# taz.de -- Roman „Die schönen Jahre“ von Ciabatti: Mädchen der Achtziger | |
> Was geschah in jener Nacht? Teresa Ciabatti verschränkt in „Die schönen | |
> Jahre“ das Porträt zweier Freundinnen mit Spannung und Feminismus. | |
Bild: Ungleiche Freundinnen. Italien, achtziger Jahre | |
Was für eine Geschichte wird in die „Die schönen Jahre“ erzählt? Eine wa… | |
soll es sein, behauptet die Ich-Erzählerin, die viele Gemeinsamkeiten mit | |
der Autorin Teresa Ciabatti aufweist, doch nicht identisch mit ihr ist. | |
Bereits in ihrem Roman „La più amata“ (2017), in dem es um ihre Kindheit | |
geht – wie der vorliegende für den [1][Premio Strega] nominiert –, erprobte | |
die 1972 geborene italienische Autorin eine [2][Form der Autofiktion,] die | |
vieles preisgibt und die Lesenden doch im Ungewissen lässt, was sie für | |
wahr nehmen können. | |
Denn so vehement die Erzählerin, eine Schriftstellerin in Ciabattis Alter, | |
auf den Wahrheitsgehalt pocht, so offen bekennt sie ihre Unzuverlässigkeit | |
und variiert immer wieder bisher Behauptetes: „Es ist Zeit, den Bericht zu | |
korrigieren, liebe Leser, liebe Leserinnen. Schweren Herzens die | |
Manipulation einzugestehen.“ | |
In diesem Roman verschränkt die Autorin mehrere Geschichten, Erzählstränge | |
und Themen ineinander. Es ist zum einen die Nachzeichnung einer Tragödie, | |
in die die Ich-Erzählerin verstrickt ist. Sie bildet die große Rahmung und | |
weist in die Jugend der Erzählerin, als die Katastrophe geschah. | |
Als Mädchen ist sie tief unglücklich: falsche soziale Herkunft, | |
ungenügender Körper – nicht dazuzugehören ist das Grundgefühl in der | |
Pubertät. Einzig die Freundschaft zu Federica schafft ein Gefühl von | |
Verbindung. Wenngleich diese in wohlhabenden Verhältnissen lebt, teilen sie | |
die Unscheinbarkeit, das Leiden an ihren Körpern. | |
## Das Versprechen von Glück | |
Der Neid auf die schöne, allseits begehrte ältere Schwester Federicas ist | |
daher groß. Als Livia aber eines Nachts von der Balustrade des Elternhauses | |
stürzt, steht die Welt aller Beteiligten kopf. Sie überlebt, doch aus dem | |
Mädchen, das das nahezu Perfekte, das Versprechen von Glück verkörperte, | |
wird eine reduzierte, versehrte Persönlichkeit, deren Welt in einer | |
endlosen Gegenwart stehen bleibt. | |
Die Leben der Ich-Erzählerin und Federicas aber gehen weiter – getrennt | |
allerdings. Es ist die Kontaktaufnahme Federicas mit der inzwischen bekannt | |
gewordenen Schriftstellerin, die beide Frauen mit Mitte vierzig wieder | |
zusammenbringt und den Anlass für die Erinnerungen der Erzählerin bietet. | |
Ciabatti entwickelt nun einen Spanungsbogen, der auf die Ereignisse jener | |
Nacht zielt. Fast krimiähnlich spitzt sie die Frage zu, was genau geschah | |
und welche Rolle die Erzählerin dabei spielte. Verraten sei daher nur: | |
Schuldig fühlt sie sich, und jene Nacht hat tiefe Spuren hinterlassen. | |
Sodass im Wechsel von erzählter Gegenwart und Rückblenden der Versuch | |
sichtbar wird, die eigene Ich-Werdung besser zu verstehen. | |
Die Abarbeitung an individuell erlittenen Kränkungen weitet sich zu einem | |
Blick auf die Zurichtungen und Ausschlüsse, denen viele Mädchen, junge | |
Frauen ausgesetzt sind. Begehrt zu werden ist die alles entscheidende | |
Währung. | |
Bezugnehmend auf die reale Entführung Emanuela Orlandis, die bis heute | |
nicht aufgeklärt ist und in Italien lange sehr präsent war, spitzt die | |
Erzählerin provozierend zu: „Und wie viele – schauen wir uns in die Augen, | |
Mädchen der Achtzigerjahre, geben wir es zu –, wie viele haben sich | |
ausgemalt, sie wären Entführern in die Hände gefallen, die erst brutal, | |
dann verliebt waren (bis über beide Ohren in uns verknallt!) und uns am | |
Ende gehen ließen, und wir, immer wir – hübsch hässlich, blond brünett, | |
reich arm; das Begehrtwerden unsere gesellschaftliche Wasserwaage –, wir | |
kehrten unter dem Applaus der Menge nach Hause zurück. […] Ab dem | |
Augenblick waren wir beliebt.“ Endlich im Mittelpunkt des Interesses | |
stehen, aus der gefühlten Unsichtbarkeit hinaustreten. | |
## Motiv der Entführungen | |
Gewalt spielt eine große Rolle, die Autorin fächert sie subtil auf: Sie | |
tritt offensichtlich in Form sexualisierter Gewalt auf, im wiederkehrenden | |
Motiv der Entführungen und damit verknüpft in vielen Varianten des | |
Verschwindens von Mädchen und Frauen; so auch in der Magersucht als einer | |
Gewalt gegen sich selbst, ein Sich-selbst-zum-Verschwinden-Bringen. | |
Dabei stellt Ciabatti immer wieder überraschende Verbindungen zur Figur | |
Livias her. | |
Hier ist eine oft wütende, beißende Erzählstimme zu vernehmen. Eine | |
Erzählerin mit durchaus unsympathischen Zügen, selbstbezogen, teils | |
überheblich, dabei sich selbst gegenüber schonungslos in der Selbstanalyse. | |
Das macht sie interessant, zumal ihre Unsicherheit, das Verzweifeln an der | |
desolaten Beziehung zur erwachsenen Tochter ihre Verletzlichkeit offenbart. | |
Der ungewöhnliche Ton, die Mischung aus Spannungselementen, wütenden, | |
schmerzhaften Erinnerungen, scharfer Selbstzeichnung verleihen dem Text | |
eine sogartige Dynamik. Einnehmend auch, wie Ciabatti den Blick auf ihre | |
Motive auf manchmal irritierende Weise immer noch mal etwas zu verrücken | |
weiß. | |
Am Ende hätte dem Roman eine verdichtende Reduktion gut getan, um den | |
Anflug von Redundanz zu vermeiden. Doch zu entdecken ist mit dieser ersten | |
Übersetzung ins Deutsche eine eigenwillige, in Italien renommierte Autorin, | |
die eindringlich von den Verstrickungen der Vergangenheit mit der Gegenwart | |
erzählt. | |
28 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Carola Ebeling | |
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