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# taz.de -- Neues Hörspiel zum NSU-Prozess: Eintauchen in den Schrecken
> Dem Hörspiel „Saal 101“ gelingt gesellschaftspolitisch ein echter Wurf.
> Es liefert keine Einordnung, sondern lädt ein, sich ein Urteil zu bilden.
Bild: Witwe Adile Simsek (Mitte) am 402. Verhandlungstag im NSU-Prozess
Mit „Saal 101“ ist den koproduzierenden ARD-Hörspielredaktionen unter
Federführung des Bayerischen Rundfunks ein echter Wurf gelungen.
Inhaltlich, ästhetisch und vor allem gesellschaftspolitisch. In dem
12-stündigen Dokumentarhörspiel geht es um nichts weniger als die
Aufarbeitung der Protokolle des NSU-Prozesses, die von verschiedenen
ARD-BeobachterInnen über die fünfjährige Dauer des Verfahrens angefertigt
wurden.
Es sind die einzigen Dokumente dieses Prozesses gegen die
rechtsterroristische Gruppe, denn Video- und Audioaufzeichnungen existieren
nicht. Das Hörspiel macht öffentlich zugänglich, was angesichts [1][der
zunehmenden rechten Gewalt] nicht in Vergessenheit geraten darf. Die 1.000
Ordner umfassenden Schriften lagern im Schallarchiv des BR, dessen Leiter
2014 auf sie aufmerksam machte. Chefdramaturgin Katarina Agathos erkannte
in ihrer Frage-und-Antwort-Struktur ihre Hörspieltauglichkeit und
übersetzte die Texte zurück ins Mündliche – in Zusammenarbeit mit einem
künstlerischen und juristischen Expertenteam.
„Der Prozess als Textmaschine“, so ist ein Werkstattbericht des
Produktionsteams überschrieben. Und tatsächlich montierten sie das Skript
in philologischer Kleinstarbeit zum Teil aus Halbsätzen, verbanden Berichte
über Zeugenaussagen mit Prozess- und Personenbeschreibungen und filterten
die verhandelten Themenkomplexe heraus.
Die Abfolge der Episoden ist nicht chronologisch, sondern inhaltlich
geordnet. Der erfahrene Hörspiel-Regisseur Ulrich Lampen überlässt die
nüchterne Protokoll-Sprache den sehr prägnanten SprecherInnen, die er mit
glücklicher Hand besetzt hat (Bibiana Beglau, Katja Bürkle, Florian
Fischer, Thomas Thieme u. a.). Sie verkörpern nicht je eine Figur, sondern
mehrere, und so widersetzt sich die Inszenierung einer Fiktionalisierung
der Protokolle.
## Ein Sprachsog, der eintauchen lässt
Die Stimmen geben vielmehr den Worten Gestalt und erzeugen einen Sprachsog,
der die Hörerin von Minute zu Minute wacher in diese schreckliche Welt
eintauchen lässt: „[2][5 Jahre und zwei Monate wird der sogenannte
NSU-Prozess dauern]. Doch im Gerichtssaal gelten andere Kriterien als das
Vergehen der äußeren Zeit“, heißt es irgendwann. Unter Lampens gekonnter
Stimmführung wird eine ausbalancierte Spannung zwischen Distanz und Nähe
erzeugt, zwischen Kühle und Wärme und damit ein Raum, in dem
Fassungslosigkeit und Erschütterung Platz haben.
„The Return of the Real“ [3][hieß ein einflussreiches Buch], das der
Kunstwissenschaftler Hal Foster vor 30 Jahren herausbrachte. Das im Titel
anklingende Versprechen wurde vom internationalen Kulturbetrieb mit
Erleichterung aufgenommen: Wie viel Stoff schien jenseits des postmodern
Subjektiven, Abschweifenden, ichbezogen Verspielten zu liegen, das nach dem
Ende der letzten Doku-Welle der sechziger und siebziger Jahre die
Kunstproduktion dominiert hatte. Seit Mitte der neunziger Jahre wird die
Wirklichkeit wieder künstlerisch erschlossen und teils leider auch bloß
vampiriert. Umso schöner das neue Werk in dieser Tradition.
## Ganz ohne emotionalen Verstärker
„Saal 101“ gelingt es, die Reflexionsarbeit an die Hörerin abzugeben, indem
es die Zeitgenossin ganz ohne emotionalen Verstärker zur engagierten
Prozessbeobachterin macht. Das ist eine große Leistung. Andere Zeiten
hatten andere ästhetische Formen des Umgangs mit historisch und
gesellschaftlich relevanten Prozessakten. So klingt in den langen Stunden,
die man im Hörraum von „Saal 101“ verbringt, auch [4][„Die Ermittlung“]
nach, Peter Weiss’ Dramatisierung der Protokolle des ersten Frankfurter
Auschwitzprozesses (1963 bis 1965).
Weiss fasste sein Material in 11 oratorische Gesänge und überhöhte es
künstlerisch. Ein Verfahren, das Weiss-Kennerin Agathos in diesem Fall
nicht einsetzen wollte. Während Weiss den Fokus auf das Universale des
Ungeheuerlichen richtet, nehmen Agathos und ihr Team das Spezifische der
NSU-Verbrechen und des gesellschaftspolitischen Umfelds in den Blick, in
dem diese möglich sind.
Gefragt, warum dieses Stück nicht als Feature, sondern als Dokuhörspiel
produziert wurde, verweist Agathos auf einen Aspekt des Genres, der zu
seinen großen Stärke zählt: Es liefert keine Einordnung, hat keine Mittler.
Es sprechen allein die Quellen und verpflichten die Hörerin zur
Urteilsbildung.
BR 2, hr 2, MDR, NDR, rbb, SR2, SWR 2, WDR 5 und DLF:
19. 2., 20.05 Uhr bis 2 Uhr
(Teile 1 bis 12)
20. 2.,20.05 Uhr bis 2 Uhr
(Teile 13 bis 24)
Radio Bremen:
19. 2., 20.05 Uhr bis 23 Uhr. Danach in weiteren Blöcken.
Ab 19. 2. verfügbar in der ARD-Audiothek, auf BR-Podcast sowie als
Hörbuch mit 12 CDs, der Hörverlag, 45 Euro.
19 Feb 2021
## LINKS
[1] /Rechte-Gewalt-in-Ostdeutschland/!5676492
[2] /Fuenf-Jahre-NSU-Prozess/!5499292
[3] https://mitpress.mit.edu/books/return-real
[4] https://www.spiegel.de/geschichte/peter-weiss-theaterstueck-die-ermittlung-…
## AUTOREN
Gaby Hartel
## TAGS
Hörspiel
NSU-Prozess
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Hörspiel
Hörbuch
zeitgenössische Kunst
Hörbuch
Lesestück Recherche und Reportage
Rechter Populismus
Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke
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