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# taz.de -- Coffee-Table-Buch von Maler Jim Avignon: Was bei Alien-Kontakt zu t…
> Das Bändchen „Welt und Wirklichkeit“ des Berliner Universalkünstlers Jim
> Avignon vermittelt nicht nur Wissen, sondern auch nützliche Tipps.
Bild: Selfie mit Gott: Religion im digitalen Zeitalter (Zeichnung aus „Welt u…
Im Bereich der Biologie gibt es allerlei interessante Dinge und Phänomene,
Wissenswertes ohne Ende. Lebewesen aus dem Tierreich etwa lassen sich
grundsätzlich in Ur- und Neumünder aufteilen. Diese Kategorisierung kommt
aus der Evolutionsbiologie.
Bei den einen formte sich bei der Entwicklung des Zellklumpens, dem sie
entstammen, zuerst der Mund, dann der Anus. Bei den anderen ist es
umgekehrt. Wer im Biounterricht nicht aufgepasst hat, erfährt also etwas
Neues aus dem Essay über Biologie, den die Autorin Kathrin Passig für den
Band „Welt und Wirklichkeit“ des [1][Berliner Universalkünstlers Jim
Avignon] verfasst hat.
Das Büchlein ist ein Kompendium des Wissens, eine Art Lexikon zu
ausgesuchten Begriffen samt praktischen, mal erklärenden, mal ergänzenden
Zeichnungen. Doch für Wissen allein gibt es heute das Internet und vor
allem Wikipedia, die umfangreichste Enzyklopädie aller Zeiten.
So kommt es, wenn man sich trotz Wikipedia heute noch an einem Sachbuch
versucht, das die Welt erklären soll, darauf an, was man aus bestimmten
faktenbasierten Erkentnissen macht. Man sollte etwas bieten, was sich nicht
so einfach ergoogeln lässt. Und das gelingt Kathrin Passig in
eindrucksvoller Weise. Sie beschreibt nicht nur evolutionsbiologische
Phänomene, sondern leitet daraus lebenspraktische Tipps ab.
## Mit Kathrin Passig, Imran Ayata und Françoise Cactus
Bei den meisten Lebewesen erkenne man auf den ersten Blick, wo vorne und wo
hinten, wo oben und wo unten sei. Aber eben nicht bei allen. Und so könne
es durchaus sein, dass bei dem Alien, dem man eventuell begegnet, unter
Umständen auch nicht sofort erkennbar ist, wo vorne und wo hinten ist.
Passig empfiehlt: Am besten das Lebewesen vom anderen Stern erst einmal bei
der Bewegung beobachten.
Dessen Fortbewegungsrichtung könne Aufschlüsse geben, wo bei diesem vorne
ist. Es finden sich an mehreren Stellen in „Welt und Wirklichkeit“
derartige Tipps und Tricks. Etwa im Kapitel „Politik“ [2][von Imran Ayata].
Der beschreibt, dass es hilfreich ist, sich beim nächsten Internet-Date vor
dem Sex zu vergewissern, wo das Gegenüber politisch einzuordnen ist.
Zumindest ungefähr. Und vor allem dann, wenn man auch nach dem Sex noch
Kontakt zum Datingpartner halten möchte.
Optisch und vom Aufbau her ist „Welt und Wirklichkeit“ mit seinen 21
Kapiteln an den berühmten dtv-Atlas Weltgeschichte des Deutschen
Taschenbuchverlags angelehnt, der in den Sechzigern erstmals aufgelegt
wurde und heute als Klassiker der Aufbereitung kompakten Wissens gilt.
(Eine erste Adaption des dtv-Atlas von Avignon erschien im Jahr 2004 beim
Verbrecher Verlag: „Welt und Wissen“.)
Hier wie dort befinden sich die Texte auf den rechten Seiten, die
dazugehörigen Bilder und Infografiken auf den linken. Womit wir bei Jim
Avignon angekommen wären, Herausgeber des Büchleins und Lieferant
sämtlicher Zeichnungen. Avignon ist ein international bekannter Malstar,
dessen Werk irgendwo zwischen Pop-Art und Comic-Kunst angesiedelt ist.
## Bunte Bilder in atemberaubender Geschwindigkeit
Avignon gilt als künstlerischer Chronist des
Berlin-in-den-Neunzigern-Lebensgefühls, hat es aber geschafft, mehr zu sein
als ein Zeitgeistphänomen. In den Nullerjahren hatte er eine Weile genug
von Berlin; er verkrümelte sich für ein paar Jahre nach New York, lebt
jetzt aber wieder in Kreuzberg und macht immer noch das, was er am besten
kann: bunte Bilder in atemberaubender Geschwindigkeit malen und diese mit
viel Witz, Ironie und leichtfüßiger Gesellschaftskritik zu versehen.
Dazu verfügt er über eine beneidenswerte Doppelbegabung: Neben der
bildenden Kunst ist er auch noch unter dem Namen Neoangin als
Elektronikpopmusiker mit Trash-Charme tätig. Das erklärt auch, warum viele
Autoren und Autorinnen in seinem neuen Buchband ebenfalls aus dem Bereich
der Musik bekannt sind.
Francoise Cactus [3][von der Band Stereo Total] oder [4][Andreas Spechtl]
von [5][Ja, Panik] beispielsweise. Über 70 passende Bebilderungen für ein
Buch wie „Welt und Wirklichkeit“ abliefern zu müssen, dafür bräuchten
andere Ewigkeiten. Bei Jim Avignon dagegen reichen ein paar Griffe ins
Archiv, um Brauchbares aufzustöbern.
Die meisten seiner Bilder, die den Weg in das Buch gefunden haben, arbeiten
auch mit Text, Avignons Nähe zu Comics kommt hier zum Tragen. Dabei reichen
ihm nur ein paar Panels und ein kluger Gedanke, um bestimmte Erkenntnisse
kompakt und pointiert auf den Punkt zu bringen.
So erklärt er ergänzend zum Buchkapitel über Sexualität seine Beobachtungen
zu „Sex und Arbeit – Damals und heute“ ganz einfach in zwei Bildern. Dama…
hatte man Sex während der Arbeit, behauptet er, und zeichnet dazu ein
kopulierendes Pärchen in der Fabrikhalle. Heute dagegen widme man sich eher
der Arbeit neben dem Sex. Er zeigt dazu zwei Nackte beim Beischlaf, die
nebenbei auf ihrem Handy und dem Laptop herumfummeln.
Schade, dass sich „Welt und Wirklichkeit“ an den kleinformatigen dtv-Atlas
Weltgeschichte-Bänden orientiert. Man hätte den Band ganz gerne als
Coffee-Table-Buch.
8 Feb 2021
## LINKS
[1] /Multitalent-Jim-Avignon-im-Interview/!5300903
[2] /Elektronische-Musik-aus-der-Tuerkei/!5313154
[3] /Stereo-Total-im-Interview/!5203742
[4] /Andreas-Spechtls-Album-Strategies/!5604763
[5] /E-Mail-Roman-von-Ja-Panik/!5352569
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
Buch
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