# taz.de -- Entdeckung eines Emanzipationsromans: In Sätzen träumen | |
> Vor siebzig Jahren schrieb Josepha Mendels über ein Mädchen, das | |
> Schriftstellerin werden will. Zu entdecken ist eine sehr moderne Autorin. | |
Bild: Offene Thematisierung von Sexualität: Josepha Mendels | |
Ein elfjähriges Mädchen, das für die Zukunft plant, ein sehr netter Mann zu | |
werden. Muss sich dann allerdings den Kopf darüber zerbrechen, dass der | |
„Beruf Mutter“ wohl nicht in Frage komme – schon dieser Gedankengang | |
kennzeichnet die Eigenwilligkeit des Kindes, das im Mittelpunkt eines | |
Debüts steht, das die deutschen Leser*innen mit unglaublicher Verspätung | |
erreicht: 1947 erschien der Roman „Rolien & Ralien“ der niederländischen | |
Schriftstellerin Josepha Mendels. | |
Dem Wagenbach Verlag ist die Entdeckung der auch in den Niederlanden | |
zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Autorin hierzulande zu | |
verdanken. Vor zwei Jahren publizierte er bereits „Du wusstest es doch“, | |
eine Liebesgeschichte im Exil. | |
Unkonventionell wie ihre Protagonistin namens Rolien war auch die 1902 | |
geborene Mendels selbst, die in einer jüdisch-orthodoxen Familie aufwuchs. | |
In den 30er-Jahren [1][ging sie nach Paris], um dort als Journalistin zu | |
arbeiten. Sie flüchtete vor den Nazis ins Londoner Exil, wo sie bei einem | |
Nachrichtendienst angestellt war, lebte und arbeitete ab 1945 erneut in | |
Paris. Die Ehe lehnte sie ab, mit 46 Jahren bekam sie einen Sohn, den sie | |
alleine aufzog. Erst spät ging sie zurück in die Niederlande, wo sie 1995 | |
starb. | |
Roliens Kindheit und Jugend tragen Züge ihrer eigenen Erfahrungen, die sie | |
in einem 1950 erschienenen autobiografischen Roman beschrieben hat. Mendels | |
Debüt ist eine Art zweigeteilter Entwicklungsroman: Im „Ersten Buch“ geht | |
es um das Kind, das zur Jugendlichen wird; das „Zweite Buch“ erzählt aus | |
der Perspektive der 20-Jährigen, die nach Paris geht, um zu schreiben. | |
Rolien ist eine Außenseiterin, ein überaus fantasiebegabtes Mädchen, das | |
sich seinen Puppen mit der gleichen Leidenschaft widmet wie schon bald | |
darauf der Idee, Schriftstellerin zu werden. Ralien heißt ihre imaginierte | |
Freundin, die auch ihre literarische Stimme ist: „‚Ich denke in | |
Büchersprache.‘ Mit diesen Worten versucht sie ihrer Mutter diese Stimme zu | |
erklären. ‚Wenn ich Doras Haare kämme, sagt jemand in mir:,Jetzt nahm sie | |
den Kamm und kämmte das lange schwarze Ziegenhaar ihrer Lieblingspuppe. | |
(…).‘ Ich fange schon an, in Sätzen zu träumen.'“ | |
## Entdeckung von Sexualität | |
Rolien ist eine ambivalente psychische Instanz, eine Verbündete, die Rolien | |
aber auch zu Zwangsritualen treibt, etwa dreimal um einen Kirchturm zu | |
laufen, um die von ihr bewunderte Lehrerin Clara Balto zu schützen. Mendels | |
erzählt von dieser Spannung, indem ihre Erzählstimme meist ganz dicht an | |
der Perspektive Roliens bleibt, darin kindlich-unbefangen ist. So | |
erscheinen die Zwangshandlungen wie ein Spiel. Doch den Leser*innen | |
erschließt sich in der offenherzigen Beschreibung die darunter liegende | |
Problematik. | |
Die Entdeckung von Körperlichkeit und Sexualität ist ein weiteres Thema. | |
Heftig ist die Zuneigung zur Lehrerin, doch einordnen kann die inzwischen | |
etwa 13-jährige Rolien sie nicht. Diese Wahrnehmung im Übergang vom Kind | |
zur Jugendlichen weiß die Autorin mit einem feinen Gespür für die | |
Sinnlichkeit der Eindrücke zu beschreiben. | |
Die angebotenen Kekse mit rosa Zuckerguss verwirren: „‚Schmecken sie dir | |
nicht?‘, fragt Fräulein Balto. ‚Oh doch‘, sagt Rolien, und während sie … | |
vorbeugt und genüsslich mit der Zungenspitze über die glatte Zuckerschicht | |
leckt, sieht sie im Aufschauen dasselbe sanfte Rosa auf den Wangen der | |
Lehrerin.“ | |
## Heiterer Ton voller Witz | |
Mendels Ton ist oft heiter, voller Witz, doch nutzt sie die kindliche | |
Perspektive immer wieder als Camouflage, um den Leser*innen entlarvende | |
Beobachtungen zu vermitteln. Etwa wenn Rolien die Verhaltensweisen mehrerer | |
Männer aus ihrem Umfeld – Lehrer, Bedienstete, Kollegen des Vaters – als | |
unangenehm empfindet, das aber nicht erklären kann. | |
Dem erwachsenen Blick offenbaren sich sexuelle (Beinahe-)Übergriffigkeiten. | |
Einen expliziten Kommentar verkneift sich die Autorin, oft verrückt nur | |
eine leichte, zugleich pointierte Ironie die Sicht. | |
## Ihr entlarvender Blick | |
Dass der Roman 1947 als „gefährliches Buch“ skandalisiert wurde, dürfte | |
auch mit diesem entlarvenden Blick Mendels zu tun haben, mit dem sie auch | |
die Mädchen und Frauen zugedachten Rollen zurückweist. Die junge Rolien | |
geht in brüsker Ablehnung der Lebensweise ihrer Schwestern nach Paris. | |
Ralien soll zurückbleiben, Mendels wechselt in die Ich-Perspektive und | |
erzählt expliziter von sexuellen Erfahrungen. | |
Die sublime, dann offene [2][Thematisierung von Sexualität] und | |
Körperlichkeit aus weiblicher Sicht wird ebenfalls Anstoß erregt haben. Und | |
nicht zuletzt das Fazit, dass bei allem Hadern der Protagonistin die | |
Abhängigkeit von einem Mann keine Alternative ist. | |
19 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Roman-ueber-Fotografin-Gerda-Taro/!5682474 | |
[2] /Neuer-Dokumentarfilm-von-Ryan-White/!5704479 | |
## AUTOREN | |
Carola Ebeling | |
## TAGS | |
Literatur | |
Sexualität | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Literatur | |
Literatur | |
US-Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Roman von Elena Ferrante: Genau so wollte sie es machen | |
In „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ porträtiert Elena Ferrante eine | |
fragile familiäre Idylle. Der Roman lässt formale Risiken vermissen. | |
Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“: Die Finger von Tante Clara | |
In kurzen, verdichteten Stücken erzählt die dänische Autorin Dorthe Nors | |
von ungeklärten Lebensfragen und lange nachwirkenden Ereignissen. | |
Neue Erzählungen von Lauren Groff: Wenn die Situation kippt | |
Hurrikans und Mutterschaft, Sex, Angst und Wut: US-Autorin Lauren Groff hat | |
den Erzählungsband „Florida“ veröffentlicht. |