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# taz.de -- Pladoyers im Lübcke-Prozess: „Wo ist der wehrhafte Staat?“
> Im Prozess zum Mord an Walter Lübcke rechnet dessen Familie mit dem Staat
> ab. Die Hinterbliebenen fordern die Höchststrafe für die beiden
> Angeklagten.
Bild: Die Familie von Walter Lübcke im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts in …
Frankfurt am Main taz | Es ist eine Abrechnung, die Holger Matt am Dienstag
im Saal des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vollzieht. Der Anwalt der
Familie Lübcke erinnert daran, wie vor dem [1][Mord an Walter Lübcke] gegen
diesen folgenlos im Internet gehetzt wurde. Wie die zwei Rechtsextremen,
die für den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten angeklagt sind,
völlig ungestört mit Waffen trainieren konnten. Wie PolitikerInnen wie
Erika Steinbach die Hasspostings gegen Lübcke teilten und so einen
Nährboden für die spätere Tat schufen. „Da fragt man sich: Wo ist der
wehrhafte Staat?“
Matt beantwortet die Frage gleich selbst: Es habe ihn nicht gegeben. Dem
Verfassungsschutz attestiert er hier ein „Komplettversagen“, dem Staat eine
Mitschuld an dem Mord, weil er die Hetze gegen den CDU-Mann nicht
unterbunden hat. Bitter bemerkt der Anwalt: „Und da dachte man nach dem
NSU, der Staat sei aufgewacht.“
Es ist ein fast wütender Auftakt des Plädoyers der Nebenklage im Prozess
zum Mord an Walter Lübcke, der in der Nacht zum 2. Juni 2019 vor seinem
Haus in Istha bei Kassel ermordet wurde. Seit Juni 2020 läuft dazu nun der
Prozess, der sich nun in der Schlussphase befindet. Ende Januar soll ein
Urteil fallen. Der Anwalt trat bisher eher zurückgenommen auf.
Die Familie von Walter Lübcke macht in ihrem Plädoyer am Dienstag klar: Sie
wollen die Höchststrafe für den Hauptangeklagten Stephan E. Und sie wollen
sie auch für einen zweiten Mann, weil er – anders als es die Anklage sieht
– gleichwertig Mittäter gewesen sei: der Mitangeklagte Markus H., ein
früherer Kumpel von E. und ebenso Rechtsextremist. Anwalt Matt spricht von
einer „abscheulichen“ und „historischen“ Tat, der ersten Ermordung eines
Politikers durch Rechtsextreme seit Jahrzehnten. Dies müsse sich auch in
der Höhe des Urteils niederschlagen. Er fordert lebenslange Haft, mit
Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, für beide.
Dass Stephan E. am Mord beteiligt war, ist unstrittig. An Tatort und
Tatwaffe fand sich seine DNA. Der 47-Jährige gestand zunächst die Tat – aus
Wut über die Kritik von Lübcke an Geflüchtetengegnern auf einer Kasseler
Bürgerversammlung 2015. Dann aber behauptete er, sein Kamerad Markus H.
habe geschossen, man sei zu zweit vor Ort gewesen. Im Prozess die erneute
Kehrtwende: Man sei zwar zu zweit gewesen, aber Stephan E. habe doch selbst
geschossen.
Diese Version hält Matt am Dienstag für die glaubwürdigste. Auch er sei am
Anfang davon ausgegangen, dass Stephan E. allein am Tatort gewesen sei.
Über Monate habe man im Prozess aber die Wahrheit herausgeschält, ganz am
Ende auch mit spontanen, unverstellten Aussagen von Stephan E. „Wir
glauben, dass E. uns die Wahrheit gesagt hat.“
Matt verweist auf zahlreiche Indizien, die Markus H. belasteten. So habe
dieser nach der Bürgerversammlung einen Videoausschnitt von Lübckes Aussage
verkürzt ins Netz gestellt. Er habe Stephan E. mit zu Schießtrainings und
AfD-Demos genommen, mit ihm Istha ausgekundschaftet und sofort nach der Tat
seine Threema-Chats mit E. gelöscht.
Auch sei nur mit einer Doppeltäterschaft erklärbar, warum der Todesschuss
auf Lübcke von der Seite erfolgte: weil das Opfer durch eine zweite Person
von vorne abgelenkt war – von H. „Ohne H. hätte es den Mord an Walter
Lübcke nicht gegeben“, ist Matt überzeugt.
Nur: Das Gericht sieht es anders und entließ H. schon im Oktober aus der
U-Haft. Einen dringenden Tatverdacht gebe es nicht mehr. Die Aussagen von
E. seien „äußerst detailarm“, widersprüchlich und „nicht glaubhaft“.…
tatsächlich gibt es von H. keine DNA-Spuren am Tatort.
## Institutioneller Rassismus bei den Ermittler:innen?
Auch die Bundesanwaltschaft hielt es in [2][ihrem Plädoyer vor Weihnachten]
nicht für nachweisbar, dass Markus H. am Tatort war. Die Ankläger forderten
für ihn dennoch eine Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten, da er
Stephan E. zum Mord angestachelt habe, eine psychische Beihilfe. Für E.
verlangte es die Höchststrafe: lebenslange Haft mit anschließender
Sicherungsverwahrung.
Die Anklage listet aber noch einen Vorwurf: Bereits im Januar 2016 soll
Stephan E. in Kassel [3][einen irakischen Geflüchteten niedergestochen
haben, Ahmed I]. Das Gericht hat auch hier Zweifel, die Beweislage ist
erneut nicht ganz klar.
Stephan E. bestreitet die Tat. Alexander Hoffmann, der Anwalt von Ahmed I.,
verweist in seinem Plädoyer aber auf ein bei E. gefundenes Messer mit
teilweisen DNA-Spuren von Ahmed I., einen früheren Messerangriff auf einen
türkischen Imam, der auch hinterrücks erfolgte und auf die von Stephan E.
selbst geschilderte Wut über die Kölner Silvesternacht am damaligen Tattag.
Er selbst hatte den Ermittlern damals berichtet, an dem Tag einen
„Ausländer“ bedroht zu haben.
„Wenn der Senat seine Arbeit ernst meint, muss er auch diese Tat
verurteilen“, fordert Hoffmann. Und er wirft den Ermittler institutionellen
Rassismus vor: Statt mit Empathie seien diese Ahmed I. mit Vorurteilen
gegenübergetreten. Auch der 27-Jährige tritt noch einmal kurz ans Mikrofon,
bedankt sich beim Senat für die Prozessführung. „Ich hoffe, dass die
Gerechtigkeit siegt und die Verbrecher bestraft werden.“
12 Jan 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Konrad Litschko
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