| # taz.de -- Annie Ernaux' „Der Platz“ als Hörspiel: Die Lyrik eines sozial… | |
| > Eine Hörspieladaption muss die Buchvorlage gedanklich atmen lassen. Bei | |
| > „Der Platz“, am Pfingstsonntag im SR-Kulturradio, ist das gelungen. | |
| Bild: Die Autorin Annie Ernaux auf der Lit Cologne 2019 | |
| Seit zwei Jahrzehnten gedeiht der Hörbuchmarkt und ist während der Pandemie | |
| noch einmal deutlich gewachsen. Kein Wunder: wie toll, sich einfach mal aus | |
| allem auszuklinken und sich angenehmen Stimmen zu überlassen, die einen dem | |
| wohl komponierten Ende einer Geschichte zutragen, ohne dass man dabei | |
| selbst eine einzige Entscheidung fällen müsste. | |
| Mit [1][Hörspieladaptionen] von Literatur verhält es sich ein bisschen | |
| anders. Denn im Glücksfall handelt es sich dabei nicht „nur“ um kompetent | |
| vorgelesene Bücher, sondern um hochkomplexe Übersetzungen von einem Medium | |
| in ein anderes, von einer Kunstform in eine andere. Besonders schön | |
| gelingen dabei solche Übertragungen, denen die „ÜbersetzerIn“ schon beim | |
| ersten stummen Lesen Rhythmen, Geräuschtexturen und Denkhaltungen | |
| abgelauscht hat. Ästhetische Setzungen, die die Gedanken, Szenen und | |
| Atmosphären des Buches atmen lassen, und die sich scheinbar wie von selbst | |
| in die fließende, durchlässige, geschmeidige Materie des Akustischen | |
| übertragen lassen. | |
| Ein solches Hörstück dient nicht primär der Entspannung; es setzt geradezu | |
| sportlich emotionale, intellektuelle und auch physische Impulse. [2][Annie | |
| Ernaux'] Roman „Der Platz“ hat in seinem Bearbeiter Erik Altdorfer, der | |
| Schauspielerin Stefanie Eidt und dem Komponisten Martin Schütz ein | |
| kongeniales ÜbersetzerInnenteam gefunden. | |
| Arnaux' leise, strenge, fragmenthafte und auch lyrische Analyse ihrer | |
| gesellschaftlichen Aufstiegsbiografie geht weit über die bloße Abarbeitung | |
| der sozialen Sprünge hinaus. Soziale Sprünge, die vom Großvater, der im 19. | |
| Jahrhundert noch Lohnknecht war, über die Eltern (Fabrikarbeiter und | |
| „kleine“ Ladenbesitzerin) bis zur Autorin führen, die nach einer | |
| schmerzhaften Ablösung vom elterlichen Milieu, als Gymnasiallehrerin im | |
| Bürgertum „ankam“. | |
| Die Macherinnen des Hörspiels haben Ernaux genau zugehört: wie sie | |
| dynamisch zwischen Erinnerung, Selbstbefragung und sozialer | |
| Außenperspektive wechselt und dabei Schlüsselbegriffe unaufdringlich | |
| intensiviert und ihren sachlichen Erzählton sparsam mit Wärme oder | |
| Traurigkeit anreichert. Traurigkeit, weil Ernaux den sozialen Aufstieg auch | |
| als Verrat an ihrem Vater, dem emotionalen Zentrum des Buchs, erlebte. | |
| Eidts Stimmtimbre, ihre Sprechhaltung und Sprechrhythmen übersetzen dieses | |
| Werk im Zusammenspiel mit Schütz' Soundvignetten in einen anregenden | |
| Wahrnehmungsraum. | |
| 22 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Hoerspiel/!t5010103 | |
| [2] /Franzoesische-Literatur/!5717389 | |
| ## AUTOREN | |
| Gaby Hartel | |
| ## TAGS | |
| Hörspiel | |
| soziale Klassen | |
| Französische Literatur | |
| Annie Ernaux | |
| Hörspiel | |
| Hörspiel | |
| Hörspiel | |
| Didier Eribon | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Berliner Hörspielnächte: Hörend unterwegs | |
| Man muss nicht alles aussitzen: In der Sommerausgabe der Berliner | |
| Hörspielnächte gibt es auch Hörspiele, bei denen man in Bewegung kommen | |
| darf. | |
| Neues Hörspiel zum NSU-Prozess: Eintauchen in den Schrecken | |
| Dem Hörspiel „Saal 101“ gelingt gesellschaftspolitisch ein echter Wurf. Es | |
| liefert keine Einordnung, sondern lädt ein, sich ein Urteil zu bilden. | |
| Radio-Hörspiel von Heiner Goebbels: „Ich reise nicht mehr“ | |
| Man kann auch Phantasiewelten erkunden, statt unterwegs zu sein. | |
| Hörspielkünstler Heiner Goebbels richtet den Fokus auf die Beweglichkeit | |
| des Geistes. | |
| Französische Literatur: Die Kronzeugin | |
| Mit „Die Scham“ ist ein neuer Band von Annie Ernaux’ | |
| autobiografisch-soziologischer Prosa erschienen. Warum können sich gerade | |
| alle auf sie einigen? |