| # taz.de -- Kulturerbe in Italien: „Neapel ist doch viel schöner“ | |
| > „Das andere Neapel“ heißt ein Verein. Er hat die Jugendlichen des | |
| > Armutsviertels Sanità inspiriert, durch Tourismus Arbeitsplätze zu | |
| > schaffen. | |
| Bild: Das Stadtviertel Sanità in Neapel | |
| Ernesto Albanese hätte Neapel für immer den Rücken kehren können; nie mehr | |
| in das Haus und die Stadt zurückkehren müssen, in der er geboren und sein | |
| Vater ermordet wurde. Ausgeraubt im Treppenhaus, am helllichten Tag, in der | |
| Via Constantinopoli, dort, wo die Reste der griechischen Mauern stehen, – | |
| mitten im Herzen von Neapel. Elf Jahre ist das nun bereits her. | |
| Albanese, 52, große Armbanduhr, Managerlook, sitzt in seinem Büro mit dem | |
| Rücken zum Fenster. Als hätte er den Schmerz besiegt, sagt er gefasst, mit | |
| festem Blick: „Man hat ihm das Genick gebrochen“ – seinem Vater, dem | |
| stolzen Neapolitaner, der seine Geburtsstadt so liebte. Gerade rechtzeitig | |
| noch erreichte Albanese das Krankenhaus, bevor der Vater starb. „Che peso“ | |
| – Was für ein Schmerz“ –, bricht es aus ihm heraus. | |
| Doch statt vor Neapel zu fliehen, kehrte Albanese jeden Monat von seinem | |
| Arbeitsplatz in Rom zurück und konfrontierte sich mit den Problemen: | |
| „Neapel hat die höchste Kriminalitätsrate im Land“, sagt er, „aber weder | |
| der Staat noch die Bewohner, die über die nötigen Mittel und Bildung | |
| verfügen, unternehmen etwas!“ Zusammen mit fünf Schulfreunden gründete er | |
| 2005 den Verein „L’Altra Napoli“ (das andere Neapel). „Ich wollte den | |
| Neapolitanern zeigen, was eine kleine Initiave alles bewegen kann.“ | |
| ## Katakomben und Barockkirchen | |
| Albanese hatte von einem Pater gehört, in Neapels verrufenem Stadtteil | |
| Sanità, nur einen Kilometer vom Haus seines Vaters entfernt. Armut, Gewalt, | |
| hohe Arbeitslosigkeit, die Camorra, „fast jeder Dritte brach die Schule | |
| ab“, so Albanese. | |
| Auf der anderen Seite: ein reiches kulturelles Erbe mit frühchristlichen | |
| Katakomben, Barockkirchen, verfallenden Palazzi, dem Geburtshaus des | |
| legendären Schauspielers Totò. „Als ich das Quartier zum ersten Mal | |
| besuchte“, sagt Albanese, „begegnete ich keinem einzigen Touristen.“ Sani… | |
| war weder auf den Touristenplänen eingezeichnet noch in einem Reiseführer | |
| aufgeführt. Oft wussten die Anwohner selbst nicht einmal, wo die Katakomben | |
| lagen. Ausgerechnet hier wollte Pater Antonio Loffredo den Tourismus | |
| ankurbeln und Arbeitsplätze für die Jugendlichen schaffen. – Albanese wurde | |
| einer seiner ersten Sponsoren. | |
| Er flog nach New York, zur Clinton-Foundation. „Fürs Fundraising brauchten | |
| wir einen seriösen Namen“, sagt er, „sonst wagt niemand, in Süditalien zu | |
| investieren.“ Sie waren das einzige Projekt aus Europa, alle anderen | |
| Anträge kamen aus der Dritten Welt. Die Stiftung nahm sie auf. Unter | |
| Clintons Schirmherrschaft sammelte Albanese bis heute rund 5 Millionen | |
| Euro, kein Cent davon kam vom italienischen Staat. | |
| ## Klöster zu Bed and Breakfast | |
| Pater Loffredo, 57, Turnschuhe, brauner Anorak, Brille, sitzt in der neuen, | |
| modernen Eingangshalle zu den Katakomben. Er studierte in Tübingen, als | |
| auch Kirchenrebell Hans Küng dort lehrte, schwärmt er und nippt an seinem | |
| Orangensaft. „Als ich den Jugendlichen von meinem Vorhaben erzählte, | |
| schalteten sie auf Durchzug.“ Nichts von dem, was er sagte, interessierte | |
| sie. „Sie mussten riechen, sehen, fühlen, was ich ihnen da erzählte“, sagt | |
| er, Begeisterung schwingt in jedem seiner Worte mit. | |
| Mit der Unterstützung von Freunden und einigen Fluggesellschaften nahm er | |
| fünf Jugendliche mit auf Reisen: Paris, Barcelona, Berlin, zu Freunden nach | |
| Bremen. Endlich kam der Moment, auf den er gewartet hatte: „Neapel ist doch | |
| viel schöner“, sagten sie. „Warum können wir uns nicht auch so | |
| organisieren?“ – „Da wusste ich, ich habe es geschafft.“ Loffredo lacht. | |
| „Ich hatte sie mit meiner Vision infiziert.“ | |
| Während im benachbarten Pompeji jahrtausendealte Tempel zerbröckeln und | |
| sich in Herculaneum antike Mosaiken vom Boden lösen, kümmerten sich die | |
| Jugendlichen von Sanità um ihr eigenes kulturelles Erbe: Sie entrümpelten | |
| eine Barockkirche, die als Lagerhalle diente, halfen mit, zwei ehemalige | |
| Klöster in B&Bs umzuwandeln. Mit den Spendengeldern ließen sie | |
| Behindertenrampen, LED-Beleuchtung und Blindentafeln in die Katakomben | |
| installieren, antike Fresken restaurieren – und sie bildeten sich fort: | |
| Einige holten den Schulabschluss nach, andere ließen sich zu | |
| Touristenführern ausbilden; um Englisch zu lernen, schlug sich einer von | |
| ihnen sogar als Eisverkäufer in England durch, heute arbeitet er in der | |
| Pressestelle. | |
| ## Kampf mit der Bürokratie | |
| Pater Loffredo führte indessen einen jahrelangen zermürbenden Papierkrieg | |
| gegen die Bürokratie. Als die Gemeinde den Cimitero delle Fontanelle – | |
| einen in einer Tuffhöhle gelegenen Friedhof, Drehort berühmter Kinofilme | |
| und potenziellen Touristenmagnet – mit EU-Geldern restaurieren ließ, ihn | |
| danach aber nur einen einzigen Tag im Jahr für die Öffentlichkeit öffnete, | |
| rief er die Bewohner auf, den Friedhof zu besetzen. | |
| „Die Vergangenheit unseres Viertels muss die Zukunft unserer Jugend sein, | |
| sie muss Geld einbringen“, sagt er und geht hinaus in den Regen, um zu | |
| rauchen. Über hundert Bewohner rückten mit Schlafsack, Gitarre und Essen an | |
| und verbrachten die Nacht bei ihren Ahnen. „Am nächsten Morgen unterschrieb | |
| der Bürgermeister unsere Forderungen“, sagt Loffredo. Er lächelt. | |
| Inzwischen arbeiten 25 Personen unter anderem als Stadtführer, | |
| Rezeptionisten, Reinigungskraft oder Pressesprecher in der Kooperative mit. | |
| Flora Cuomo, 23 Jahre, lange Locken, schwarz lackierte Fingernägel, | |
| schaltet per Smartphone das Licht zu den Katakomben an. Mit ihrem Gehalt | |
| unterstützt sie ihre arbeitslosen Eltern. „Wer auf Google Sanità eingibt, | |
| erhält meist nur Negativschlagzeilen, jetzt zeige ich Ihnen die andere | |
| Seite“, sagt sie und führt die rund 20 Touristen hinab in die Tiefe, in ein | |
| Labyrinth aus gelbem Tuffgestein, eine Stadt unter der Stadt. | |
| Es ist kühl, nichts hört man hier mehr vom Chaos Neapels, nur das Hallen | |
| der Schritte in den weiten Tunneln, bis zu sechs Meter sind die Decken | |
| hoch. Rund 3.000 Grabnischen sind in den Vulkanstein gehauen, ein | |
| Ganzkörpertaufbecken, frühchristliche Basiliken, mit Fresken und Mosaiken | |
| geschmückt. | |
| ## Neapels Gegensätze | |
| Zurück an der Erdoberfläche stehen wir plötzlich mitten im Herzen von | |
| Sanità. Wie wilde Hornissen jagen Mopeds vorbei, auf dem Markt atmen | |
| Oktopusse neben Reizunterwäsche, Artischockenherzen schmoren auf rostigen | |
| Grills, Jesus am Kreuz blinkt neben einer Autowerkstatt. Die Abgase | |
| vermischen sich mit Fischgeruch, das Läuten der Kirchenglocken mit Hupen. | |
| Es regnet, über die Wäscheleinen sind große blaue Plastikplanen gespannt. | |
| Die Einwohner gucken uns Touristen ungläubig an. „Diese Treppen“, sagt | |
| Cuomo, „lief Sophia Loren im Film ‚Gestern, heute und morgen‘ herunter“, | |
| ein paar Straßen weiter wuchs Totó als uneheliches Kind eines Grafen auf. | |
| Vom Friedhof führt sie über Hinterhöfe zu moosbewachsenen Pracht-Palazzi, | |
| die aussehen, als seien sie aus der Tiefe des Meeres aufgetaucht, und | |
| schließlich in Ciro Scognamillos Konditorei. | |
| Mit Schneeflocken (Blätterteigbällchen gefüllt mit Ricotta-Creme) schaffte | |
| der es, sich aus der Krise herauszukatapultieren. Inzwischen kommen die | |
| Kunden von weit her, sogar Roberto Saviano probierte schon. Scognamillo | |
| zeigt seinen linken Unterarm, auf dem ein Schneeflocken-Tattoo prangt. „Auf | |
| dem rechten Arm stehen die Namen meiner drei Töchter“, sagt er, „auf meinem | |
| Herzen der meiner Frau.“ Als einem die Creme auf der Zunge zerschmilzt, | |
| wird einem klar: Das echte Neapel erschließt sich einem erst in seinen | |
| Gegensätzen: Schönheit neben Verfall, pralles Leben über Katakomben. | |
| Von der bunten Majolikakuppel der Basilika läuten die Glocken zur Messe, | |
| Pater Loffredo zieht sich die Priesterrobe über. Er hat seine Vision | |
| verwirklicht. „Die Jugendlichen brauchen mich nicht mehr“, sagt er. Rund | |
| 80.000 Touristen haben allein in diesem Jahr die Katakomben besucht, fast | |
| decken die Einnahmen bereits die Ausgaben, die Wirtschaftsfakultät der | |
| Universität Neapel studiert den Erfolg der Kooperative. „Ich bin bereit zu | |
| gehen“, sagt er, „Wenn dies ein wahres Projekt ist, dann wird es auch ohne | |
| mich weiterbestehen.“ | |
| 11 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Reichardt | |
| ## TAGS | |
| taz.gazete | |
| Reiseland Italien | |
| Neapel | |
| Neapel | |
| Tourismus | |
| Elena Ferrante | |
| Raubkunst | |
| Italien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Krippenbauer in Neapel: Von Madonnen und Monstern | |
| Beim Krippenspiel geht es um den Kampf zwischen Gut und Böse. In Neapel | |
| erzählt jeder Krippenbauer eine eigene Weihnachtsgeschichte. | |
| Alte Gemäuer: Ein Wärterhäuschen in Italien | |
| Die römische Regierung will Zollstationen und Burgen kostenlos an | |
| Selbstrenovierer verpachten. So soll der Tourismus in der Provinz | |
| anwachsen. | |
| Band 2 von Elena Ferrantes Neapel-Saga: Puder über dem Grauen | |
| Ferrantes Erzählung handelt von Liebe, Sex und Adoleszenz im Italien der | |
| sechziger Jahre. Die Geschichte zweier ungleicher Freundinnen. | |
| Wiedergefundene van Goghs in Italien: Kunstfreund Camorra | |
| Zwei vor 14 Jahren in Amsterdam gestohlene Van-Gogh-Gemälde wurden nun | |
| wiedergefunden. Versteckt hatte sie die Camorra in Neapel. | |
| Green Economy in Italien: So grün das Auge reicht | |
| Mit Italien verbindet man eher Müllchaos und Finanznot statt Ökowirtschaft. | |
| Doch einer Stiftung zufolge zeichnet sich das Land genau dadurch aus. |