# taz.de -- Prozess um den Mord an Walter Lübcke: Kampf um die Wahrheit | |
> Seit Monaten kommt Irmgard Braun-Lübcke in den Saal 165. Sie hofft auf | |
> ein hartes Urteil gegen die Mörder ihres Mannes – und könnte enttäuscht | |
> werden. | |
Bild: Irmgard Braun-Lübcke in Begleitung ihrer Söhne betritt den Gerichtssaal… | |
Seit Monaten sitzen sie nur wenige Meter voneinander entfernt, blicken sich | |
direkt an, über Stunden. Im Saal 165 des Oberlandesgerichts Frankfurt am | |
Main. Links des Vorsitzenden Richters Thomas Sagebiel ist der Platz von | |
Irmgard Braun-Lübcke, neben sich ihre beiden Söhne Christoph und | |
Jan-Hendrik. Und rechts, von den Lübckes nur durch die Anklagebank | |
getrennt, sitzt Stephan Ernst. | |
Es ist der Mann, der Walter Lübcke, den Ehemann von Irmgard Braun-Lübcke, | |
den Vater von Christoph und Jan-Hendrik, auf einer Bürgerversammlung | |
beschimpfte, weil er für Geflüchtete eintrat. Der das Haus der Lübckes im | |
kleinen Istha bei Kassel über Jahre hinweg ausspähte. Und der in der Nacht | |
vom 1. Juni 2019 auf die Terrasse trat und Walter Lübcke, der dort rauchend | |
und in sein Tablet vertieft saß, tötete. Mit einem Kopfschuss, von der | |
Seite, aus gut einem Meter Entfernung. | |
Man sieht Irmgard Braun-Lübcke und ihren Söhnen die Belastung an, die ihnen | |
diese Tage im Gerichtssaal bereiten. Wie sie jedes Mal, dunkel gekleidet, | |
hintereinander langsam in den Saal schreiten, einer Prozession gleich. Wie | |
sie sich mit versteinerten Gesichtern Notizen machen. Wie sie in den Pausen | |
stumm und kerzengerade hinter ihren Stühlen stehen und sich an den Lehnen | |
festhalten. Wie sie sich bei ihren Zeugenaussagen zusammennahmen, um | |
möglichst präzise zu antworten, und doch mit den Tränen ringen. | |
Und wie sie immer wieder Stephan Ernst fixieren, den [1][Hauptangeklagten]. | |
Fast keinen der 44 Prozesstage hat die Familie verpasst. Einmal muss sie | |
nun noch in den Saal. Am Donnerstag, wenn das Urteil fällt, über Stephan | |
Ernst, einen 47-jährigen Rechtsextremisten aus Kassel, und über einen | |
zweiten Angeklagten, der mit im Saal sitzt, Markus H. Ein Tag, der für die | |
Familie zu einer bitteren Enttäuschung werden könnte. | |
## Seit Juni 2020 läuft der Prozess | |
Seit Juni 2020 wurde in dem Gericht gegen Stephan Ernst und Markus H. | |
verhandelt. In einem holzvertäfelten Saal mit getrübten Fenstern und hoher | |
Decke, die Zuschauer hinter einer Glaswand, auf der Empore die Presse. 53 | |
Zeugen und neun Sachverständige wurden befragt. Und dennoch ist am Ende so | |
wenig klar wie selten in einem Strafprozess. Geht es nach den Verteidigern | |
von Stephan Ernst, war der Tod Lübckes nicht einmal ein Mord. Sie | |
[2][plädieren auf Totschlag]. Das wird wohl nicht verfangen. | |
Aber es gibt andere ungeklärte Fragen, trotz der 44 Prozesstage: Schoss | |
Stephan Ernst wirklich allein? Gibt es Mitwisser? Verübte Ernst noch mehr | |
Taten? Und, über den Prozess hinaus: Hat die Gesellschaft ausreichend | |
reagiert? | |
Im Saal 165 ist die größte offene Frage: Welche Rolle spielte der zweite | |
Angeklagte, [3][Markus H].? Ein beleibter, alleinstehender Leiharbeiter, | |
auch er ein Rechtsextremist. Er lernte Stephan Ernst schon vor zwanzig | |
Jahren in der Kasseler Kameradschaftsszene kennen, traf ihn 2011 auf der | |
Arbeit wieder, bei einem Kasseler Bahntechnikhersteller. Mit Ernst besuchte | |
H. fortan AfD-Demos und absolvierte Schießübungen, im Schützenverein und im | |
Wald. Ermittler fanden bei ihm etliche Waffen und reihenweise | |
NS-Devotionalien, darunter eine Zyklon-B-Dose als Stifthalter. | |
Anders als Ernst, der blass und mit eingefrorener Miene den Prozess über | |
sich ergehen lässt, verfolgt Markus H. das Verfahren wie ein Unbeteiligter, | |
betont selbstsicher, plaudernd mit seinen Verteidigern, zwei Szeneanwälten | |
– und immer wieder grinsend. Ein Grinsen, das Irmgard Braun-Lübcke in ihrer | |
Zeugenaussage „verletzend“ nennt. „Nicht nur für uns, für alle hier.“ | |
## Wie schuldig ist Markus H.? | |
Die Sache ist nur: Bei Stephan Ernst ist klar, dass er an der Tötung von | |
Walter Lübcke beteiligt war. Seine DNA-Spur fand sich auf dem Hemd von | |
Lübcke und an der Tatwaffe, einem Rossi-Revolver. Er hat die [4][Tat | |
gestanden]. Von Markus H. aber gibt es keine DNA-Spur, keine handfesten | |
Beweise für seine Anwesenheit am Tatort. Und der 44-Jährige schweigt | |
beharrlich. | |
Die Anklage glaubt, dass Markus H. seinen früheren Kumpel immerhin in | |
seinem Mordplan bestärkte, mit den Schießübungen und Demobesuchen. Das | |
Gericht glaubt nicht mal mehr das: Es entlässt H. schon im Oktober aus der | |
Untersuchungshaft. Es gebe keinen dringenden Tatverdacht mehr. | |
Die Lübckes aber glauben, dass Markus H. mit auf ihrer Terrasse stand, als | |
Walter Lübcke erschossen wurde. Dass auch er ein Mörder ist. | |
Es ist die Version, die Stephan Ernst erzählt, inzwischen jedenfalls. Alles | |
habe am 14. Oktober 2015 begonnen, auf einer [5][Bürgerversammlung in | |
Kassel-Lohfelden. Walter Lübcke] informierte dort über die Eröffnung einer | |
Asylunterkunft, Ernst und Markus H. saßen hinten im Saal. Als Pöbler den | |
CDU-Politiker wiederholt störten, entgegnete der: „Es lohnt sich, in | |
unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten, und wer diese | |
Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen.“ Ernst | |
schrie dazwischen: „Ich glaub’s nicht! Verschwinde!“ Und Markus H. filmte, | |
stellt den Ausschnitt noch am Abend ins Netz, mit dem Verweis: „Politiker | |
ohne Maske“. Das Video löste wüste Hasspostings gegen Lübcke aus. | |
Stephan Ernst, so sagt er es im Prozess, ließ dieser Abend nicht mehr los. | |
Über Jahre habe er sich in einen Hass auf Lübcke hineingesteigert, immer | |
wenn die Asyldebatte wieder hochkochte. Zur Kölner Silvesternacht, beim | |
Anschlag von Nizza, bei der Ermordung zweier Däninnen durch Islamisten in | |
Marokko. Schließlich habe er das Haus der Lübckes in Istha ausgespäht, mal | |
alleine, mal mit Markus H., auch mal mit Wärmebildkamera. Und dann seien | |
sie zu zweit am 1. Juni 2019 auf die Terrasse getreten. | |
Markus H. sei von vorne gekommen, er selbst von der Seite. „Zeit zum | |
Auswandern“, habe H. gesagt. Lübcke habe sich aufrichten wollen, Ernst ihn | |
zurück auf den Gartenstuhl gedrückt. Daher die DNA-Spur. Ernst will | |
gezischt haben: „Für so was wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten.“ Lübcke | |
habe noch geantwortet: „Verschwinden Sie!“ Dann habe Ernst abgedrückt. | |
Stephan Ernst schildert diesen Ablauf erst über eine Erklärung seines | |
Verteidigers, dann spricht er selbst, monoton und gedrückt. Es ist kaum zu | |
durchdringen, welche Gefühle er dabei wirklich hat. Und immer wieder | |
belastet er Markus H. Dieser habe ihn „aufgehetzt“, immer wieder Waffen ins | |
Spiel gebracht, vor einem Bürgerkrieg gewarnt, zum Schießen auch einmal | |
eine Zielscheibe mit dem Bild Angela Merkels mitgebracht. Und er habe | |
erklärt, Lübcke sie jemand, an den man rankomme. | |
Markus H. reagiert kühl auf die Aussagen. Seinen früheren Freund würdigt er | |
keines Blickes. Aus den Kameraden sind Feinde geworden. Ernst aber | |
beteuert, den Mord zu bereuen. „Es tut mir leid“, schluchzt er. Und sein | |
Verteidiger verspricht der Familie, dass Ernst auf Lebenszeit ihre Fragen | |
zur Tat beantworten werde. „Das gilt unbefristet und unwiderruflich.“ | |
## Die drei Versionen des Hauptangeklagten | |
Das Problem ist nur: Es gibt noch [6][zwei weitere Versionen] von Ernst zu | |
dem tödlichen Schuss. Die erste schildert er kurz nach seiner Festnahme, | |
zwei Wochen nach der Tat. Damals sagt er den Ermittlern, er allein habe den | |
CDU-Politiker erschossen. Dann aber wechselt Ernst den Anwalt, lässt sich | |
nun von dem Pegida-nahen Frank Hannig vertreten und zieht das Geständnis | |
zurück. Jetzt behauptet er: Markus H. habe geschossen. Man sei zu zweit vor | |
Ort gewesen, der Schuss habe sich „versehentlich“ gelöst. Bis Ernst sich im | |
Prozess von Hannig abwendet – und seine Version Nummer drei präsentiert: | |
die mit mit beiden Männern am Tatort, aber ihm als Schützen. Zurück bleibt | |
die Frage: Welche dieser Versionen stimmt? | |
Schon vor Prozessbeginn erklärt die Familie Lübcke, sie wolle die volle | |
Wahrheit, vor allem über die letzten Sekunden ihres Mannes und Vaters. Und | |
eine „gerechte Strafe“ für diejenigen, die Walter Lübcke „auf dem Gewis… | |
hätten. Im Gerichtssaal appelliert Irmgard Braun-Lübcke an die beiden | |
Angeklagten, Aussagen zu machen. „Helfen Sie wenigstens so!“ Auch der | |
Richter Thomas Sagebiel sagt: „Hören Sie nicht auf Ihre Anwälte, hören Sie | |
auf mich!“ Eine Aussage sei „Ihre beste Chance, vielleicht Ihre einzige | |
Chance“. | |
Aber Markus H. bricht auch danach sein Schweigen nicht. Stephan Ernst | |
jedoch sagt aus. Nur ist es nicht klar, ob man ihm auch glauben kann. Denn | |
von seinen drei Geständnissen sind zwei offensichtlich frei erfunden. Und | |
auch nach früheren Taten gab er sich vor Gericht reuig – und schlug danach | |
weiter zu. | |
Schon als 16-Jähriger hatte er versucht, ein von Migranten bewohntes Haus | |
in Brand zu setzen. Später stach er einen türkischen Imam nieder, zündete | |
eine Rohrbombe in einem Auto vor einer Asylunterkunft – und wanderte ins | |
Gefängnis. Auch danach mischte Ernst weiter bei der NPD und Kasseler | |
Kameradschaften mit – wo er Markus H. traf. Erst 2009 will sich Ernst | |
zurückgezogen haben, in ein Haus mit Spitzgiebel in Kassel-Lohfelden, sich | |
besinnend auf seine Frau und seine zwei kleinen Kinder. | |
Aber den Ausstieg hat es nie gegeben. Ernst besuchte auch danach noch eine | |
rechtsextreme Sonnenwendfeier und spätestens ab 2016 AfD-Demos oder einen | |
rechten Großaufmarsch in Chemnitz. Und schließlich, im Oktober 2015, die | |
Bürgerversammlung von Walter Lübcke in Lohfelden. | |
Irmgard Braun-Lübcke und ihre Söhne lassen im Prozess keinen Zweifel daran, | |
dass sie den damaligen Auftritt ihres Mannes und Vaters bewundern. Walter | |
Lübcke sei seinem christlichen Menschenbild gefolgt, sagt seine Witwe. Es | |
sei für ihn selbstverständlich gewesen, geflüchteten Menschen zu helfen. | |
Auch Jan-Hendrik, der jüngere der Söhne, der seinen sterbenden Vater als | |
Erster auf der Terrasse fand, betont, sein Vater habe „Werte hochgehalten“. | |
Wo dieser aber sonst immer lebensmunter und unbesorgt auftrat, sei er nun | |
erstmals beunruhigt gewesen über den Hass, habe politische Rückendeckung | |
vermisst. | |
Im Prozess erzählte die Familie, dass sie nach dem Mord ganz bewusst nicht | |
aus Istha weggezogen sei. Um nicht nachzugeben. Sie lebt weiter im gleichen | |
Haus, die Witwe im Erdgeschoss, Jan-Hendrik mit seiner Familie oben. Die | |
Söhne gehen ihrer Arbeit in einer Solarfirma nach. Die Mutter ist | |
pensionierte Lehrerin. Und doch ist alles anders. „Das Haus ist nicht mehr | |
das Haus. Das Leben ist nicht mehr das Leben“, sagt Irmgard Braun-Lübcke, | |
die 40 Jahre mit ihrem Mann verheiratet war. „Er fehlt uns unendlich.“ | |
Jan-Hendrik sagt, der Mord habe die Familie „innerlich zerrissen“. „Wir | |
werden niemals damit fertig werden, was unserem Vater angetan wurde.“ Es | |
sind diese Momente, in denen die Contenance der Familie vor Gericht bricht. | |
Ihr Anwalt Holger Matt hakt immer wieder bei Stephan Ernst nach. Wie genau | |
liefen die Ausspähungen? Wann war Markus H. dabei? Wann entschieden die | |
Männer, dass Walter Lübcke sterben müsse? Wie sahen die letzten Sekunden | |
auf der Terrasse aus? Stephan Ernst antwortet auf jede Frage, beteuert, nun | |
„die volle Wahrheit“ zu sagen. Am Ende wendet sich Irmgard Braun-Lübcke | |
selbst an ihn: „Ist es wirklich wahr, dass mein Mann in der letzten Sekunde | |
seines Lebens in das Gesicht von Markus H. geschaut hat?“ Ernst zögert | |
nicht: „Ja.“ – „Wirklich?“ – „Ja.“ | |
Die RichterInnen aber glauben das nicht. Als sie Markus H. im Oktober aus | |
der Untersuchungshaft entlassen, tun sie die Schilderungen von Ernst zur | |
Tatbeteiligung von H. als „äußerst detailarm“, widersprüchlich und „ni… | |
glaubhaft“ ab. | |
Auch die Bundesanwaltschaft hält in ihrem Plädoyer eine Anwesenheit von | |
Markus H. am Tatort für nicht nachweisbar. Es bleibe bei der psychischen | |
Beihilfe. Die Forderung: neun Jahre und acht Monate Haft. Und für Stephan | |
Ernst die Höchststrafe, lebenslange Haft mit anschließender | |
Sicherungsverwahrung. | |
## Der Kampf von Familie Lübcke | |
Aber die Lübckes kämpfen dafür, dass beide Männer als Mörder verurteilt | |
werden, dass beide lebenslange Haft bekommen. Die Familie macht klar, dass | |
sie Ernst inzwischen glaubt. Je länger und freier dieser im Prozess | |
ausgesagt habe, desto glaubwürdiger wurde, dass es wirklich beide Männer am | |
Tatort waren, sagt Matt. „Wir glauben, dass Herr Ernst uns die Wahrheit | |
gesagt hat.“ Ein Strafprozess, in dem die Opfer mit Vehemenz für die | |
Glaubwürdigkeit des Täters eintreten – auch das ist selten. | |
Immer wieder hat Matt Anträge gestellt, um eine Doppeltäterschaft | |
nachzuweisen. Das Gericht sollte die Handakte von Ex-Verteidiger Hannig | |
beschlagnahmen, es sollte nach weiteren DNA- und Schmauchspuren auf | |
Terrassenmöbeln suchen. Die Familie ließ im September sogar die beiden | |
Verteidiger von Ernst, Mustafa Kaplan und Jörg Hardies, zu sich auf die | |
Terrasse, damit diese den Tatort angucken können. | |
Und Matt listet im Prozess 30 Indizien auf, die nach Sicht der Familie | |
dafür sprechen, dass Markus H. direkt in den Mord involviert war. Er habe | |
die Waffen ins Spiel gebracht, Christoph Lübcke habe ihn bei einer | |
Ausspähung erkannt, H. habe nach der Tat sofort seine Threema-Nachrichten | |
mit Ernst gelöscht. Auch habe Ernsts Frau in der Tatnacht zwei Autos vor | |
ihrem Haus vorfahren hören. Und bei Markus H. fand sich ein Buch, in dem | |
Lübcke auftauchte, orange angemarkert. „Alles Zufall?“, fragt Matt. „Nei… | |
Die Verteidiger von Markus H. kritisieren in ihrem Plädoyer das „herzliche | |
Einvernehmen“ der Hinterbliebenen mit dem Täter, legen gar nahe, diese | |
litten an einem „Stockholm-Syndrom“. Gemeinsam werde versucht, Markus H. | |
mit in den Mord hineinzuziehen. Alles, was vorliege, seien aber „bloße | |
Behauptungen“ ohne Substanz. Stephan Ernst sei ein notorischer Lügner und | |
seit jeher ein gewalttätiger Rechtsextremist – eine Radikalisierung von | |
außen habe es gar nicht gebraucht. Er habe den Mord allein geplant und | |
ausgeführt. Die Anwälte fordern einen Freispruch für ihren Mandanten – und | |
eine Haftentschädigung. Markus H. erhebt da, ganz am Ende, doch noch einmal | |
kurz das Wort. „Nicht alles, was hier gesagt wurde, hat zur Aufklärung | |
beigetragen“, sagt er knapp. Dann schweigt er wieder. | |
Es könnte sein, dass Markus H. damit durchkommt. Hätte das Gericht vor, ihn | |
zu einer langjährigen Haftstrafe zu verurteilen, müsste es ihn eigentlich | |
wieder in Untersuchungshaft nehmen. Wollte es ihn gar als Mitmörder | |
verurteilen, bräuchte es zuvor einen rechtlichen Hinweis. Beides ist bisher | |
nicht erfolgt. Einzig für einen Waffenverstoß könnte Markus H. verurteilt | |
werden, weil er eine „Dekowaffe“, eine Maschinenpistole, nicht ausreichend | |
schussunfähig gemacht hatte – eine Lappalie. Gut möglich, dass der Neonazi | |
auch am Urteilstag wieder einmal grinsen wird. Für die Familie Lübcke wäre | |
das eine Demütigung. | |
Und es könnte noch bitterer werden. Denn Verteidiger Mustafa Kaplan fordert | |
auch für Stephan Ernst eine milde Strafe: ein „verhältnismäßiges, aber au… | |
annehmbares Urteil“, ohne besondere Schwere der Schuld, ohne | |
Sicherungsverwahrung. Dass die Tat kein Mord, sondern Totschlag sein soll, | |
begründet Kaplan mit vermeintlich fehlenden Mordmerkmalen. Zum einen fehle | |
es an Heimtücke, da Ernst und Markus H. Lübcke auf der Terrasse offen | |
entgegengetreten seien. Zum anderen lägen auch keine niederen Beweggründe | |
vor, da Ernst sich vor der Tat in einer „rechtspopulistischen Blase“ bewegt | |
habe und deshalb fälschlich dachte, er handele im Allgemeininteresse. | |
Zumindest Letzterem wird das Gericht wohl nicht folgen: Das Töten aus | |
politischen Motiven zählt fast immer als niederer Beweggrund. | |
Aber Kaplan erinnert Richter Sagebiel auch an seinen Appell zu | |
Prozessbeginn: dass sich ein Geständnis lohnen werde. Und Stephan Ernst | |
habe ja letztlich umfassend ausgesagt, sogar seine Verteidiger partiell von | |
der Schweigepflicht entbunden. Er bereue die Tat, wolle den | |
Rechtsextremismus mithilfe eines Aussteigerprogramms hinter sich lassen. | |
„Alles, was Herr Ernst hätte machen können, hat er gemacht. Mehr geht | |
nicht.“ Kaplans Appell: „Es braucht ein Signal, dass es sich am Ende lohnt, | |
auszusagen.“ | |
Dabei ist nicht mal klar, ob es nicht sogar noch weitere Mitwisser gibt. | |
Denn auch ein anderer Bekannter löschte nach dem Mord all seine | |
Threema-Chats mit Stephan E: Alexander S., einst bei der NPD und den Freien | |
Kräften Schwalm-Eder aktiv. Auch er absolvierte Schießtrainings, stand am | |
Tattag noch mit Markus H. in Kontakt. Vor Gericht aber wiegelte Alexander | |
S. ab: Vom Mord habe er nichts gewusst, in den Chats sei es nur um das | |
Drechseln eines Bauteils gegangen. | |
Oder Jens L., ein Arbeitskollege von Stephan E., der ihm Waffen abkaufte | |
und Schmiere gestanden haben soll, als E. den Tatrevolver samt anderer | |
Waffen auf dem Firmengelände vergrub. Auch Jens L. stritt das vor Gericht | |
ab. Die Waffen will er nur als „Wertanlage“ erworben zu haben. Irmgard | |
Braun-Lübcke hakte auch hierzu bei Stephan Ernst nach: Gab es weitere | |
Mitwisser, außer Markus H.? Ernst verneinte: „Es gab keine andere Person.“ | |
Aber auch hier: Kann man ihm glauben? | |
## Ungeklärt: Der Angriff auf Ahmed I. | |
Offen bleibt auch, ob Ernst nicht noch weitere Taten begangen hat. Denn es | |
gibt ein zweites Opfer, das im Saal 165 sitzt: [7][Ahmed I.], ein | |
27-jähriger Musiker aus dem Irak, 2015 nach Deutschland geflohen. Ihn soll | |
Stephan E. bereits am 6. Januar 2016 in Kassel [8][von hinten mit einem | |
Messer niedergestochen] haben, aus Wut über Berichte von der Kölner | |
Silvesternacht. | |
„Mein Leben wurde hier zerstört“, sagt Ahmed I. im Prozess, ein gepflegter | |
Mann mit gedämpfter Stimme. Er leide bis heute unter Rückenschmerzen, ein | |
Bein sei taub, manchmal könne er bis in die Morgenstunden nicht schlafen. | |
Und Ahmed I. erinnert sich, dass er die Ermittler früh auf ein mögliches | |
rassistisches Motiv hinwies. Die standen damals tatsächlich vor der Tür von | |
Ernst, mehr aber folgte nicht. Erst nach dem Mord an Walter Lübcke hatten | |
sie auf Ahmed I.s Bitte hin das Haus von Ernst noch einmal durchsucht – und | |
ein Messer mit DNA-Fragmenten von Ahmed I. im Keller gefunden. | |
Aber die Sache ist nicht ganz klar. Die DNA-Spur ist nicht eindeutig | |
identifizierbar, Ernst bestreitet die Tat, seine Anwälte fordern hier einen | |
Freispruch. Alexander Hoffmann, Anwalt von Ahmed I., hält die DNA am | |
Messer dagegen für ein schwerwiegendes Indiz, er verweist auf Ernsts | |
früheren Messerangriff auf den Imam, eine Blaupause. Und er erinnert, wie | |
Ernst selbst den Ermittlern erzählt hatte, just am 6. Januar 2016 einem | |
„Ausländer“ in Kassel gedroht zu haben, man müsse ihm den Hals | |
aufschneiden. | |
Richter Sagebiel sagt aber auch hier zuletzt, man sehe den Anklagepunkt | |
„kritisch“. Ahmed I. trat auch deshalb am Ende noch einmal selbst ans | |
Mikrofon, bedankte sich vor allem bei der Bundesanwaltschaft, die ebenfalls | |
eine Verurteilung für den Messerangriff fordert. „Das Urteil ist mir | |
wichtig“, stellte er klar. „Ich hoffe, dass die Gerechtigkeit siegt und die | |
Verbrecher bestraft werden.“ | |
Für Ahmed I. und die Lübcke-Familie geht der Kampf inzwischen aber über den | |
Gerichtssaal hinaus. Der Iraker hat Unterstützer um sich geschart, die sich | |
gegen Rassismus engagieren. Als Ahmed I. im Prozess seine Aussage macht, | |
stehen sie mit einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude. Und sein Anwalt | |
Hoffmann wirft den Ermittlern institutionellen Rassismus vor. Diese seien | |
dem schwer verletzten Iraker mit Misstrauen begegnet, hätten seine Ängste | |
nicht ernst genommen, ihn ohne Ankündigung zu Befragungen aufs Revier | |
geholt, ob er wollte oder nicht. Es ist ein trübes Bild, das Hoffmann vom | |
Umgang mit Opfern rassistischer Gewalt in diesem Land zeichnet. | |
Und auch Holger Matt, der Anwalt der Lübckes, sonst sehr zurückgenommen, | |
wird am Ende noch einmal bitter. Wie stehe es denn heute um den | |
Rechtsstaat, für den Walter Lübcke eintrat, fragt er in seinem Plädoyer. | |
Teile der Gesellschaft verfolgten eine „Hasspolitik“, manipulierten die | |
öffentliche Meinung, nähmen Einzelne ins Visier. „Da fragt man sich: Wo ist | |
der wehrhafte Staat?“ Die Hasspostings nach Lübckes Auftritt in Lohfelden? | |
„Irgendwie hat’s keiner gemerkt.“ Zwei Rechtsextreme hantieren ungestört | |
mit Waffen? „Kein Problem.“ Das Einreihen in Szeneaufmärsche? „Keiner | |
kriegt’s mit.“ | |
Matt attestiert dem Verfassungsschutz im Fall Lübcke ein | |
„Komplettversagen“. Aber auch Politik und Gesellschaft trügen eine | |
Mitschuld. Weil PolitikerInnen wie Erika Steinbach den Hass gegen Lübcke | |
mit anfeuerten. Weil AfD-Stammtische die Angeklagten bestärkten. Oder | |
Arbeitskollegen nach der Tat meinten, Lübcke habe es verdient. „Das ist | |
schrecklich“, sagte Matt. „Wir müssen uns dagegen wehren und deutlich eine | |
Grenze ziehen.“ | |
Es ist ein Appell, den auch Irmgard Braun-Lübcke, Christoph und Jan-Hendrik | |
Lübcke schon vor Prozessbeginn an die Öffentlichkeit richteten. Hass und | |
Ausgrenzung seien Walter Lübcke fremd gewesen, sie dürften in der | |
Gesellschaft keinen Platz haben, schrieben sie in einer Mitteilung. „Wir | |
alle, die wir für unsere freiheitliche Demokratie eintreten, dürfen nicht | |
verstummen, sondern müssen klar Position beziehen.“ | |
Es ist der zweite Kampf der Familie, der größere. Einer, der über das | |
Urteil am Donnerstag hinausreicht – und doch bereits im Gerichtssaal | |
beginnt. Als dort im September noch einmal das Video von Walter Lübcke auf | |
der Bürgerversammlung gezeigt wird, reißt es Jan-Hendrik Lübcke aus der | |
Beherrschtheit. Spontan greift er zum Mikro: „Ich bin stolz auf meinen | |
Papa! Alles, was er gesagt hat, hat er richtig gesagt.“ | |
27 Jan 2021 | |
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Konrad Litschko | |
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