| # taz.de -- Umgang mit Rassismus: Aus Hanau nichts gelernt | |
| > Selbst nach Hanau und dem NSU haben sich die Sicherheitsbehörden nicht | |
| > konsequent entwickelt. Doch gegen strukturellen Rassismus helfen nur neue | |
| > Strukturen. | |
| Bild: Gedenken an die Opfer auf dem Marktplatz in Hanau | |
| Wir erleben im [1][Gefolge des Anschlags von Hanau] ein regelrechtes | |
| Déjà-vu. Die Angehörigen der Opfer klagen über Verdächtigungen und | |
| unsensible Behandlung, die Aufklärung ist voller Lücken und Unklarheiten, | |
| und die Bekämpfung von Rassismus wirkt alles andere als konsequent. Haben | |
| wir diese Dinge nach dem Bekanntwerden der Mordserie des NSU nicht schon | |
| mal gehört? | |
| Sicher ist es ein Fortschritt – zumal gegenüber den Anschlägen von Mölln | |
| oder Solingen in den 1990er Jahren – dass die Stimmen der Betroffenen eine | |
| große Präsenz haben: Deren Unzufriedenheit und die darüber hinausgehende | |
| Unzufriedenheit vieler „Schwarzköpfe“ mit den ausbleibenden Konsequenzen | |
| ist deutlich spürbar, wenn etwa der Überlebende des Anschlags von Hanau, | |
| Piter Minnemann, von „strukturellem Rassismus“ spricht. Genau diese | |
| Bezeichnung markiert den Unterschied zu den Worten der Kanzlerin, die zwar | |
| keine Ambivalenzen beim Thema zeigt, aber von Rassismus als einem „Gift“ | |
| spricht. Wer hat „uns“ dieses Gift verabreicht? In diesem Bild ist „unser… | |
| Gesellschaft kerngesund, die angebliche Krankheit kommt von außen. | |
| Gehören die Täter von Halle oder Hanau nicht zur Gesellschaft? Haben sie | |
| keine Vorbilder, Gleichgesinnten, Eltern? Bekommen sie nicht Legitimation | |
| von einem Innenminister, der nach rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz | |
| sein Verständnis für die Angreifer äußert und die Migration als „Mutter | |
| aller politischen Probleme“ bezeichnet? | |
| Frantz Fanon hat einmal gesagt, Rassismus komme nicht einfach so vor – eine | |
| Gesellschaft sei entweder rassistisch oder sie sei es nicht. [2][Auch der | |
| Anschlag von Hanau ist nicht unvermittelt geschehen]. Seit 2015 gab es in | |
| Serie Anschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten, die von den | |
| Sicherheitsbehörden zu keinem Zeitpunkt als das betrachtet wurden, was sie | |
| waren: Rechtsterrorismus. In der radikalen und autoritär-populistischen | |
| Rechten grassiert die Idee von dem „großen Austausch“, die besagt, die | |
| abgehobenen Eliten der westlichen Länder würden durch Einwanderung bewusst | |
| eine Veränderung der Bevölkerung herbeiführen. Diese Leute betrachten sich | |
| selbst als Minderheit, und sehen die Gewalt als legitimen Widerstand. | |
| Insofern war klar, dass eine große Gefahr von teilweise auch psychisch | |
| belasteten Personen ausgeht, die sich nach dem Vorbild etwa von Anders | |
| Breivik ideologisch bewaffnen und dann losschlagen. Beim Islamismus haben | |
| sich die Behörden auf dieses Szenario eingerichtet und so Anschläge | |
| verhindert – warum also hier nicht?. | |
| ## Märchen von der Ausländerkriminalität | |
| Und was ist in und nach Hanau passiert? Aus den Berichten der Angehörigen | |
| geht hervor, dass die Polizeibehörden aus den zahlreichen NSU-Berichten | |
| nicht die geringste Konsequenz gezogen haben. Die erste Annahme am Tatort | |
| war, es handele sich um eine Art Showdown im Rahmen von „organisierter | |
| Ausländerkriminalität“. Das passte auch zu den vorangehenden, bundesweit | |
| und regelmäßig stattfindenden Razzien in Shisha-Bars, die nach eigenen | |
| Aussagen der Polizei ohnehin nur dazu dienten, das subjektive | |
| Sicherheitsempfinden „der Bevölkerung“ zu stärken. Der Verfassungsschutz | |
| hat erst seit zwei Jahren einen Präsidenten, der nicht mit der AfD | |
| sympathisiert: In Sachen Rechtsterrorismus hinkt die Einrichtung immer noch | |
| gnadenlos hinterher. | |
| Die Sicherheitsbehörden haben weder im Gefolge von NSU noch von Hanau eine | |
| konsequente Organisationsentwicklung durchlaufen, um sich auf die Vielheit | |
| der Gesellschaft einzustellen. Es wird nicht einmal verstanden, dass | |
| „Profiling“ nach Hautfarbe oder ethnischen Kriterien nicht nur falsch, | |
| sondern auch für die eigene Arbeit völlig kontraproduktiv ist. | |
| Immerhin hat es einen Kabinettsausschuss zu Rassismus gegeben – könnte man | |
| erwidern – und der hat ja auch Maßnahmen vorgestellt. Der im November 2020 | |
| veröffentlichte „Katalog“ ist allerdings ein Witz. Die 89 Punkte klingen | |
| nach viel, sind aber nur eine Auflistung von kaum zusammenhängenden | |
| Einzelvorhaben, Dabei wird sogar die „Stärkung von Integrationsmaßnahmen | |
| mit Sportbezug“ als Rassismusbekämpfung verkauft. Solche Listen sind so | |
| bekannt wie ihre notorische Unwirksamkeit. | |
| ## Geld ist da, Konzepte aber nicht | |
| Anstatt allerlei zeitlich befristete Maßnahmen anzustoßen, in denen sich | |
| wieder aktive Leute schlecht bezahlt aufreiben, sollte es um eine | |
| begrifflich durchdachte, systematische und langfristige Strategie gehen. | |
| Das würde „Vielheitspläne“ ebenso beinhalten wie das „Mainstreamen“ v… | |
| Gesetzestexten im Hinblick auf rassistische Effekte; die Realisierung von | |
| Chancengleichheit im Bildungsbetrieb so wie die Weiterentwicklung des | |
| Gleichbehandlungs-Gesetzes zu einem wirksamen Werkzeug. Wenn Rassismus | |
| „strukturell“ ist, dann müssen auch Strukturen verändert oder neu | |
| geschaffen werden. | |
| Das Geld dafür ist ja da – es wird nur unwirksam ausgegeben. 13-mal taucht | |
| in dem Maßnahmenkatalog das Wort Forschung auf. Aber was soll die Forschung | |
| belegen, was wir noch nicht wissen? Gibt es nicht seit Jahrzehnten eine | |
| Rassismusforschung hierzulande und zahllose Berichte zum Thema, die gar | |
| nicht zur Kenntnis genommen werden? Mittlerweile existiert eine ganze | |
| Industrie von Trainings und Beratungen gegen Rassismus, die vor allem | |
| lehren, welche Sprache die richtige ist. | |
| Das ist letztlich eine neue Mittelschichtsgymnastik, die am Ende dazu | |
| führt, dass vor allem die Gebildeten „achtsam“ sind, während sie | |
| gleichzeitig ihre Kinder vor „Problemschulen“ bewahren, um Shisha-Bars | |
| einen großen Bogen machen oder dem Fensterputzer arabischer Herkunft in der | |
| eigenen Wohnung nicht von der Seite weichen. Fanon hatte ganz recht, | |
| Rassismus ist eins der großen Ungleichheitsverhältnisse der Moderne. | |
| Symbolpolitik, Sozialtechnologie und die Vermeidung des N-Worts sind sicher | |
| nicht genug. | |
| 18 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mark Terkessidis | |
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