| # taz.de -- Mittagsgesang von Klangkünstlerin: Ein Stück Echtzeiterleben | |
| > Jeden Mittag um Punkt 12 Uhr erklingt im Hof des KW Institute for | |
| > Contemporary Art das Rosa-Luxemburg-Lied. Gesungen von Susan Philipsz. | |
| Bild: Susan Philipsz, „Rosa“ (Installationsansicht), 2002, Klanginstallatio… | |
| Ich schieße auf dem Fahrrad über die Karl-Marx-Allee zu einem lang | |
| ersehnten Kulturtermin, der um Punkt 12 Uhr mittags beginnt und eine Minute | |
| und vierzig Sekunden später schon vorbei ist. Länger dauert „Rosa“ nicht, | |
| die neue Soundarbeit von Susan Philipsz, und wenn die Besucherin nicht | |
| pünktlich ist, muss sie an einem anderen Tag wiederkommen. | |
| Das klingt aufwendig, doch ist das Werk gerade wegen dieses strengen | |
| Timings eine kleine Sensation. Mit seiner konzentrierten Kürze schenkt es | |
| ein winziges Stück Echtzeiterleben, das sich in meiner Vorfreude und später | |
| im Nachsinnen noch weiter ausdehnt. Angesichts des uns umgebenden | |
| Endlosstroms von jederzeit abspiel- und wiederholbarer gespeicherter | |
| Wirklichkeit ist das etwas sehr Kostbares. | |
| „Es ist nur einmal live – verpass es nicht“: Der Werbeslogan für einen | |
| neuen Sport-Kanal, den ich im Vorbeifahren sehe, erscheint mir darum wie | |
| ein Kommentar zu Philipsz' liebevoller Hommage an Rosa Luxemburg. | |
| ## Mit dem ersten Glockenschlag | |
| Es ist Schlag 12 Uhr, ich stehe im Hof des KW Institute for Contemporary | |
| Art, und mit dem ersten Glockenton der nahe gelegenen Sophienkirche | |
| erklingt auch Susan Philipsz' helle, sanfte, wie an sich selbst gerichtete | |
| Stimme aus einem unauffälligen weißen Megafon. Bescheiden mischt sie sich | |
| unter die Geräuschkulisse des öffentlichen Raums. | |
| Unter das kollektive Murmeln der wenigen BesucherInnen, die hier auf | |
| Einlass in die Ausstellungen warten und die jetzt ihre Maskengesichter | |
| überrascht in Richtung Lautsprecher wenden; unter das Vogelgezwitscher in | |
| den kahlen Birken und Obstbäumen und das Klacken der Schritte und Rauschen | |
| der Autos draußen auf der Auguststraße. | |
| Leicht melancholisch durchzieht das Rosa-Luxemburg-Lied den Innenhof, | |
| dieses „sister-piece“ zur Internationalen, wie Philipsz es nennt. Auf | |
| Englisch gesungen im klaren, warmen, schottisch eingefärbten Ton der | |
| Künstlerin klingt es wie ein Folksong: „Stand up and fight/ we have a score | |
| to settle/ stand up and fight/ we have a war to win.“ | |
| ## Winzige Unebenheiten | |
| Manchmal reibt sich die Stimme kaum merklich an den Tonhöhen oder sie | |
| rutscht einen Hauch zu schnell der abfallenden Melodie voraus. Doch diese | |
| winzigen Unebenheiten verstärken nur den anrührenden Eindruck von | |
| Behutsamkeit und Verletzlichkeit und Intimität, den die Stimme übermittelt. | |
| Und damit verstärkt sich auch das Entsetzen über die unglaubliche | |
| Brutalität, mit der der Mord an Rosa Luxemburg verübt wurde. | |
| Das von Philipsz so persönlich gesungene Kampflied der internationalen | |
| Arbeiterbewegung entstand nach den Morden an Luxemburg und Karl Liebknecht | |
| am 15. Januar 1919: als selbstbewusste Aneignung eines bekannten | |
| Soldatenlieds aus dem Ersten Weltkrieg, in dem die Anrede „Kaiser Wilhelm | |
| II.“ durch die Namen der beiden Ermordeten ersetzt wurde. Dass dieses Lied | |
| dann 1930 von der SS zu ihren Zwecken umgedichtet wurde, belegt seine | |
| historische Brisanz. | |
| Wie schön, dass Susan Philipsz in diesem „battle of the song“ mit ihrer | |
| ganz privaten Würdigung Rosa Luxemburgs ein letztes Wort behält. Dass | |
| Philipsz' Gesang so bewegend und überzeugend klingt, mag auch daran liegen, | |
| dass dieses Lied die Künstlerin seit ihren frühen Studentinnentagen | |
| begleitet: Mit Anfang zwanzig sang sie es in Glasgow auf Demonstrationen | |
| gegen Magaret Thatchers ultraharte Politik. | |
| ## Leise Intervention | |
| 2002 dann, während einer einjährigen Residency im KW, unternahm sie eine | |
| „Pilgerfahrt“, wie sie es nennt, zu Rosa Luxemburg. Sie suchte ihre | |
| Gefängniszelle auf, setzte sich still in eine Hotellobby nahe dem nicht | |
| mehr existierenden Hotel Eden, in dem Rosa an jenem Januarabend von | |
| Angehörigen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division verhört und bewusstlos | |
| geschlagen, mit einem Schläfenschuss getötet und in den Landwehrkanal | |
| geworfen wurde. | |
| Als Antwort auf Luxemburgs Leidensweg sang die Künstlerin zu Hause im KW | |
| noch einmal das alte Kampflied und zeichnete es auf. Dann öffnete sie ein | |
| Fenster, stellte zwei kleine Lautsprecher auf die Fensterbank und schickte | |
| die Tonaufnahme als leise Intervention in die Auguststraße. | |
| Nun ist diese wunderschöne Arbeit nach fast zwanzig Jahren erstmals | |
| offiziell am Ort ihrer Entstehung installiert. Susan Philipsz versteht ihr | |
| Werk als Überraschung für die Menschen, die in diesem idyllischen Innenhof | |
| ihre Lunchbox verspeisen; oder für die PassantInnen und die, die zum | |
| Kunstschauen hier her kommen. Ihnen allen schenkt die bloße Stimme, dieses | |
| älteste Medium der Menschheit, eine Zäsur im Arbeitsalltag. | |
| Und tatsächlich hört sich die Stille nach dem Lied anders an als zuvor: | |
| tiefer und gesättigter. Die Töne und Geräusche, aus denen sie nach John | |
| Cage ja besteht, sind nicht mehr zerfasert und verstreut, sondern wie durch | |
| Magie verbunden. Alles fügt sich zu einer lautlichen Form, zu einem | |
| Rhythmus, zum Bestandteil einer Erzählung, die persönlich ist, historisch | |
| und auch sehr aktuell. | |
| 7 Apr 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Gaby Hartel | |
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