# taz.de -- Unkonventioneller Erinnerungsroman: Als Leichen durch Paris schwamm… | |
> Algerienkrise, Mitterrand, Feminismus: Annie Ernaux schreibt | |
> Gedächtnisliteratur – bei der die persönliche zu kollektiver Geschichte | |
> wird. | |
Bild: Hach, die Stadt der Liebe | |
Obwohl Annie Ernaux in den Kurzbiografien ihrer ins Deutsche übersetzten | |
Bücher wie „Eine vollkommene Leidenschaft“ als eine der „renommiertesten | |
Publizistinnen und Autorinnen Frankreichs“ vorgestellt wurde, deren Werke | |
mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet wurden, galt sie | |
hierzulande als Autorin von Softpornos, weil Goldmann ein Unterwäschemodel | |
auf das Cover mit Blick auf nackte Beine und Spitzendessous setzte. Ein | |
Fall von Betrug am Leser, der in Erwartung scharfer Sexszenen mit der | |
Innenwelt einer Frau konfrontiert wurde, die auf ihren Geliebten wartet. | |
Vielleicht hat es ja deshalb neun Jahre gedauert, bevor Suhrkamp nun „Die | |
Jahre“ herausbrachte, die in Frankreich ein Bestseller waren. | |
Didier Eribon ist jedenfalls voll des Lobes für die heute 77-jährige Annie | |
Ernaux. Und das zu Recht, denn in ihrem Buch entfaltet sie ein ganz | |
eigenartiges und faszinierendes Panorama der französischen Gesellschaft, | |
beginnend in den fünfziger Jahren, in einer dezenten poetischen Sprache, | |
die den Leser nicht los lässt, obwohl Ernaux vieles nur antippt, kurz | |
erwähnt, obwohl sie viele Ereignisse nur aufzählt und die dabei | |
hervorgerufene Assoziation dem Leser überlässt, obwohl sie keine | |
durchgehende Erzählstruktur verwendet, wie man sie kennt und gewohnt ist. | |
Aber sie wollte auf keinen Fall auf konventionelle Weise erzählen, sie | |
wollte sich selbst als „einzelne Existenz“ sehen, „die in der Bewegung | |
einer ganzen Generation aufgeht“. Das jedoch wirft gewisse Probleme auf: | |
Wie kann sie „das Vergehen der Zeit, die Veränderungen der Dinge, Ideen und | |
Sitten und gleichzeitig das Innenleben dieser Frau schildern, wie kann sie | |
ein Tableau über 45 Jahre zeichnen und gleichzeitig nach einem Ich | |
außerhalb der großen Geschichte suchen, einem Ich, das in herausgegriffenen | |
Momenten existiert und über das sie mit zwanzig Jahren Gedichte mit Titeln | |
wie Einsamkeit etc. geschrieben hat.“? | |
Für dieses Projekt ist ihr die Ich-Form „zu beständig, eng, fast | |
beklemmend, beim ‚sie‘ ist die Außensicht, der Abstand zu groß“. Richtig | |
lösen lässt sich das Problem nicht, weshalb sie einen Kompromiss eingeht, | |
indem sie ihre Epoche im unpersönlichen „man“ erzählt und immer wieder | |
Passagen im „sie“ einstreut, wenn es um ihre eigene Geschichte geht, die in | |
den großen Zeitlinien keine unmittelbare Spiegelung findet und zum | |
Ausgangspunkt ein Foto hat, an das sich bestimmte Erinnerungen knüpfen. | |
## Nylonstrümpfe und Lippenstift | |
Die Erzählung switscht kaum merklich hin und her, zwischen ihren | |
Sehnsüchten als Jugendliche nach Lippenstift, Nylonstrümpfen und Schuhen | |
mit hohen Absätzen, die sich schämt, weil sie immer noch Söckchen tragen | |
muss, die „penibel darauf achtet, nicht gegen das strenge mütterliche | |
Gesetz der Uhrzeit zu verstoßen“, hin zu den schlaglichtartigen | |
gesellschaftlichen Ereignissen: „Bahnstreik im Sommer 53 – der Fall von | |
Dien Bien Phu – Stalins Tod“. Es war die Zeit, als niemand über die | |
Konzentrationslager sprach, und wenn jemand seine Eltern in Buchenwald | |
verloren hatte, folgte betretenes Schweigen, ein Schweigen, wie man es auch | |
aus Deutschland kannte, nur aus unterschiedlichen Gründen. | |
Sie kommt aus einer sozialen Schicht, die keinen Kühlschrank und kein | |
Badezimmer besitzt, „und wenn man aufs Klo will, muss man raus auf den | |
Hof“. Nach dem Abitur arbeitet sie als Lehrerin auf dem Land, liest | |
Frauenzeitschriften, die ihr Schönheitsideal von Frauen prägen. Sie fährt | |
einen 2 CV. „Sie ist frei und unabhängig… Ihr Leben nach dem Abitur ist | |
eine Treppe, die in den Wolken verschwindet“, aber dann wird diese | |
Erinnerung an den Beginn der „Freizeitgesellschaft“ überlagert von zähen | |
Tagen, die sie mit Bücherlesen und Schallplattenhören verbringt, und | |
plötzlich ist die Euphorie wieder verflogen. | |
Die Versprechungen auf das Leben, die die Zukunft zu machen scheint, lösen | |
sich nicht ein, plötzlich wäre sie gerne länger jung geblieben, wo sie doch | |
lange Zeit nicht schnell genug erwachsen werden konnte. Dann wieder die | |
Politik: Die Bomben der OAS in Paris, das Attentat auf de Gaulle, der | |
Putsch der Generäle in Algier. | |
„Man fand es normal, dass die Einwanderer in Armenvierteln lebten, in | |
Fabriken und im Straßenbau malochten, dass ihre Oktoberdemonstration erst | |
verboten und dann blutig niedergeschlagen wurde.“ Damals als über | |
zweihundert Algerier in die Seine geworfen, erschossen oder erschlagen | |
wurden und die Leichen durch Paris schwammen und die Polizei das Verbrechen | |
vertuschte und erst sehr viel später herauskam, was wirklich passiert war, | |
als niemand mehr sagen konnte, „was man damals tatsächlich gewusst hatte“, | |
weil man sich nur noch „an einen milden Herbst und den Semesterbeginn“ | |
erinnerte. Während draußen die Welt aus den Fugen geriet, machte „man es | |
sich drinnen gemütlich“. | |
## Und dann die Melancholie | |
Vielleicht funktionieren diese kaleidoskopartigen Erinnerungsbruchstücke | |
deshalb und so lange, wie sie auch im Leser Bilder im Kopf entstehen | |
lassen, wenn man feststellt, wie sehr sich trotz aller Unterschiede eine | |
Jugend in Frankreich und Deutschland ähnelte, als man in der ersten eigenen | |
Wohnung ein Che-Guevara-Plakat aufhängte oder das Foto des Napalm-Mädchens | |
aus Vietnam, wie befreiend die Musik und die Filme und die Literatur und | |
Loslösung von den Eltern war, auch wenn man übers Wochenende immer noch zum | |
Wäschewaschen nach Hause kam. | |
Aber je länger die Erzählung fortschreitet, desto mehr entfernt sie sich | |
aus der gemeinsamen Erinnerung einer Generation, desto mehr diversifiziert | |
sie sich, zerfasert. Die großen weltgeschichtlichen Ereignisse wie der | |
Zusammenbruch des Ostblocks hat nur noch den Bezug zu ihr als wache | |
Beobachterin des politischen Geschehens, Ernaux fängt an, mehr zu | |
kommentieren, zu analysieren, aber sie hat nicht mehr die emotionale Nähe | |
zu den Verwerfungen der Welt, sie ist inzwischen Mutter von erwachsenen | |
Kindern, hat sich von ihrem Mann getrennt und einen neuen kennengelernt. | |
In ihre Erzählung schleicht sich ein melancholischer Ton. Und als | |
Jugoslawien in Trümmern liegt, ist „man“ plötzlich sehr müde. „Man hat… | |
alle Gefühle im Golfkrieg verausgabt, und es hatte nichts gebracht.“ Noch | |
mehr: „Die soziale Ordnung löste sich auf. Die Sprache verlor ihren | |
Realitätsbezug, sie wurde zu einem Mittel intellektueller Distinktion … Die | |
Gleichgültigkeit wurde größer.“ | |
## Manchmal sogar banal | |
Von der erhofften Aufbruchsstimmung, die mit dem Jahr 2000 verbunden ist, | |
bleibt nur Melancholie. Ihre Erwartung, dass endlich „etwas passiert“, | |
nimmt zu, auch wenn sie es nicht genau zu benennen weiß, was passieren | |
soll, obwohl sie alles hat und eigentlich zufrieden sein könnte. Aber | |
gerade der erreichte Wohlstand, wenn man sich zurücklehnen und wohlgefällig | |
seinen Blick auf sein eigenes Leben schweifen lassen könnte, treibt in die | |
Jahre gekommene Menschen manchmal dazu, noch einmal vom großen Umbruch zu | |
träumen, es beschleicht sie ein Gefühl der Unzufriedenheit mit den | |
Verhältnissen, weil man sich ihnen umso mehr entfremdet, je älter man wird | |
und die Veränderungen um sich herum nur noch mit Skepsis beobachtet. Man | |
merkt, das Leben geht weiter und man selbst bleibt auf der Strecke. | |
Die Erzählung wird zunehmend kursorisch und manchmal sogar banal, weil die | |
Ereignisse keinen unmittelbaren Bezug mehr zu ihr selbst haben. Man beginnt | |
sich zu fragen, ob die Skizze einer Epoche ihr vielleicht deshalb so gut | |
gelungen ist, weil sie nie wirklich ihre Beobachterposition verlassen hat, | |
ihr Leben ohne außergewöhnliche Brüche blieb, mit einer weitgehend normalen | |
Karriere, in der sich ihre Zeit wiederspiegeln konnte, weil sie immer eine | |
gewisse Distanz bewahrt, sich nie zu nahe an die Abgründe des Lebens gewagt | |
hat, nie allzu waghalsig gewesen war, auch nicht 1968, und vielleicht immer | |
die Ordnung der Dinge bedacht hat. Trotzdem ein großes Buch, ein Buch für | |
eine bestimmte Generation, für die Annie Ernaux „etwas von der Zeit“ | |
gerettet hat, „in der man nie wieder sein wird“. Und sie versteht es, | |
Erinnerungen zu wecken, die längst verschüttet schienen. | |
15 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Bittermann | |
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