bahnhofsbuchhandlungen ausliegt, das ist so schlecht ja nicht – und im | |
Hauptprogramm von Suhrkamp selten. | |
Wie wird ein Buch so erfolgreich? | |
In seinem Büro, sonnendurchflutet, empfängt Verleger Jonathan Landgrebe, | |
kleidungsmäßig distinguiert in Grau. Er sagt: „Es ist nicht klar, dass ein | |
Buch, das im Ausland erfolgreich war, auch in Deutschland ein Erfolg wird.“ | |
Man müsse sich nur mal Bestsellerlisten der New York Times angucken. „Von | |
100 Büchern, die erfolgreich sind in einem Land, sind vielleicht zwei oder | |
drei im gleichen Maße erfolgreich in einem anderen Land.“ Auch große Preise | |
– Pulitzer, Booker – bedeuten erst mal nichts. | |
Als sie sich 2014 um die deutschen Rechte für Ferrantes Tetralogie | |
bemühten, da zählte bei Suhrkamp die literarische Güte, der reine Text; | |
wenn man so will also genau das, was Ferrante durch ihr Abgetauchtbleiben | |
bezwecken wollte: Es ist das Werk, das sprechen soll, nicht die Person, die | |
es geschaffen hat. Landgrebe sagt das mit seiner ruhigen Stimme so: „Wir | |
waren der Überzeugung, dass es Wahrnehmung finden würde“. | |
Er glaubt nicht, dass die vermeintliche Enttarnung der Autorin den Erfolg | |
abbrechen lässt, das glaubt hier niemand. Empört sind sie über die Art der | |
Recherche, bei der in Grundbüchern nach Reichtum gewühlt wurde. | |
Auf den sicheren Megaerfolg jedenfalls konnten sie nicht aus sein, den gibt | |
es nicht. Ferrante hätte schiefgehen können. Zumal vier Bände in einem Jahr | |
für Suhrkamp im Bereich Internationale Literatur/Hardcover eine Menge Holz | |
sind. Da erscheinen nur sechs oder acht Bücher im Halbjahr. | |
Landgrebe führt über einen langen Flur, vorbei an den regenbogenfarbigen | |
Büchern der Edition Suhrkamp, die hier in Industrieregalen stehen, zu Frank | |
Wegner. Der ist Programmleiter Internationale Literatur bei Suhrkamp. In | |
seinem Büro hängt der würzige Duft von Räucherstäbchen, eine Leidenschaft | |
des 44-Jährigen. | |
## Ferrante war bisher nicht glücklich mit deutschen Verlagen | |
Wegner liest Bücher in allen möglichen romanischen Sprachen, er hatte | |
sozusagen den Erstkontakt mit Ferrante. 2011 schon, als das Buch in Italien | |
erschien. Schnell war Wegner und allen im Hause klar, dass sie Ferrantes | |
deutscher Verlag sein wollten. Ferrante aber ließ, als im Herbst 2014 klar | |
war, dass alle vier Bände zum Verkauf kommen, ausgiebig um sich buhlen. | |
Direkt mit ihr ins Gespräch konnte keiner treten, das lief über ihren | |
italienischen Verlag. Und Ferrante wollte Gewissheit haben über den | |
sorgsamen Umgang mit dem Werk. Die Publikationsgeschichte ihrer bisher auf | |
Deutsch erschienenen Bücher sei, so hört man, unbefriedigend gewesen. | |
Also hat ihr Wegner einen love letter geschrieben. Der Brief – die Mail –, | |
in dem er darlegen sollte, was ihn an dem Werk begeistert, musste sitzen. | |
Wie klingt so ein Brief? | |
„Kompetent und authentisch schwärmerisch, der Versuch, charmant zu klingen, | |
präzise darüber, wie man das Buch anpacken würde, begeistert, aber nicht | |
anbiedernd“, sagt Wegner. | |
Nächster Schritt, Buchmesse 2014: Ein Séparée im Frankfurter Grandhotel | |
Hessischer Hof, gegenüber der Messe, ein langes Gespräch mit dem | |
italienischen Verlegerehepaar von Edizioni e/o. Wegner sagt: „Ich hatte das | |
Gefühl, dass die mich prüfen wollen“; Textkenntnis, wie er den vierten Band | |
findet, das Finale. | |
Ein paar Tage später die Auktion. Die Höhe des Vorschusses, die | |
Marketingstrategie, Honorarstaffel pro verkauftem Buch, der | |
Publikationsplan. Zehn deutsche Buchverlage im Wettstreit, ohne voneinander | |
zu wissen. Anonymisiert, im Digitalen, prosaisch. Ein Auftaktangebot, | |
zweite Runde mit dem höchsten Gebot der ersten als Minimum. Über zwei | |
Wochen zog sich das hin, Suhrkamp erhielt den Zuschlag. Der Verlag hat | |
nicht die höchste Summe geboten; offenbar stimmte der Ton des love letters. | |
Lange haben sie über das Cover diskutiert. Matthias Reiner, Leiter der | |
Werbeabteilung, Kunsthistoriker, seit 30 Jahren bei Suhrkamp, sagt, es sei | |
„das Beste, was wir gemacht haben“. Kein Foto, kein Schwarz-Weiß, weil es | |
das so oft gibt, sondern sie beauftragten den Illustrator Emiliano Ponzi. | |
„Ein echter Hingucker“, findet Reiner, die Serifenschrift suhrkampmäßig | |
seriös, die Frauen in geblümten Kleidern, die eins zu werden scheinen, | |
angemessen emotional und, sagt er, „unterscheidbar“. Etwas Einfaches und | |
Einprägsames, um „auf den großen Tischen in den Buchhandlungen, wo so viel | |
los ist“, erkennbar zu sein. | |
## O Gott. Noch ein Jahr | |
Tanja Postpischil sagt, sie habe schon 2015 gespürt, dass Ferrante ein | |
Erfolg werden könnte. Mitte des Jahres riefen die ersten | |
Literaturredakteure an und Kollegen aus anderen Verlagshäusern, staunend: | |
„Sag mal, Elena Ferrante ist bei euch?“ Da fing es langsam an, „ein | |
Rumoren“. Schön irgendwie, aber heikel: „O Gott, o Gott“, dachte sie, �… | |
brauchen noch ein Jahr, bis die Bücher erscheinen.“ Das Interesse hätte bei | |
Erscheinen längst abgeflaut sein können. Karin Krieger übersetzte noch, im | |
Verlag konzipierten sie das Marketing. Dann, zwei Wochen vor Erscheinen, | |
ging es los. | |
Der Spiegel hatte ein zehnseitiges Gespräch mit Ferrante, geführt in Mails, | |
das war der Auftakt, alle großen Feuilletons rezensierten, und Suhrkamp | |
hatte am 29. August 2016 ein Buch im Laden, dem auch ein Totalverriss im | |
„Literarischen Quartett“ nichts mehr anhaben konnte. | |
Im Büro von Verlagssprecherin Postpischil steht ein Sessel, bezogen mit | |
grünlichem Stoff, fast wie grober Cord. Das ist der Sessel, in dem Peter | |
Suhrkamp, der Verlagsgründer, immer saß. Darüber hängt zurzeit der neueste | |
Einfall zur Vermarktung eines autorinnenlosen Buchs: die Ferrante-Girlande | |
mit Zitaten aus dem Buch und internationalen Pressestimmen. Die wird im | |
Ferrante-Paket an Buchhandlungen verschickt, die Lesungen machen. Geeignete | |
Textstellen sind ausgewählt, Buttons und Beutel liegen bei. | |
In diesen Tagen erreicht Elena Ferrante, „Meine geniale Freundin“, seine | |
siebte Auflage. | |
22 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Felix Zimmermann | |
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