# taz.de -- Morde durch Rechtsextreme: Auf dem rechten Auge blind | |
> Aktivisten und Journalisten aus Erfurt erinnern an Mordopfer rechter | |
> Gewalt. Sie wollen so die Kontinuität rechtsextremer Strukturen | |
> aufzeigen. | |
Bild: Opfer von Rechtsradikalen: Graffiti erinnert an Hartmut Balzke, der 2003 … | |
ERFURT taz | Wenn das Wort „Thüringen“ im Zusammenhang mit rechtsextremer | |
Gewalt fällt, denken viele zunächst an den NSU. Doch bereits vor den Morden | |
der Terrorgruppe verübten Neonazis in Thüringen eine Reihe von Gewalttaten. | |
Einige endeten tödlich, viele davon gerieten trotzdem schnell in | |
Vergessenheit. | |
Eine Podcastreihe des Ungleich Magazins, eines jungen Onlinemagazins für | |
lokale Kultur und Politik, will dies nun ändern und die Opfer von | |
[1][rechter Gewalt] aus der Unsichtbarkeit holen. Grundlage für die beiden | |
bisher von Samuel Helsper und Fabian Klaproth produzierten Folgen liefert | |
die Arbeit von „Blinde Flecken Erfurt“, einer zivilgesellschaftlichen | |
Initiative zur Aufarbeitung rechter Gewalt. | |
Die Gründer der „Blinde-Flecken“-Initiative, die Historiker Max | |
Zarnojanczyk und Steven Lange, erfuhren durch ihr Studium an der | |
Universität Erfurt von den Fällen und beschlossen, zunächst auf Instagram | |
darüber aufzuklären und der Opfer zu gedenken. Dazu markieren sie die | |
Tatorte am Todestag mit dem Schriftzug „@blinderfleck“, stellen vor Ort | |
Kerzen auf und veröffentlichen auf der Social-Media-Plattform Fotos und | |
kurze Texte über die Opfer und deren Todesumstände. | |
So wollen Lange und Zarnojanczyk aufzeigen, dass rechte Gewalt nur die | |
Spitze des Eisbergs ist. „Unsere Arbeit soll sichtbar machen, dass | |
Sexismus, Sozialchauvinismus, Nationalismus und Antisemitismus nicht nur | |
eine Haltung der Rechten sind, sondern bis weit in die sogenannte Mitte | |
hineinreichen und dort auch weitestgehend akzeptiert werden“, sagt | |
Zarnojanczyk. | |
## Die Gewalt ist wieder da – oder war nie weg | |
Es gehe dabei auch darum, einen Reflexionsprozess darüber anzuregen, dass | |
sich die Taten der 1990er Jahre auch 30 Jahre später wiederholen – | |
vielleicht nicht in Form der Tötungsdelikte der Baseballschlägerjahre, aber | |
[2][in Form von neuer Gewalt gegen Linke und Migrant*innen.] | |
Eine weitere Motivation von „Blinde Flecken Erfurt“ sei es, Problematiken | |
rechtsmotivierter Gewalt bei Sicherheitskräften und den fehlenden | |
Aufklärungswillen der Polizei und Staatsanwaltschaft aufzudecken. „Mit dem | |
Aufarbeiten von rechter Gewalt der 80er und 90er Jahre in Thüringen | |
betreiben wir auch eine Art Recherche über Rechtsextremismus in der Zeit | |
vor dem NSU – erinnern wie im Fall von Hartmut Balzke aber auch an spätere | |
Fälle“, sagt Lange. | |
Die Fälle der Initiative arbeiten die Journalisten Helsper und Klaproth für | |
die Podcasts des Ungleich Magazins weiter auf. Sie recherchieren, sprechen | |
mit Anwälten, sichten Urteile und versuchen, diese politisch einzuordnen. | |
Die erste Sendung, die sie produzierten, handelt vom Fall des polnischen | |
Gastarbeiters Ireneusz Szyderski. Die zweite Folge behandelt den Tod von | |
Hartmut Balzke. | |
In ihren Features, die unter [3][ungleich-magazin.de/podcast] abrufbar | |
sind, versuchen die beiden Journalisten aufzuzeigen, wieso eine | |
Beschäftigung mit den Fällen auch heute noch wichtig ist. „Es geht um die | |
Kontinuitäten rechtsextremer Strukturen in Thüringen, die auch 28 Jahre | |
nach dem Vorfall fortbestehen“, sagt Klaproth. | |
## Vergessene Schicksale | |
August 1992: Ireneusz Szyderski feiert mit Freunden in einem Discozelt im | |
Erfurter Stadtteil Stotternheim. Kurz vor Verlassen der Party will er noch | |
einmal zur Toilette gehen. Die Freunde warten auf ihn. Drei Ordner, die | |
laut Staatsanwaltschaft Erfurt der rechten Szene angehören, prügeln auf ihn | |
ein. Schwer verletzt legen die Sicherheitsleute den Mann vor dem Zelt ab. | |
Szyderskis Freunde rufen ein Taxi und wollen ihn ins Krankenhaus bringen. | |
Docher stirbt noch auf dem Weg dorthin. Vonseiten der Staatsanwaltschaft | |
heißt es, dass massive Schläge auf Kopf und Rücken zum Tod geführt hätten. | |
Im Gerichtsverfahren spielen die rassistischen Beleidigungen gegen | |
Szyderski kaum eine Rolle. Ein „ausländerfeindliches“ Motiv wird nicht | |
bewiesen. Es wird jedoch angemerkt, dass der Hauptangeklagte, der Chef des | |
Sicherheitspersonals, gut mit „ausländischen Kollegen“ zurechtkomme. Er | |
wird vom Gericht als Einziger zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. | |
Ähnlich gelagert ist der Fall von Hartmut Balzke. Auch dieser wurde Opfer | |
rechter Gewalt, doch sein Schicksal ist einer breiten Öffentlichkeit | |
trotzdem nicht bekannt. | |
## Behandelt wie Opfer zweiter Klasse | |
25. Januar 2003: Balzke begleitet seinen Sohn zu einer Punk-Party in | |
Erfurt. Nach der Party werden sie in der Erfurter Trifftstraße von Neonazi | |
Dirk Q. angegriffen. Beide erleiden schwere Kopfverletzungen. Hartmut | |
Balzke stirbt zwei Tage später im Krankenhaus. Der Täter ist polizeibekannt | |
und unter anderem wegen Zeigen des Hitlergrußes und Körperverletzung | |
vorbestraft. | |
Auch im Fall Balzke will das Gericht keinen rechten Hintergrund erkennen. | |
Beobachter des Prozesses sagen noch heute, man habe Balzke und seinen | |
überlebenden Sohn wie Opfer zweiter Klasse behandelt. | |
Vielfach wurde im Nachgang auch das Vorgehen von Justiz und Polizei | |
kritisiert. So sei bereits die Beweisfeststellung durch die Polizei | |
fragwürdig gewesen. Beispielsweise sei erst einen Monat nach der Tat eine | |
Hausdurchsuchung beim Tatverdächtigen angeordnet worden. Trotz der Schwere | |
des Tatvorwurfs und einer laufenden Bewährung wird Dirk Q. nicht in | |
Untersuchungshaft genommen. Auch seine Bewährung wird nicht widerrufen. | |
Auch hinsichtlich der Tatmotivation wird nicht ermittelt. Eine Nachfrage | |
bei der Polizei Erfurt beantwortet ein Sprecher damit, dass keine Aussagen | |
mehr zu den damaligen Ermittlungen getroffen werden können. Die Akten seien | |
zehn Jahre nach der Tat vernichtet worden. Das Urteil, welches im Juni | |
2008, fünfeinhalb Jahre nach dem Angriff, gesprochen wird, fällt milde aus: | |
zwei Jahre auf Bewährung. | |
## Auch in den Medien herrschte Desinteresse | |
Frühere Taten wurden bei dem Urteil nicht berücksichtigt. Die zweite große | |
Strafkammer kritisiert die enorme Dauer des Verfahrens. Dieses habe | |
„rechtsstaatswidrig“ viel zu lange gedauert. Die Linksfraktion im Landtag | |
fordert darüber hinaus, dass sich der Justizausschuss mit dem Fall | |
befasst. | |
Für ihre Features besuchen Helsper und Klaproth die einstigen Tatorte. Sie | |
suchen Stimmen von Menschen, die in Erfurt zu Hause sind und sich heute | |
eventuell noch erinnern. Hier zeigt sich zwar deutlich, dass Erfurter | |
beispielsweise wissen, wo einst das große Discozelt stand und mit wem sie | |
dagewesen waren, an die Tötung eines Menschen aber können sie sich nicht | |
erinnern. | |
Zarnojanczyk findet dafür folgende Erklärung: „Sowohl Balzke als auch | |
Szyderski gehören zu sozialen Gruppen, die in der Gesellschaft nicht | |
anerkannt sind.“ Laut Zarnojanczyk scheint es leichtzufallen, den | |
polnischen Gastarbeiter und das arbeitslose Mitglied aus der Gemeinschaft | |
herauszudenken. Dieses Muster zeige sich deutlich bei jedem dieser Fälle. | |
Auch die damalige Medienberichterstattung zeigt ein deutliches Desinteresse | |
an den Opfern rechter Gewalt. So weisen nur wenige Zeitungsartikel auf die | |
Taten hin. „Fälle wie die von Ireneusz Szyderski und Hartmut Balzke werden | |
auch heute nicht ausreichend von Justiz und Gesellschaft gewürdigt“, findet | |
Zarnojanczyk. | |
Parallelen zieht er zu einem Angriff von 15 Männern auf eine Gruppe | |
Menschen im Hirschgarten vor der Erfurter Staatskanzlei im Juni 2020. Nach | |
Angaben der Staatsanwaltschaft ist ein Teil der Beschuldigten wegen | |
rechtsmotivierter Straftaten polizeibekannt. | |
Dennoch will die Staatsanwaltschaft im weiteren Verlauf der Ermittlungen | |
auch hier kein rechtsextremes Motiv erkannt haben. Mobit, eine mobile | |
Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus, verurteilte das Nichtanerkennen | |
eines rechtsmotivierten Tathintergrunds seitens der Ermittlungsbehörden | |
scharf. | |
24 Mar 2021 | |
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[3] http://ungleich-magazin.de/podcast | |
## AUTOREN | |
Jessica Ramczik | |
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