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# taz.de -- Prozess um den Mord an Walter Lübcke: Kampf um die Wahrheit
> Seit Monaten kommt Irmgard Braun-Lübcke in den Saal 165. Sie hofft auf
> ein hartes Urteil gegen die Mörder ihres Mannes – und könnte enttäuscht
> werden.
Bild: Irmgard Braun-Lübcke in Begleitung ihrer Söhne betritt den Gerichtssaal…
Seit Monaten sitzen sie nur wenige Meter voneinander entfernt, blicken sich
direkt an, über Stunden. Im Saal 165 des Oberlandesgerichts Frankfurt am
Main. Links des Vorsitzenden Richters Thomas Sagebiel ist der Platz von
Irmgard Braun-Lübcke, neben sich ihre beiden Söhne Christoph und
Jan-Hendrik. Und rechts, von den Lübckes nur durch die Anklagebank
getrennt, sitzt Stephan Ernst.
Es ist der Mann, der Walter Lübcke, den Ehemann von Irmgard Braun-Lübcke,
den Vater von Christoph und Jan-Hendrik, auf einer Bürgerversammlung
beschimpfte, weil er für Geflüchtete eintrat. Der das Haus der Lübckes im
kleinen Istha bei Kassel über Jahre hinweg ausspähte. Und der in der Nacht
vom 1. Juni 2019 auf die Terrasse trat und Walter Lübcke, der dort rauchend
und in sein Tablet vertieft saß, tötete. Mit einem Kopfschuss, von der
Seite, aus gut einem Meter Entfernung.
Man sieht Irmgard Braun-Lübcke und ihren Söhnen die Belastung an, die ihnen
diese Tage im Gerichtssaal bereiten. Wie sie jedes Mal, dunkel gekleidet,
hintereinander langsam in den Saal schreiten, einer Prozession gleich. Wie
sie sich mit versteinerten Gesichtern Notizen machen. Wie sie in den Pausen
stumm und kerzengerade hinter ihren Stühlen stehen und sich an den Lehnen
festhalten. Wie sie sich bei ihren Zeugenaussagen zusammennahmen, um
möglichst präzise zu antworten, und doch mit den Tränen ringen.
Und wie sie immer wieder Stephan Ernst fixieren, den [1][Hauptangeklagten].
Fast keinen der 44 Prozesstage hat die Familie verpasst. Einmal muss sie
nun noch in den Saal. Am Donnerstag, wenn das Urteil fällt, über Stephan
Ernst, einen 47-jährigen Rechtsextremisten aus Kassel, und über einen
zweiten Angeklagten, der mit im Saal sitzt, Markus H. Ein Tag, der für die
Familie zu einer bitteren Enttäuschung werden könnte.
## Seit Juni 2020 läuft der Prozess
Seit Juni 2020 wurde in dem Gericht gegen Stephan Ernst und Markus H.
verhandelt. In einem holzvertäfelten Saal mit getrübten Fenstern und hoher
Decke, die Zuschauer hinter einer Glaswand, auf der Empore die Presse. 53
Zeugen und neun Sachverständige wurden befragt. Und dennoch ist am Ende so
wenig klar wie selten in einem Strafprozess. Geht es nach den Verteidigern
von Stephan Ernst, war der Tod Lübckes nicht einmal ein Mord. Sie
[2][plädieren auf Totschlag]. Das wird wohl nicht verfangen.
Aber es gibt andere ungeklärte Fragen, trotz der 44 Prozesstage: Schoss
Stephan Ernst wirklich allein? Gibt es Mitwisser? Verübte Ernst noch mehr
Taten? Und, über den Prozess hinaus: Hat die Gesellschaft ausreichend
reagiert?
Im Saal 165 ist die größte offene Frage: Welche Rolle spielte der zweite
Angeklagte, [3][Markus H].? Ein beleibter, alleinstehender Leiharbeiter,
auch er ein Rechtsextremist. Er lernte Stephan Ernst schon vor zwanzig
Jahren in der Kasseler Kameradschaftsszene kennen, traf ihn 2011 auf der
Arbeit wieder, bei einem Kasseler Bahntechnikhersteller. Mit Ernst besuchte
H. fortan AfD-Demos und absolvierte Schießübungen, im Schützenverein und im
Wald. Ermittler fanden bei ihm etliche Waffen und reihenweise
NS-Devotionalien, darunter eine Zyklon-B-Dose als Stifthalter.
Anders als Ernst, der blass und mit eingefrorener Miene den Prozess über
sich ergehen lässt, verfolgt Markus H. das Verfahren wie ein Unbeteiligter,
betont selbstsicher, plaudernd mit seinen Verteidigern, zwei Szeneanwälten
– und immer wieder grinsend. Ein Grinsen, das Irmgard Braun-Lübcke in ihrer
Zeugenaussage „verletzend“ nennt. „Nicht nur für uns, für alle hier.“
## Wie schuldig ist Markus H.?
Die Sache ist nur: Bei Stephan Ernst ist klar, dass er an der Tötung von
Walter Lübcke beteiligt war. Seine DNA-Spur fand sich auf dem Hemd von
Lübcke und an der Tatwaffe, einem Rossi-Revolver. Er hat die [4][Tat
gestanden]. Von Markus H. aber gibt es keine DNA-Spur, keine handfesten
Beweise für seine Anwesenheit am Tatort. Und der 44-Jährige schweigt
beharrlich.
Die Anklage glaubt, dass Markus H. seinen früheren Kumpel immerhin in
seinem Mordplan bestärkte, mit den Schießübungen und Demobesuchen. Das
Gericht glaubt nicht mal mehr das: Es entlässt H. schon im Oktober aus der
Untersuchungshaft. Es gebe keinen dringenden Tatverdacht mehr.
Die Lübckes aber glauben, dass Markus H. mit auf ihrer Terrasse stand, als
Walter Lübcke erschossen wurde. Dass auch er ein Mörder ist.
Es ist die Version, die Stephan Ernst erzählt, inzwischen jedenfalls. Alles
habe am 14. Oktober 2015 begonnen, auf einer [5][Bürgerversammlung in
Kassel-Lohfelden. Walter Lübcke] informierte dort über die Eröffnung einer
Asylunterkunft, Ernst und Markus H. saßen hinten im Saal. Als Pöbler den
CDU-Politiker wiederholt störten, entgegnete der: „Es lohnt sich, in
unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten, und wer diese
Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen.“ Ernst
schrie dazwischen: „Ich glaub’s nicht! Verschwinde!“ Und Markus H. filmte,
stellt den Ausschnitt noch am Abend ins Netz, mit dem Verweis: „Politiker
ohne Maske“. Das Video löste wüste Hasspostings gegen Lübcke aus.
Stephan Ernst, so sagt er es im Prozess, ließ dieser Abend nicht mehr los.
Über Jahre habe er sich in einen Hass auf Lübcke hineingesteigert, immer
wenn die Asyldebatte wieder hochkochte. Zur Kölner Silvesternacht, beim
Anschlag von Nizza, bei der Ermordung zweier Däninnen durch Islamisten in
Marokko. Schließlich habe er das Haus der Lübckes in Istha ausgespäht, mal
alleine, mal mit Markus H., auch mal mit Wärmebildkamera. Und dann seien
sie zu zweit am 1. Juni 2019 auf die Terrasse getreten.
Markus H. sei von vorne gekommen, er selbst von der Seite. „Zeit zum
Auswandern“, habe H. gesagt. Lübcke habe sich aufrichten wollen, Ernst ihn
zurück auf den Gartenstuhl gedrückt. Daher die DNA-Spur. Ernst will
gezischt haben: „Für so was wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten.“ Lübcke
habe noch geantwortet: „Verschwinden Sie!“ Dann habe Ernst abgedrückt.
Stephan Ernst schildert diesen Ablauf erst über eine Erklärung seines
Verteidigers, dann spricht er selbst, monoton und gedrückt. Es ist kaum zu
durchdringen, welche Gefühle er dabei wirklich hat. Und immer wieder
belastet er Markus H. Dieser habe ihn „aufgehetzt“, immer wieder Waffen ins
Spiel gebracht, vor einem Bürgerkrieg gewarnt, zum Schießen auch einmal
eine Zielscheibe mit dem Bild Angela Merkels mitgebracht. Und er habe
erklärt, Lübcke sie jemand, an den man rankomme.
Markus H. reagiert kühl auf die Aussagen. Seinen früheren Freund würdigt er
keines Blickes. Aus den Kameraden sind Feinde geworden. Ernst aber
beteuert, den Mord zu bereuen. „Es tut mir leid“, schluchzt er. Und sein
Verteidiger verspricht der Familie, dass Ernst auf Lebenszeit ihre Fragen
zur Tat beantworten werde. „Das gilt unbefristet und unwiderruflich.“
## Die drei Versionen des Hauptangeklagten
Das Problem ist nur: Es gibt noch [6][zwei weitere Versionen] von Ernst zu
dem tödlichen Schuss. Die erste schildert er kurz nach seiner Festnahme,
zwei Wochen nach der Tat. Damals sagt er den Ermittlern, er allein habe den
CDU-Politiker erschossen. Dann aber wechselt Ernst den Anwalt, lässt sich
nun von dem Pegida-nahen Frank Hannig vertreten und zieht das Geständnis
zurück. Jetzt behauptet er: Markus H. habe geschossen. Man sei zu zweit vor
Ort gewesen, der Schuss habe sich „versehentlich“ gelöst. Bis Ernst sich im
Prozess von Hannig abwendet – und seine Version Nummer drei präsentiert:
die mit mit beiden Männern am Tatort, aber ihm als Schützen. Zurück bleibt
die Frage: Welche dieser Versionen stimmt?
Schon vor Prozessbeginn erklärt die Familie Lübcke, sie wolle die volle
Wahrheit, vor allem über die letzten Sekunden ihres Mannes und Vaters. Und
eine „gerechte Strafe“ für diejenigen, die Walter Lübcke „auf dem Gewis…
hätten. Im Gerichtssaal appelliert Irmgard Braun-Lübcke an die beiden
Angeklagten, Aussagen zu machen. „Helfen Sie wenigstens so!“ Auch der
Richter Thomas Sagebiel sagt: „Hören Sie nicht auf Ihre Anwälte, hören Sie
auf mich!“ Eine Aussage sei „Ihre beste Chance, vielleicht Ihre einzige
Chance“.
Aber Markus H. bricht auch danach sein Schweigen nicht. Stephan Ernst
jedoch sagt aus. Nur ist es nicht klar, ob man ihm auch glauben kann. Denn
von seinen drei Geständnissen sind zwei offensichtlich frei erfunden. Und
auch nach früheren Taten gab er sich vor Gericht reuig – und schlug danach
weiter zu.
Schon als 16-Jähriger hatte er versucht, ein von Migranten bewohntes Haus
in Brand zu setzen. Später stach er einen türkischen Imam nieder, zündete
eine Rohrbombe in einem Auto vor einer Asylunterkunft – und wanderte ins
Gefängnis. Auch danach mischte Ernst weiter bei der NPD und Kasseler
Kameradschaften mit – wo er Markus H. traf. Erst 2009 will sich Ernst
zurückgezogen haben, in ein Haus mit Spitzgiebel in Kassel-Lohfelden, sich
besinnend auf seine Frau und seine zwei kleinen Kinder.
Aber den Ausstieg hat es nie gegeben. Ernst besuchte auch danach noch eine
rechtsextreme Sonnenwendfeier und spätestens ab 2016 AfD-Demos oder einen
rechten Großaufmarsch in Chemnitz. Und schließlich, im Oktober 2015, die
Bürgerversammlung von Walter Lübcke in Lohfelden.
Irmgard Braun-Lübcke und ihre Söhne lassen im Prozess keinen Zweifel daran,
dass sie den damaligen Auftritt ihres Mannes und Vaters bewundern. Walter
Lübcke sei seinem christlichen Menschenbild gefolgt, sagt seine Witwe. Es
sei für ihn selbstverständlich gewesen, geflüchteten Menschen zu helfen.
Auch Jan-Hendrik, der jüngere der Söhne, der seinen sterbenden Vater als
Erster auf der Terrasse fand, betont, sein Vater habe „Werte hochgehalten“.
Wo dieser aber sonst immer lebensmunter und unbesorgt auftrat, sei er nun
erstmals beunruhigt gewesen über den Hass, habe politische Rückendeckung
vermisst.
Im Prozess erzählte die Familie, dass sie nach dem Mord ganz bewusst nicht
aus Istha weggezogen sei. Um nicht nachzugeben. Sie lebt weiter im gleichen
Haus, die Witwe im Erdgeschoss, Jan-Hendrik mit seiner Familie oben. Die
Söhne gehen ihrer Arbeit in einer Solarfirma nach. Die Mutter ist
pensionierte Lehrerin. Und doch ist alles anders. „Das Haus ist nicht mehr
das Haus. Das Leben ist nicht mehr das Leben“, sagt Irmgard Braun-Lübcke,
die 40 Jahre mit ihrem Mann verheiratet war. „Er fehlt uns unendlich.“
Jan-Hendrik sagt, der Mord habe die Familie „innerlich zerrissen“. „Wir
werden niemals damit fertig werden, was unserem Vater angetan wurde.“ Es
sind diese Momente, in denen die Contenance der Familie vor Gericht bricht.
Ihr Anwalt Holger Matt hakt immer wieder bei Stephan Ernst nach. Wie genau
liefen die Ausspähungen? Wann war Markus H. dabei? Wann entschieden die
Männer, dass Walter Lübcke sterben müsse? Wie sahen die letzten Sekunden
auf der Terrasse aus? Stephan Ernst antwortet auf jede Frage, beteuert, nun
„die volle Wahrheit“ zu sagen. Am Ende wendet sich Irmgard Braun-Lübcke
selbst an ihn: „Ist es wirklich wahr, dass mein Mann in der letzten Sekunde
seines Lebens in das Gesicht von Markus H. geschaut hat?“ Ernst zögert
nicht: „Ja.“ – „Wirklich?“ – „Ja.“
Die RichterInnen aber glauben das nicht. Als sie Markus H. im Oktober aus
der Untersuchungshaft entlassen, tun sie die Schilderungen von Ernst zur
Tatbeteiligung von H. als „äußerst detailarm“, widersprüchlich und „ni…
glaubhaft“ ab.
Auch die Bundesanwaltschaft hält in ihrem Plädoyer eine Anwesenheit von
Markus H. am Tatort für nicht nachweisbar. Es bleibe bei der psychischen
Beihilfe. Die Forderung: neun Jahre und acht Monate Haft. Und für Stephan
Ernst die Höchststrafe, lebenslange Haft mit anschließender
Sicherungsverwahrung.
## Der Kampf von Familie Lübcke
Aber die Lübckes kämpfen dafür, dass beide Männer als Mörder verurteilt
werden, dass beide lebenslange Haft bekommen. Die Familie macht klar, dass
sie Ernst inzwischen glaubt. Je länger und freier dieser im Prozess
ausgesagt habe, desto glaubwürdiger wurde, dass es wirklich beide Männer am
Tatort waren, sagt Matt. „Wir glauben, dass Herr Ernst uns die Wahrheit
gesagt hat.“ Ein Strafprozess, in dem die Opfer mit Vehemenz für die
Glaubwürdigkeit des Täters eintreten – auch das ist selten.
Immer wieder hat Matt Anträge gestellt, um eine Doppeltäterschaft
nachzuweisen. Das Gericht sollte die Handakte von Ex-Verteidiger Hannig
beschlagnahmen, es sollte nach weiteren DNA- und Schmauchspuren auf
Terrassenmöbeln suchen. Die Familie ließ im September sogar die beiden
Verteidiger von Ernst, Mustafa Kaplan und Jörg Hardies, zu sich auf die
Terrasse, damit diese den Tatort angucken können.
Und Matt listet im Prozess 30 Indizien auf, die nach Sicht der Familie
dafür sprechen, dass Markus H. direkt in den Mord involviert war. Er habe
die Waffen ins Spiel gebracht, Christoph Lübcke habe ihn bei einer
Ausspähung erkannt, H. habe nach der Tat sofort seine Threema-Nachrichten
mit Ernst gelöscht. Auch habe Ernsts Frau in der Tatnacht zwei Autos vor
ihrem Haus vorfahren hören. Und bei Markus H. fand sich ein Buch, in dem
Lübcke auftauchte, orange angemarkert. „Alles Zufall?“, fragt Matt. „Nei…
Die Verteidiger von Markus H. kritisieren in ihrem Plädoyer das „herzliche
Einvernehmen“ der Hinterbliebenen mit dem Täter, legen gar nahe, diese
litten an einem „Stockholm-Syndrom“. Gemeinsam werde versucht, Markus H.
mit in den Mord hineinzuziehen. Alles, was vorliege, seien aber „bloße
Behauptungen“ ohne Substanz. Stephan Ernst sei ein notorischer Lügner und
seit jeher ein gewalttätiger Rechtsextremist – eine Radikalisierung von
außen habe es gar nicht gebraucht. Er habe den Mord allein geplant und
ausgeführt. Die Anwälte fordern einen Freispruch für ihren Mandanten – und
eine Haftentschädigung. Markus H. erhebt da, ganz am Ende, doch noch einmal
kurz das Wort. „Nicht alles, was hier gesagt wurde, hat zur Aufklärung
beigetragen“, sagt er knapp. Dann schweigt er wieder.
Es könnte sein, dass Markus H. damit durchkommt. Hätte das Gericht vor, ihn
zu einer langjährigen Haftstrafe zu verurteilen, müsste es ihn eigentlich
wieder in Untersuchungshaft nehmen. Wollte es ihn gar als Mitmörder
verurteilen, bräuchte es zuvor einen rechtlichen Hinweis. Beides ist bisher
nicht erfolgt. Einzig für einen Waffenverstoß könnte Markus H. verurteilt
werden, weil er eine „Dekowaffe“, eine Maschinenpistole, nicht ausreichend
schussunfähig gemacht hatte – eine Lappalie. Gut möglich, dass der Neonazi
auch am Urteilstag wieder einmal grinsen wird. Für die Familie Lübcke wäre
das eine Demütigung.
Und es könnte noch bitterer werden. Denn Verteidiger Mustafa Kaplan fordert
auch für Stephan Ernst eine milde Strafe: ein „verhältnismäßiges, aber au…
annehmbares Urteil“, ohne besondere Schwere der Schuld, ohne
Sicherungsverwahrung. Dass die Tat kein Mord, sondern Totschlag sein soll,
begründet Kaplan mit vermeintlich fehlenden Mordmerkmalen. Zum einen fehle
es an Heimtücke, da Ernst und Markus H. Lübcke auf der Terrasse offen
entgegengetreten seien. Zum anderen lägen auch keine niederen Beweggründe
vor, da Ernst sich vor der Tat in einer „rechtspopulistischen Blase“ bewegt
habe und deshalb fälschlich dachte, er handele im Allgemeininteresse.
Zumindest Letzterem wird das Gericht wohl nicht folgen: Das Töten aus
politischen Motiven zählt fast immer als niederer Beweggrund.
Aber Kaplan erinnert Richter Sagebiel auch an seinen Appell zu
Prozessbeginn: dass sich ein Geständnis lohnen werde. Und Stephan Ernst
habe ja letztlich umfassend ausgesagt, sogar seine Verteidiger partiell von
der Schweigepflicht entbunden. Er bereue die Tat, wolle den
Rechtsextremismus mithilfe eines Aussteigerprogramms hinter sich lassen.
„Alles, was Herr Ernst hätte machen können, hat er gemacht. Mehr geht
nicht.“ Kaplans Appell: „Es braucht ein Signal, dass es sich am Ende lohnt,
auszusagen.“
Dabei ist nicht mal klar, ob es nicht sogar noch weitere Mitwisser gibt.
Denn auch ein anderer Bekannter löschte nach dem Mord all seine
Threema-Chats mit Stephan E: Alexander S., einst bei der NPD und den Freien
Kräften Schwalm-Eder aktiv. Auch er absolvierte Schießtrainings, stand am
Tattag noch mit Markus H. in Kontakt. Vor Gericht aber wiegelte Alexander
S. ab: Vom Mord habe er nichts gewusst, in den Chats sei es nur um das
Drechseln eines Bauteils gegangen.
Oder Jens L., ein Arbeitskollege von Stephan E., der ihm Waffen abkaufte
und Schmiere gestanden haben soll, als E. den Tatrevolver samt anderer
Waffen auf dem Firmengelände vergrub. Auch Jens L. stritt das vor Gericht
ab. Die Waffen will er nur als „Wertanlage“ erworben zu haben. Irmgard
Braun-Lübcke hakte auch hierzu bei Stephan Ernst nach: Gab es weitere
Mitwisser, außer Markus H.? Ernst verneinte: „Es gab keine andere Person.“
Aber auch hier: Kann man ihm glauben?
## Ungeklärt: Der Angriff auf Ahmed I.
Offen bleibt auch, ob Ernst nicht noch weitere Taten begangen hat. Denn es
gibt ein zweites Opfer, das im Saal 165 sitzt: [7][Ahmed I.], ein
27-jähriger Musiker aus dem Irak, 2015 nach Deutschland geflohen. Ihn soll
Stephan E. bereits am 6. Januar 2016 in Kassel [8][von hinten mit einem
Messer niedergestochen] haben, aus Wut über Berichte von der Kölner
Silvesternacht.
„Mein Leben wurde hier zerstört“, sagt Ahmed I. im Prozess, ein gepflegter
Mann mit gedämpfter Stimme. Er leide bis heute unter Rückenschmerzen, ein
Bein sei taub, manchmal könne er bis in die Morgenstunden nicht schlafen.
Und Ahmed I. erinnert sich, dass er die Ermittler früh auf ein mögliches
rassistisches Motiv hinwies. Die standen damals tatsächlich vor der Tür von
Ernst, mehr aber folgte nicht. Erst nach dem Mord an Walter Lübcke hatten
sie auf Ahmed I.s Bitte hin das Haus von Ernst noch einmal durchsucht – und
ein Messer mit DNA-Fragmenten von Ahmed I. im Keller gefunden.
Aber die Sache ist nicht ganz klar. Die DNA-Spur ist nicht eindeutig
identifizierbar, Ernst bestreitet die Tat, seine Anwälte fordern hier einen
Freispruch. Alexander Hoffmann, Anwalt von Ahmed I., hält die DNA am
Messer dagegen für ein schwerwiegendes Indiz, er verweist auf Ernsts
früheren Messerangriff auf den Imam, eine Blaupause. Und er erinnert, wie
Ernst selbst den Ermittlern erzählt hatte, just am 6. Januar 2016 einem
„Ausländer“ in Kassel gedroht zu haben, man müsse ihm den Hals
aufschneiden.
Richter Sagebiel sagt aber auch hier zuletzt, man sehe den Anklagepunkt
„kritisch“. Ahmed I. trat auch deshalb am Ende noch einmal selbst ans
Mikrofon, bedankte sich vor allem bei der Bundesanwaltschaft, die ebenfalls
eine Verurteilung für den Messerangriff fordert. „Das Urteil ist mir
wichtig“, stellte er klar. „Ich hoffe, dass die Gerechtigkeit siegt und die
Verbrecher bestraft werden.“
Für Ahmed I. und die Lübcke-Familie geht der Kampf inzwischen aber über den
Gerichtssaal hinaus. Der Iraker hat Unterstützer um sich geschart, die sich
gegen Rassismus engagieren. Als Ahmed I. im Prozess seine Aussage macht,
stehen sie mit einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude. Und sein Anwalt
Hoffmann wirft den Ermittlern institutionellen Rassismus vor. Diese seien
dem schwer verletzten Iraker mit Misstrauen begegnet, hätten seine Ängste
nicht ernst genommen, ihn ohne Ankündigung zu Befragungen aufs Revier
geholt, ob er wollte oder nicht. Es ist ein trübes Bild, das Hoffmann vom
Umgang mit Opfern rassistischer Gewalt in diesem Land zeichnet.
Und auch Holger Matt, der Anwalt der Lübckes, sonst sehr zurückgenommen,
wird am Ende noch einmal bitter. Wie stehe es denn heute um den
Rechtsstaat, für den Walter Lübcke eintrat, fragt er in seinem Plädoyer.
Teile der Gesellschaft verfolgten eine „Hasspolitik“, manipulierten die
öffentliche Meinung, nähmen Einzelne ins Visier. „Da fragt man sich: Wo ist
der wehrhafte Staat?“ Die Hasspostings nach Lübckes Auftritt in Lohfelden?
„Irgendwie hat’s keiner gemerkt.“ Zwei Rechtsextreme hantieren ungestört
mit Waffen? „Kein Problem.“ Das Einreihen in Szeneaufmärsche? „Keiner
kriegt’s mit.“
Matt attestiert dem Verfassungsschutz im Fall Lübcke ein
„Komplettversagen“. Aber auch Politik und Gesellschaft trügen eine
Mitschuld. Weil PolitikerInnen wie Erika Steinbach den Hass gegen Lübcke
mit anfeuerten. Weil AfD-Stammtische die Angeklagten bestärkten. Oder
Arbeitskollegen nach der Tat meinten, Lübcke habe es verdient. „Das ist
schrecklich“, sagte Matt. „Wir müssen uns dagegen wehren und deutlich eine
Grenze ziehen.“
Es ist ein Appell, den auch Irmgard Braun-Lübcke, Christoph und Jan-Hendrik
Lübcke schon vor Prozessbeginn an die Öffentlichkeit richteten. Hass und
Ausgrenzung seien Walter Lübcke fremd gewesen, sie dürften in der
Gesellschaft keinen Platz haben, schrieben sie in einer Mitteilung. „Wir
alle, die wir für unsere freiheitliche Demokratie eintreten, dürfen nicht
verstummen, sondern müssen klar Position beziehen.“
Es ist der zweite Kampf der Familie, der größere. Einer, der über das
Urteil am Donnerstag hinausreicht – und doch bereits im Gerichtssaal
beginnt. Als dort im September noch einmal das Video von Walter Lübcke auf
der Bürgerversammlung gezeigt wird, reißt es Jan-Hendrik Lübcke aus der
Beherrschtheit. Spontan greift er zum Mikro: „Ich bin stolz auf meinen
Papa! Alles, was er gesagt hat, hat er richtig gesagt.“
27 Jan 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Konrad Litschko
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Lesestück Recherche und Reportage
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