# taz.de -- Mit einem Krimiautor durch Neapel: Beziehungsloses Gewusel | |
> Neapel, seine Immigranten, die kleinen Diebe und die einfachen Leute, die | |
> kriminell werden, um zu essen, das ist Stoff für Maurizio de Giovannis | |
> Romane. | |
Bild: Inspiration für den Schriftsteller: Das Neapel der kleinen Leute. | |
Der Treffpunkt ist mit Bedacht gewählt. Café Gambrinus, das älteste | |
Kaffeehaus der Stadt, in unmittelbarer Nähe zur Piazza del Plebiscito | |
gelegen, wo sich heute das Rathaus befindet, wo an Samstagen die | |
Hochzeitspaare posieren, wo an normalen Werktagen die Mülltüten flattern, | |
wo sich ein erster Blick auf das Meer erheischen lässt und wo auf der | |
anderen Seite Neapels wichtigste Arterie im Herzen der Stadt zu schlagen | |
beginnt: die Via Toledo, auch Spaccanapoli genannt, weil sie Neapel links | |
und rechts durchschneidet. | |
Das Gambrinus, dessen barocke Eleganz mancher Kirche Neapels durchaus | |
Konkurrenz macht, befindet sich am Anfang der Via Toledo, der | |
Haupteinkaufsstraße der Stadt, die mit ihren Banken, großen und kleinen | |
Geschäften, legalen und illegalen Straßenhändlern, Eisläden und Bars eine | |
gute Dosis und Mischung neapolitanischen Alltags bereithält. Auf die | |
Mischung kommt es an. | |
Maurizio de Giovanni, Jahrgang 1958, hat seinen eigenen Tisch im hinteren | |
Salon des Gambrinus. Oder vielmehr hat ihn eigentlich der traurige | |
Kommissar Ricciardi, de Giovannis Protagonist seiner ersten Krimireihe, den | |
er im Neapel der 30er Jahre und des italienischen Faschismus ermitteln | |
lässt. Hier im Gambrinus begann de Giovannis Zweitkarriere als Autor, als | |
er an einem literarischen Wettbewerb teilnahm und seinen Kommissar – „das | |
war „naheliegend“ – im 30er-Jahre-Ambiente des Kaffeehauses ansiedelte. De | |
Giovanni machte den ersten Preis, aus dem Bankangestellten wurde Neapels | |
populärster Krimiautor. | |
Gewalt und Verbrechen gab es heute wie damals, die Camorra spielt bei de | |
Giovanni nur eine untergeordnete Rolle. „Neapel verschwindet hinter viel zu | |
vielen Klischees“, sagt der Autor. Wie alle Neapolitaner ist er von der | |
ständigen Frage nach der Mafia genervt. Dem Autor Roberto Saviano mit | |
seinem Erfolgsbuch „Gomorra“ gebühre das große Verdienst, das Thema auf d… | |
Nachttisch der Italiener gebracht zu haben. | |
„Doch Neapel ist viel mehr als die Camorra.“ Die Mafia sei ein | |
internationales Phänomen und Neapel eine „ganz normale westliche Stadt“ – | |
eine Mittelmeermetropole, vergleichbar mit Tunis, Marseille, Istanbul, mit | |
all ihren Problemen. | |
Von denen es allerdings zahlreiche gibt: eine sanierungsbedürftige | |
Altstadt, die einem Freiluftmuseum gleicht und unter Weltkulturerbe steht; | |
Giftmüllberge außerhalb und Plastikmüllberge innerhalb der Stadt; Palazzi, | |
Kirchen, Vulkane, alles in Bewegung, alles am Zerbröseln. Auf der rechten | |
Seite der Haupteinkaufsstraße liegen Geschäfte und viele Banken. Vor der | |
Banco di Napoli bleibt Maurizio de Giovanni stehen: „Hier habe ich früher | |
gearbeitet.“ Ein eher düsterer massiver Palazzo. Es ist noch nicht lange | |
her, dass der Schriftsteller seinen Job an der Via Toledo aufgegeben hat. | |
## Eine soziale Markierung | |
Die Straße, die der Schriftsteller für seinen Spaziergang gewählt hat, weil | |
sie für ihn das Herzstück der Stadt symbolisiert, ist nicht nur die | |
Hauptverkehrsader durch den historischen Stadtkern. Die Via Toledo ist auch | |
eine soziale Markierung. Sie verweist mit ihrem Namen auf die Zeit, als der | |
spanische Vizekönig über Neapel herrschte und seine Soldaten links davon in | |
den Quartieri Spagnoli Quartier bezogen. | |
Schmale, steil ansteigende Gässchen, Sackgassen, die in die Irre führen, | |
enge kleine Wohnungen, feucht und mit wenig Tageslicht. Während die Via | |
Toledo im prallen Sonnenschein liegt, wo neuerdings Fahrradsymbole aufs | |
holprige Pflaster gemalt werden, damit dennoch ja niemand auf die Idee | |
komme, hier Fahrrad zu fahren, herrscht in den Quartieri Spagnoli durch die | |
enge Bebauung fast immer Schatten. Ein verrufenes Viertel, bis heute, dem | |
keine Gentrifizierung so richtig zu Leibe gerückt ist. | |
## Geschichten für einen Roman | |
„Eine geschlossene Gesellschaft“, sagt de Giovanni. Mehr als 50.000 | |
Menschen lebten in diesem Teil der Stadt, „so genau weiß das keiner“ – o… | |
vernünftige Infrastruktur, keine Schule, kein Krankenhaus, keine | |
Polizeidienststelle. Hier sind die Clandestini zu finden, die illegalen | |
Immigranten, von denen täglich neue in Neapel eintreffen, die Dealer, | |
kleinen Diebe, Arbeitslosen, die Armen oder einfachen Leute, aus deren | |
Geschichten de Giovanni das Material für seine Romane bezieht: | |
Alltagskriminalität, um zu essen, zu überleben, um sich Geltung oder | |
Vergeltung zu verschaffen. | |
„Verbrechen muss man erzählen“, sagt der Autor, erzählen von den Menschen, | |
die sie begehen. „Ich bevorzuge diese Seite der Via Toledo, die ist echter, | |
wahrhaftiger.“ | |
Hier und da sollen Schilder Touristen zu einer günstigen Pizzeria in einer | |
der Seitensträßchen locken, die aber stets noch in Sichtweite zur Via | |
Toledo liegt. Einmal prangt selbstbewusst „Quartieri Spagnoli“ auf einer | |
über die Gasse gespannten Banderole. Napoli unplugged. | |
Bei einem chinesischen Straßenhändler hält Maurizio de Giovanni an und | |
kauft ein Stativ. Die Polizei hat ansonsten die Präsenz der Straßenhändler | |
massiv eingeschränkt. De Giovanni geht, ohne abzubiegen, die Spaccanapoli | |
hoch, grüßt alle drei Meter jemanden – die bessere Gesellschaft Neapels | |
kennt sich. „Das Typische für Neapel ist, dass es keine getrennten | |
Bereiche, separaten Zonen gibt“, erklärt der Autor. | |
Oder anders gesagt: „Jede Straße ist eine Grenze, eine Welt für sich.“ So | |
prallen in der Innenstadt die sozialen Unterschiede aufeinander; wer hier | |
wohnt oder arbeitet, kann sich dem Gedränge, der sozialen Vermischung kaum | |
entziehen. | |
## Indische Kinder | |
Über die Via Toledo flanieren die Touristen, hasten Einheimische zur | |
Arbeit, lassen sich Angestellte die Schuhe putzen, in der glasüberdachten | |
Galleria Umberto I., die gleich am Anfang der Via Toledo gegenüber der Oper | |
San Carlo liegt, betteln indische Kinder, als läge Neapel nicht am | |
Mittelmeer, sondern in Asien. | |
Rechts von der Via Toledo, Richtung Hafen, erstrecken sich die großen | |
Verwaltungsbauten, Hotels, Büros. Auch hier ist es wuselig, geschäftig. Es | |
geht auf Mittag zu, die Leute streben nach Hause, in die Restaurants, bald | |
wird es ruhig werden auf der Straße. „Auch wenn es seltsam klingen mag“, | |
sagt de Giovanni, „weil alles so laut ist, aber Neapel ist eine stille | |
Stadt.“ | |
Die Leute redeten nicht mehr miteinander. Das Durcheinander ist ein | |
Ohneeinander geworden. Sagt der Autor: „Obwohl alles so beengt ist, gibt es | |
keine soziale Kontrolle mehr. Niemand kümmert sich, was eine Wohnung, ein | |
Haus, eine Straße weiter passiert. In den 30er Jahren war das anders, da | |
wusste man, was im Viertel vor sich geht.“ Die soziale Enge ist geblieben, | |
aber ohne die entsprechende Nähe, den sozialen Zusammenhalt. Heute fehle es | |
den Menschen an Solidarität – und Identität. Die soziale Mischung gehe | |
verloren – und auf die komme es doch an. | |
## Die Armut wuchert weiter | |
Neapel, die drittgrößte Stadt Italiens, ist arm und verarmt weiter. Die | |
Wirtschaftskrise trifft die Stadt empfindlich. Probleme, wie sie andere | |
Großstädte auch haben, „bei uns werden sie dramatisch“, sagt de Giovanni. | |
Wie der Himmel in Neapel, der sich durch plötzlich auftuende | |
Häuserschluchten, das hügelige Auf und Ab der Straßen, die gewundenen | |
Corsi, auf denen am frühen Abend die Mopeds an den sich stauenden Autos im | |
Licht der orange Straßenlaternen vorbeiflitzen, während sich der Himmel | |
rosa einfärbt und die dunklen Wolken im Wind bauschen, immer wieder neu | |
öffnet. | |
Eine Hafenstadt. Stadt am Meer. „Neapel war immer eine gastfreundliche | |
Stadt, nie abweisend, nie rassistisch, nie auf Verteidigung oder Krieg | |
aus“, sagt der Autor. „Und sie wird es auch weiter bleiben.“ De Giovanni | |
sieht darin ein enormes Potenzial – ihre Offenheit, ihre Fähigkeit zum | |
Wandel, zur Anpassung. Das Wissenschaftsmuseum zwischen Pozzuoli und | |
Bagnoli, am Stadtrand, dort wo einst Italsider Stahl schmelzen ließ, | |
brannte allerdings bald nach der Eröffnung wieder ab. | |
Die Zukunft macht Pause, die Vergangenheit hängt schwer an der Stadt wie | |
die Gegenwart auch. Maurizio de Giovanni ist überzeugt: „Die Zukunft | |
Neapels wird viel besser sein als die Gegenwart.“ | |
22 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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