# taz.de -- Ausstellung über Medizinverbrechen: Die Macht der Eugenik | |
> Die Ausstellung „Erfasst, verfolgt, vernichtet“ im Bremer Rathaus | |
> dokumentiert Medizinverbrechen der Nazis und benennt Opfer und Täter aus | |
> Bremen. | |
Bild: Euthanasie-Opfer Gertraude Küchelmann mit Mutter und Bruder. | |
BREMEN taz | Friede Kreikemeyer soll an Durchfällen gestorben sein, 1944 | |
war das. In Wahrheit aber war die Bremerin ein Opfer der NS-Euthanasie: Sie | |
wurde in der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde ermordet. „Ich habe das | |
immer gewusst“, sagt Jochen Schütt, ihr Enkel. „Und meine Mutter“ – ih… | |
Tochter – „fand das im Prinzip in Ordnung.“ Aber die, erzählt der | |
72-jährige, hatte auch das goldene Parteiabzeichen. „Es ging halt nicht | |
anders“, hieß es dann in der Familie, es war eben Krieg. „In meiner Familie | |
würde sich sonst keiner dafür interessieren“, sagt Schütt. | |
Trotzdem wird Friede Kreikemeyers nun gedacht, in einem Buch, dem gerade | |
erschienenen „Erinnerungsbuch für die Opfer der NS-Medizinverbrechen in | |
Bremen“ von Gerda Engelbracht. Es nennt erstmals die Namen aller 822 | |
BremerInnen, von denen heute klar ist, dass sie Opfer der | |
NS-Medizinverbrechen wurden. Von Friede Kreikemeyer gibt es sogar ein Bild | |
darin. Es zeigt sie auf einer Parzelle. Zudem wird ihr Name auch in einer | |
Ausstellung genannt, die am Mittwoch in der Unteren Rathaushalle in Bremen | |
eröffnet wurde: „Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte | |
Menschen im Nationalsozialismus.“ Sie zeichnet die Geschichte eines | |
„historisch einzigartigen staatlich organisierten industriellen | |
Krankenmordes“ nach, sagt der Leiter der Bremer „Kulturambulanz“, Achim | |
Tischer, Mitinitiator der Ausstellung. | |
Dabei die Namen der Opfer zu nennen, ist durchaus nicht selbstverständlich. | |
Als es in Schleswig-Holstein jüngst um ein Euthanasie-Mahnmal ging, | |
weigerte sich das dortige Landesarchiv, mit Rückendeckung des | |
Kultusministeriums. Zur Begründung wurde auf das „[1][Drittinteresse am | |
Nichtwissen]“ verwiesen: Es könnte ja von genetischen Dispositionen und | |
Erbkrankheiten die Rede sein. Und die könnten auch Angehörige betreffen, so | |
das Argument – und die Nachfahren stigmatisieren. Mittlerweile sei aber | |
„weitgehend Konsens“, dass eine Nennung der Opfer „wünschenswert“ sei,… | |
Engelbracht. | |
Als „Belastung für die deutsche Volksgemeinschaft“ wurden zwischen 1934 und | |
1945 bis zu 400.000 Menschen gegen ihren Willen sterilisiert und mehr als | |
200.000 Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten ermordet. Umgesetzt hätten | |
das Psychiater, Fachärzte, Verwaltungsleute, Pflegekräfte, sagte Tischer – | |
und zwar „freiwillig“. Die Affinität der Ärzte zur Ideologie der Nazis sei | |
groß gewesen, sagt Wolfram Seibert, selbst Facharzt für Psychiatrie im | |
Klinikum Bremen-Ost. Rund 2.300 Zwangssterilisationen der Nazis sind in | |
Bremen bekannt. | |
Und während über die Opfer auch nach dem Krieg meist geschwiegen wurde, | |
hätten viele der [2][TäterInnen] nach 1945 [3][wieder] „[4][ungehindert] | |
Karriere“ [5][gemacht], sagt Tischer. „Die Täter haben sich wechselseitig | |
gestützt“, sagt Seibert. Zudem sei die eugenische Bewegung von einem | |
breiten gesellschaftlichen Konsens getragen worden. Auch nach dem Krieg. | |
„Die Verbrechen entsprachen dem Zeitgeist“, sagt Thomas Köcher von der | |
Landeszentrale für Politische Bildung. Und so bestand die | |
„Erbgesundheitsdatei“ im Bremer Gesundheitsamt auch nach 1945 weiter fort. | |
Mittlerweile liegt sie aber im Staatsarchiv. | |
Die Wanderausstellung wurde von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie | |
und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde entwickelt und 2014 | |
in Berlin erstmals gezeigt. Darin tauchen auch die beiden Bremer | |
Psychiatrie-Chefs Walther Kaldewey und Theodor Steinmeyer auf. Als | |
„Gutachter“ des „T4“ genannten Euthanasie-Programmes der Nazis durften … | |
de facto Todesurteile fällen. In den Krankenakten wurde das mit einem “+„ | |
vermerkt. Bis 1941 wurden 70.000 Menschen in Gasmordanstalten umgebracht, | |
danach wurde „wilde Euthanasie“ praktiziert, etwa durch spezielle | |
Hungerkost. | |
„Es wussten alle Bescheid“, sagt Tischer. Zugleich habe es nach 1945 | |
seitens der Opfer nur wenig Impulse zur Aufarbeitung der | |
NS-Medizinverbrechen gegeben. Scham spiele dabei „eine große Rolle“, auch | |
die Frage: „Bin ich selbst auch erblich belastet?“ Die Ideologie der | |
Eugeniker habe sich bis heute tief in das Denken der Menschen eingebrannt, | |
so Tischer. Auch die Frage nach der eigenen Schuld verhinderte vielfach | |
eine Aufklärung, sagt Engelbracht – schließlich hatten viele Eltern ihre | |
Kinder selbst eingewiesen, im guten Glauben. 5.000 Kinder wurden in den | |
Programmen ermordet. „So wurde die direkt betroffene Generation zum | |
Schweigen gebracht“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. | |
Ausstellung: Untere Rathaushalle, bis 6. September | |
Gerda Engelbracht: Erinnerungsbuch für die Opfer der NS-Medizinverbrechen | |
in Bremen, 252 S., 19,90 Euro | |
3 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] /!5269754/ | |
[2] http://www.gesundheitnord.de/krankenhaeuserundzentren/kbm/klinikum-bremen-m… | |
[3] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13529152.html | |
[4] http://www.demokratie-goettingen.de/forschung/projekte/stich | |
[5] https://www.thieme.de/viamedici/arzt-im-beruf-aerztliches-handeln-1561/a/ae… | |
## AUTOREN | |
Jan Zier | |
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