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# taz.de -- Roman „Ikarien“ über NS-Eugeniker: Tod und Zynismus
> Der deutsche Arzt Alfred Ploetz lieferte das Fundament für den
> NS-Rassenhass. Der Roman „Ikarien“ entlarvt die Logik des historischen
> Irrsinns.
Bild: Rassenhygiene der Nazis: Operationssaal im Lebensborn-Heim in Steinhörin…
Am Ende dieser erschreckend erfolgreichen Karriere steht das Eingeständnis
einer herben Niederlage: Alfred Ploetz, Mitbegründer und Propagandist der
sogenannten „Rassenhygiene“, versammelt im Frühjahr 1940, drei Wochen vor
seinem Tod, Freunde und Gefolgsleute, um ihnen mitzuteilen, dass die
körperlichen Schädigungen, die übermäßiger Alkoholkonsum auslöst, nicht
vererbbar seien. Es war nämlich eine der vielen furchtbaren Ideen des
Menschenoptimierers Ploetz, „asoziales Verhalten wie Alkoholismus“ aus der
Gesellschaft zu verbannen, indem Trinker sterilisiert werden. Nun aber hebt
der Arzt das Weinglas und gibt einen für die Anwesenden schier undenkbaren
Trinkspruch zum Besten: „Auf den Irrtum!“
Diese schauerlich-aberwitzige Anekdote erzählt Uwe Timm in seinem neuen
Roman „Ikarien“. Ob die Szene historisch verbrieft ist oder nicht, spielt
keine Rolle, den Eugeniker Ploetz hat es jedenfalls gegeben, und Timm
arbeitet seit Jahrzehnten an dem bedrückenden Stoff. Wie wichtig es für ihn
war, dieses Werk dann doch noch abzuschließen, liegt wahrscheinlich auch in
einem sehr persönlichen Bezug begründet: Der Eugeniker Ploetz war der
Großvater von Timms Ehefrau, der Übersetzerin Dagmar Ploetz.
Tatsächlich merkt man bei der Lektüre, wie der Autor mit dem Thema und der
literarischen Form des Romans gerungen hat. Fiktives und Historisches
werden miteinander vermischt, Prosa und Gespräch wechseln sich ab,
Dokumente sind mit Reflexionen verwoben, Kommentare zur Weltgeschichte und
Tagebucheintragungen zu amourösen Verstrickungen prallen aufeinander. Der
1940 geborene Timm, der auf ein so bedeutendes wie erfolgreiches Ouvre
zurückschauen kann, hat mit „Ikarien“ ein literarisches Großwerk
geschrieben, das aber keineswegs auftrumpfen möchte.
Denn dieser Gestus ist dem Autor eher fremd: Ob nun die legendäre Novelle
„Die Entdeckung der Currywurst“, die Kolonialgeschichte „Morenga“, die
autobiografische Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“, die vom älteren
Bruder handelt, der freiwillig zur SS gegangen ist, oder der große
68er-Roman „Rot“ – Uwe Timm hat einen guten Blick für die Logik des
historischen Irrsinns, die er in scheinbar harmlosen Alltagsszenen
aufscheinen lässt. So beginnt der Roman „Ikarien“ mit einem behinderten
Jungen, der die Euthanasie der Nazis nur überlebte, weil er von den Eltern
versteckt und von Nachbarn nicht verraten wurde. Während Ploetz also auf
seinen Irrtum trank, lief die eugenische Tötungsmaschinerie auf Hochtouren,
für die der zynische Arzt mitverantwortlich war.
## Streit und Missgunst prägen die Kommune
Nach dem Auftakt gibt es einen schroffen Szenenwechsel. Wir befinden uns
auf einem Schiff und sind bei dem jungen Offizier Michael Hansen, der kurz
vor Ende des Zweiten Weltkriegs aus den Vereinigten Staaten ins
kriegszerstörte Deutschland fährt. Kaum ist Hansen in Antwerpen gelandet,
bekommt er einen Marschbefehl nach Frankfurt und den Auftrag, die
Hinterlassenschaften jenes Alfred Ploetz zu sichten. Der Offizier, der auch
Zeugen befragen soll, besucht unter anderem den alten Weggefährten Wagner,
der in langen Gesprächsrunden erstaunliche Hintergründe über die Karriere
des Eugenikers zu berichten weiß.
Ploetz und sein Mitstreiter Wagner vereinte nämlich schon lange vor dem
Nationalsozialismus die Vision, das Leben der Menschen zu verbessern,
zumindest die sozialen Ungleichheiten aufzuheben. So wandelten sie auf den
Spuren des französischen Revolutionärs Étienne Cabet, der seine
sozialistischen Utopien nicht nur in seinem Roman „Reise nach Ikarien“
beschrieben hatte, sondern auch in die USA ausgewandert war, um am
Mississippi River die Aussteigergemeinde Ikarien zu gründen.
Man ahnt es schon: Ploetz und Wagner werden nicht lange bei harter
Feldarbeit und öden Fahrdiensten bleiben, auch weil die Klassengesellschaft
in Ikarien nicht aufgehoben scheint. Streit und Missgunst prägen die
Kommune. Durchaus enttäuscht kehren die beiden zurück nach Europa, ihre
Suche nach dem richtigen Weg zur besseren Gesellschaft aber geben sie nicht
auf. Während sich Wagner weiterhin mit der sozialen Frage beschäftigt,
setzt Ploetz auf die eugenische Selektion. Er liefert das
pseudowissenschaftliche Fundament für den Rassenhass der Nazis, er schreibt
Ergebenheitsadressen an den Führer, macht eine große Forscherkarriere und
wird zu einem intellektuellen Motor der nationalsozialistischen
Mordmaschine. Er wird 1936 – so grotesk ist die Geschichte – sogar für den
Friedensnobelpreis nominiert, weil er vor den biologischen Folgen des
Krieges auf die menschliche Fortpflanzung gewarnt hatte.
Der Roman schildert, wie weit verbreitet in dieser Zeit eugenische Theorien
waren, in Skandinavien vor allem, aber auch in den USA, und er zeigt, wie
sich aus sozialistisch-utopischen Ideen letzten Endes auch die
Legitimierung eines Massenmordes entwickeln kann. Im Grunde schreibt der
große 68er-Autor Uwe Timm eine Dialektik der Aufklärung. Die falsch
verstandene Aufklärung schlägt wieder in den Mythos und schließlich in die
Barbarei um.
## Was eine literarische Dialektik!
Alfred Ploetz erlebt das Ende des „Dritten Reiches“ nicht mehr. Er wird
nicht vor Gericht gestellt und er bekommt keine Gelegenheit, das
grundsätzlich Monströse seiner Weltanschauung zu begreifen. Es war eine
kluge Entscheidung, die Erinnerung an Ploetz in mündlicher Sprache zu
halten, nämlich in Wagners zum Teil ausufernden Monologen. So wird dem
Selektionswahn keine Perfektionsprosa gegenübergestellt, sondern vielmehr
dem Grauen des Erzählers Raum gegeben.
Etwas glatt ist hingegen die Welt des amerikanischen Offiziers Hansen
geraten. Er ist der große Frauenschwarm und wirkt in seinem virilen
Tatendrang fast so, als käme er aus dem eugenischen Versuchslabor von
Alfred Ploetz. Am Ende bringt der strahlende Held, angetrieben von seiner
eigenen Familiengeschichte, den entnazifizierten Deutschen auch noch die
Kultur zurück. Fast hat man den Eindruck, dem negativen Amerika-Bild der
68er möchte Uwe Timm – nahezu in Form der guten, alten Selbstkritik – eine
starke Antithese entgegensetzen.
Die Schlusspointe wirkt fast schon rührend, die man dem Autor aber
verzeiht, weil er die Hoffnung auf einen echten Fortschritt nicht
aufgegeben hat. Selbst wenn in den utopischen Ideen das diktatorische
Verbrechen schon angelegt ist, enthalten sie trotzdem auch die Vorstellung
von Freiheit und Menschenfreundlichkeit. Wagner wählte einen anderen Weg
als Ploetz und ist wegen seiner Haltung ins Konzentrationslager verschleppt
worden. Er hat nur überlebt, weil ihn sein alter Freund Ploetz nach Jahren
der Zwangsarbeit gerettet hat. So konnte er dem Nachgeborenen Hansen
wiederum von den Irrwegen der instrumentellen Vernunft erzählen. Was eine
literarische Dialektik!
Wir Leser können Uwe Timm dankbar sein für einen Roman, der ein
erschreckend aktuelles Geschichtsbuch geworden ist, zumal die Sehnsucht
nach der homogenen Gesellschaft in Deutschland wieder gewachsen ist.
14 Oct 2017
## AUTOREN
Carsten Otte
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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Literatur
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NS-Ideologie
Erinnerungskultur
NS-Verbrechen
Gabriele Goettle
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