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# taz.de -- Neapel-Saga von Elena Ferrante: Europa vor nicht allzu langer Zeit
> Elena Ferrantes Jahrhundertepos „Meine geniale Freundin“ handelt von
> Liebe, Emanzipation und der italienischen Klassengesellschaft.
Bild: Eine anonyme Autorin setzt neue Maßstäbe in der Literatur: Straßenszen…
Wer Elena Ferrante liest, bekommt eine Ahnung davon, wie Europa noch vor
nicht allzu langer Zeit war: roh, hart, rückständig, in den großen Städten
unasphaltierte Straßen, brodelnde Armenviertel. Im ersten Buch ihrer großen
vierbändigen Saga schildert Ferrante ein Neapel, in dem Väter ihren
Töchtern „zu ihrem Besten alle Knochen brechen“. Etwa, wenn sich ein
geschlechtsreifes Mädchen einer Vernunftheirat widersetzt – „ich bitte um
die Hand ihrer Tochter“ – oder sich junge Frauen in die wirtschaftlichen
Belange der männlich dominierten Familienhierachie einmischen.
Und das geschieht in Ferrantes Nachkriegs-Neapel in den 1950er und 1960er
Jahren immer häufiger. Es ist eine Epoche, in der das Wirtschaftswachstum
auch die Unterschichten zu erfassen beginnt. Viertel wie das
lumpenproletarische Rione in Neapel befinden sich im Umbruch. Der
reformierte postfaschistische italienische Staat schafft neue
Aufstiegschancen, vor allem durch den Zugang zu schulischer Bildung.
Bibliotheken sind für Ferrantes Mädchen und Außenseiter damals so wichtig
wie heute das Internet. Wissen, Fleiß und Förderung sind der Schlüssel zur
Befreiung junger Frauen in Ferrantes Romanepos.
Während die männliche Seite im Neapel der 1950er Jahre zumeist weiterhin
auf die Loyalitäten des familiären Abstammungsprinzips setzt. Blut und
Boden, Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit galten jahrhundertelang als
unantastbar vererbte Konstanten, wichtiger als die Freiheit oder die
Selbstbestimmtheit des Individuums.
Das alles beschreibt die Autorin lebensnah, in einer bewundernswerten
psychologischen Tiefe aus der Perspektive einer Mädchen- und
Frauenfreundschaft. Elena ist die Tochter eines strebsamen Pförtners, Lila
der Spross einer zu Gewalttätigkeit und Fatalismus neigenden armen
Schusterfamilie. Die beiden ungleichen Mädchen und Hauptfiguren des Epos
tragen, so Ferrante, all die „Untaten, Duldungen und Feigheiten“ der
Menschen aus dem Viertel in sich, derer, die „wir kannten, die wir liebten“
und „die wir alle in unserem Blut hatten“, wie Ferrante aus der Perspektive
Elenas spricht, die ihr erzählendes Werkzeug ist.
Die kollektive Unterwerfung und Teilhabe an Verbrechersyndikaten wie der
Camorra gehört zur Voraussetzung, um damals in Quartieren wie dem Rione
hochzukommen. Gegenpole wie Boheme und Kommunismus sind kaum präsent. Und
bleiben in Ferrantes Darstellung zudem Komplizen männlicher Ignoranz. Das
ist ernüchternd für Ferrantes Hauptfiguren Lila und Elena. „Mein Weinen
nährte sich aus sich selbst“, so skizziert Ferrante mitunter die
Gefühlslagen ihrer unverstandenen Heldinnen. Die diesen – und das ist das
Entscheidende – aber nicht in Demut oder Unterwerfung erliegen.
## Nahe, sehr nahe
Lila und Elena sind schon früh einen Pakt eingegangen. Seitdem die
draufgängerische, zur Bosheit neigende Lila der schüchternen, aber
neugierigen Elena die Puppe im Keller des schrecklichen Don Achille
versenkte, die redliche Elena aber den Mut aufbrachte, sich zu wehren,
stehen die beiden so unterschiedlichen Mädchen sich nahe, sehr nahe.
Die beiden Mädchen verbinden auch ihre schulischen Erfolge. Diese sind
Synonym für ein Interesse an Welt, an dem außerhalb des Rione. Wobei Lila,
die Tochter eines analphabetischen Haushalts, kaum dafür lernen muss. Sie
leidet eher unter ihrer Hochbegabung. Sie ist die Seherin unter den
Blinden. Eine Lila fast erdrückende Last und Bürde.
Sie fungiert als kindliche Lehrerin ihrer großen Bewunderin Elena. Wodurch
Elena früh zu lernen versteht und sich immer mehr steigert. Lila richtet
sich hingegen in der Rolle der Überlegenheit ein, um sich über das Viertel
und die Ordnung ihrer kleinen Welt aus den Zumutungen der Herkunft zu
befreien. Aus der schmutzigen, rotzfrechen, in Mut und Intelligenz den
Jungs überlegenen dürren Lila wird nach und nach die Diva des Rione.
Während Elena verpickelt, bebrillt und büffelnd die Pubertät erreicht, ohne
zu wissen, wohin ihr Weg der guten Noten sie führen wird. Doch sie bleiben
eng befreundet, beide spielen sie ihre Rollen.
Wir blicken auf eine Gesellschaft, in der 15- bis 16-Jährige als Erwachsene
gelten, arbeiten, heiraten und wieder Kinder kriegen. Jugendliche, die,
bevor sie das Meer gesehen haben, keine größeren Träume mehr haben. Ein
durch und durch sozial vorbestimmtes Leben. Lila versucht durch eine selbst
inszenierte Vernunftehe und die Einmischung in die väterliche
Schuhwerkstatt der Vermählung mit dem lokalen Jung-Camorristen zu entgehen.
Ferrante lässt dies durch ihre Freundin Elena skeptisch kommentieren. Ob
Lila auf der Flucht vor dem einen nur in den Fängen des anderen Clans
landen wird? Manches deutet darauf hin.
Das weiblich Andere in seiner eigenwillig existenzialistischen Schönheit,
verkörpert durch die immer extravaganter auftretende Lila, zieht viele im
Rione-Viertel in den Bann. Und wer Lila nicht liebt, hasst sie. Jede
Zurückweisung durch Lila macht die herrschsüchtigen und an Gewalt gewöhnten
Männer noch verrückter nach ihr. Es ist eine schlichte Dynamik.
## Ein einfaches Mädchen, schlauer als die Männer
In den Straßenzügen des familiär und politisch versippschwägerten Quartiers
sorgt ihr unangepasstes Auftreten immer stärker für Unruhe. Ein einfaches
Mädchen, eine Frau, schlauer als die Männer, für ihre Sturheit berühmt, die
den überlieferten Sittenkodex nicht akzeptieren will. Eine, die nur Einsen
in der Schule hatte und dem gewalttätigen Werber selbst das Messer an die
Kehle setzt. Keine Frage, dass sie zustechen würde.
Ferrantes Lila ist eine eigenwillige, feminine und in ihren Revolten
anmaßende Persönlichkeit. „Sie zerstörte ein Gleichgewicht, nur um zu
sehen, wie sie es auf andere Weise wiederherstellen konnte.“ Eine Jackie
Kennedy des Rione, wie Ferrante an einer Stelle meint. „Wollte sie aus dem
Rione ausbrechen, ohne ihn zu verlassen?“
Elenas und Lilas gemeinsame Grundschullehrerin hatte es kommen sehen. Und
missbilligt. Unfähig Lila zu helfen, wandte sich die konservative Maestra
früh Elena zu, die hinter Lila zur zweitbesten Schülerin aufgestiegen war.
Die hypersensible Lila scheint hingegen Gefangene des Rione zu bleiben, den
sie durch die Überlegenheit ihres Intellekts und Charismas zu domestizieren
versucht, samt den rivalisierenden Clans.
Während Elena auf die weiterführende Schule außerhalb des Rione geht,
negiert Lila für sich diesen Weg. Sie fühlt, dass vor allem ihr
cholerischer Bruder dem Untergang geweiht ist, sofern sie keine Lösung für
ihre gesamte Schusterfamilie findet. Durch die Perspektive Elenas
beschreibt Ferrante, wie Lila wahrnimmt, dass sich ihr geliebter Bruder in
„Auflösung“ befindet. In einer Silvesternacht verzehrt von Hass und Neid
gegenüber anderen Sippen wird er für sie zum konturlosen, rasenden Monster.
„Es war, als zöge in einer Vollmondnacht über dem Meer die Masse eines
pechschwarzen Unwetters am Himmel herauf, verschlänge alles Licht, zerfräße
den Rand des Mondes und entstellte die helle Scheibe, indem sie sie auf
ihre wahre Natur einer rohen, leblosen Materie reduzierte.“ So kündigt sich
die Szene an, deren weitere Beschreibung in der deutschen Übersetzung Karin
Kriegers an die fratzenhaft-dämonischen Gemäldeanordungnungen eines Daniel
Richters („Phienox“ oder „Billard um halbzehn“) erinnert.
Wie es mit Elena weitergeht, ob der Rione Lila oder Lila am Ende den Rione
schafft, bleiben spannende Fragen für die noch erscheinenden drei deutschen
Folgebände. Aufregender jedenfalls als das Rätselraten darüber, wer sich
hinter dem Pseudonym „Elena Ferrante“ verberge. Für eine Autorin, die sich
biografisch wohl nahe an der Realität Neapels bewegt, könnte diese Stadt
bis heute zu hart und roh sein, um ihre wahre Identität preiszugeben.
4 Sep 2016
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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