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# taz.de -- Vinylpremiere: Das Gespenstische des Sounds
> Tacita Deans bislang einziges Radiostück ist das winterlich gestimmte
> „Berlin Project“. Jetzt wurde es auf Vinyl veröffentlicht.
Bild: Ausschnitt aus dem Cover von Tacita Dean, Berlin Project (vinyl edition),…
Es ist ein verhangener Wintertag, wie vielleicht nur Berlin ihn kennt. Das
Licht ist raumgreifend trübe, und schwere Schneeflocken wehen einen dichten
weißen Schleier über Straße, Gehweg und sieben schneebedeckte Autos, die in
einer Ausbuchtung parken. Alles Farbige scheint zu einem Sepiaton
heruntergedimmt, aus dem das gelbe „JUNKERS“-Schild eines Klempnerladens
selbstbewusst hervorleuchtet, als wolle es Walter Benjamins frühe Hymne an
die Neonwerbung alle Ehre machen.
Auf dem weiß bestäubten Asphalt sind gerade und geschwungene Linien zu
sehen: Zufallszeichnungen und Schatten von Aktivitäten und den Körpern, die
sie unternahmen. Eine schleifende Fußspur pointiert sie. Diese Anwesenheit
von Abwesendem erzeugt Spannung und die drängende Frage, was hier wohl los
war.
Tacita Deans Kunst kreist immer um das Wesen der Medien, mit denen sie
arbeitet, und hier trifft bereits das Cover ihres einzigen Radiostücks,
„Berlin Project“ (2002), das nun auf Vinyl erschienen ist, den Kern des
Hörfunks selbst: seine „Hauntology“, jene geisterhafte Energie, Konkretes
aus dem scheinbaren Nichts zu erzeugen, die seit den Anfängen des Hörspiels
fasziniert.
## Strukturierung der Zeit
„Bipp!!!“ Zunächst höre ich eine vertraute Audiosignatur, den Ton des
Zeitzeichens. Kurz, knapp und fordernd weist es auf ein zweites
Charakteristikum des Mediums hin, das hier variantenreich durchgespielt
wird, auf die Strukturierung von Zeit in sich verflüchtigende akustische
Momente und Sensibilitätseinheiten.
Was folgt, ist eine sich ausdehnende Fläche aus atmosphärischem „Noise“:
Rauschen, Gurren, Regenprasseln, Bellen, Klacken. Unmittelbar körperlich
spüre ich, wie der vom sichtbaren Objekt gelöste Klang in mir einen
fantasieanregenden Nachhall triggert.
Dann spricht die Künstlerin mit ihrer äußerst radiogenen Stimme: „Being
made finer, air becomes fire. Being made thicker it becomes wind, then
cloud, when thickened still more: water, then earth, then stones. And the
rest comes into being from those.“
## Schöpfungsgeschichte aus dem Geist des Äthers
Tatsächlich entfaltet „Berlin Project“ über 46 Minuten eine
Schöpfungsgeschichte aus dem Geist des Äthers, die an eine autobiografische
Erkundung gekoppelt ist. Das Berlin von Deans Hörspiel wirkt wie ein
fluider Erfahrungsraum, erschaffen aus Field Recordings, akustischen
Erinnerungen, Körperspuren und Klangschatten.
Natürlich weiß Dean, dass auditive Stadt- und Selbsterforschung mehr
künstlerische Aktion erfordert als ein schlichtes Aneinanderreihen von
ikonischen Sounds. So verbinden sich aufgezeichnete Gespräche, Wunschbilder
und einst Erlebtes mit realen Alltagsgeräuschen. Elementare Sounds und
Wortfetzen (etwa aus der Damentoilette des KaDeWe) ertönen neben dem
(ironisch zitierten) Leierkastenohrwurm „Das ist die Berliner Luft“.
Nahaufnahmen von neutralen Ansagestimmen aus der S-Bahn agieren wie die der
jubelnden Fußballfans im Olympiastadion als semantische Elemente einer
experimentellen Sounderzählung. Von ferne erinnert das an Walter Ruttmanns
Hörspiel „weekend“ (1930), auch wenn der Rhythmus bei Tacita Dean weniger
mechanisch und die Grenzen zwischen den Sound-Kapiteln deutlich fließender
sind.
## Melancholisches Stimmungsbild
Ab und zu tauchen Körpersignaturen der Künstlerin auf: wie sie
Treppenstufen hinaufschnauft und einen Schlüssel im Schloss herumdreht.
Dann verlässt sie die physische Ebene und fächert ein melancholisches
Stimmungsbild auf, bestehend aus einem Stück von Eric Satie, gespielt auf
einem verstimmten Klavier, aus hallenden Schritten in einer weiträumigen
Wohnung und gegen Glas prasselndem Regen, der in das Knacken eines Feuers
überblendet wird.
Kaum habe ich eine Stimmung erfasst, gleite ich in die nächste, und
manchmal führt mich die Künstlerin an meine Wahrnehmungsgrenze. So zart
manches Signal auffunkt und so quecksilbrig schnell sich die akustischen
Eindrücke wandeln – als Erfahrung wirken sie sehr konkret nach. Es ist, wie
Germaine Greer über Tacita Deans Filminstallation „Boots“ (2003) schrieb:
„Sounds are solider than sight.“
Irgendwann sagt die Künstlerin Folgendes: „As our soul, being air, holds us
together and controls us, so does wind or breath or air enclose the whole
world.“ Entsteht darum der starke Sog dieser Soundnarration, der aus mir
eine Art Durchlaufmedium macht?
## Das völlige Einsinken in eine Stadt
Joseph Brodsky beschreibt in seinem Venedig-Aufsatz „Ufer der Verlorenen“
ein solch völliges Einsinken in eine Stadt oder ein Kunstwerk als
psychochemisches Phänomen, das sich einstelle, wenn die elementare
Beschaffenheit der BetrachterIn auf etwas trifft, das aus denselben
Elementen zusammengesetzt ist.
Während die Soundstory des „Berlin Project“ mich durchdringt und durch die
Zeit trägt, scheinen Satzfragmente als Residua einer spannenden Story auf.
Eine dynamische alte Männerstimme deklamiert etwa: „Boots! This is your
father!“ und erzählt von den „prisoner’s clothes“, die der Vater einma…
tragen gezwungen war.
Dann erinnert sie die letzten Worte der Mutter: „It’s like going down a
rabbit hole.“ Und genau so fühlt es sich an, wenn die Platte zu Ende gehört
ist: als sei ich wie Alice durch einen Kaninchenbau ins Wunderland
gestürzt. Das Vertraute wirkt plötzlich entrückt, fremd und neu und lädt
zur Wiederentdeckung ein. Was für ein angenehmer Zustand in dieser Zeit,
die mir das physische Reisen versagt.
12 Feb 2021
## AUTOREN
Gaby Hartel
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zeitgenössische Kunst
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