# taz.de -- Euthanasie: „Kolonialismus ist auch eine Geschichte der Verdräng… | |
> Manuela Bauche befasst sich mit der Geschichte der Ihnestraße 22 an der | |
> FU Berlin. Hier befand sich bis 1945 eine eugenische Forschungsstätte. | |
Bild: Historikerin Manuela Bauche im Gebäude des Otto-Suhr-Instituts der Freie… | |
taz: Sie wurden Anfang des Jahres von der Freien Universität Berlin | |
angestellt, um die Auseinandersetzung mit der Geschichte der | |
Universitätsgebäude in der Ihnestraße 22 voranzubringen, dem heutigen Sitz | |
von Teilen des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft. Dort befand | |
sich bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche | |
Erblehre und Eugenik (KWI-A). Was haben Sie dort vor? | |
Manuela Bauche: Ich will die Geschichte des KWI-A am Gebäude sichtbarer | |
machen und damit auch die Geschichte der [1][Eugenik] in Deutschland. Diese | |
Geschichte beginnt nicht erst 1927 mit der Gründung des Instituts, sondern | |
reicht mindestens bis Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Mit Eugenik sind | |
Forschungen zur Vererbung gemeint, die die Grundlage liefern, um mit | |
gesundheitspolitischen Eingriffen eine Gesellschaft vermeintlich zu | |
verbessern, also zum Beispiel durch Heiratsverbote oder | |
Zwangssterilisierungen für bestimmte „Gruppen“. Das KWI-A war eine der | |
renommiertesten eugenischen Forschungsstätten in Deutschland und hatte eine | |
starke Verbindung zum Staat, sowohl in der Weimarer Republik als auch | |
während des NS-Regimes. | |
Warum wurde Ihre Stelle erst jetzt geschaffen? | |
Es gibt schon seit Jahrzehnten Forderungen, die Geschichte des KWI-A | |
sichtbarer zu machen. Anfang der 2000er Jahre wurde die Geschichte des | |
KWI-A von der Max-Planck-Gesellschaft intensiv beforscht. Am Gebäude selbst | |
blieb sie aber trotzdem wenig sichtbar. In den letzten zehn Jahren haben | |
sich vor allem Studierende für eine aktive Auseinandersetzung mit der | |
Gebäudegeschichte engagiert und eigene Projekte dazu umgesetzt. Eine | |
Studierendengruppe hat dafür gekämpft, dass meine Stelle hier eingerichtet | |
wurde. Der Wunsch war, die Geschichte des Instituts sichtbarer zu machen | |
und dabei auch dessen koloniale Vorgeschichte stärker zu berücksichtigen. | |
Als das KWI-A gegründet wurde, hatte Deutschland schon seit fast zehn | |
Jahren keine Kolonien mehr. Warum ist die Geschichte des Instituts dennoch | |
eine koloniale Geschichte? | |
Ich würde eher von einer kolonialen Vorgeschichte sprechen. Das KWI-A wird | |
vor allem für seine Verwicklungen mit dem Nationalsozialismus erinnert, | |
doch die Ideen hinter dessen rassistischer Forschung und entmenschlichenden | |
Politik wurden nicht erst 1933 erfunden. Die augenfälligste Verbindung des | |
KWI-A in die Kolonialzeit ist die über den Gründungsdirektor Eugen Fischer. | |
Er hat die Leitlinien bestimmt und war der Kopf hinter dem Institut. Eugen | |
Fischer war ein anthropologisch arbeitender Mediziner und erlangte seinen | |
wissenschaftlichen Ruhm durch Forschungen, die er in Namibia durchgeführt | |
hat, als es deutsche Kolonie war. | |
Woran hat Eugen Fischer dort geforscht? | |
Er veröffentlichte 1913 seine Forschung mit dem Titel „Die Rehobother | |
Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen“. Zwei Monate hat er | |
sich in Rehoboth in Namibia aufgehalten und dort etwa 300 Menschen | |
vermessen und abfotografiert, die Nachkommen von weißen Siedlern und Nama | |
waren. Er wollte belegen, dass die Mendelschen Gesetze, die für bestimmte | |
Pflanzen besagen, dass sich Merkmale wie Blütenfarben nach einem | |
mathematischen Schema vererben, auch beim Menschen gelten. Das ist heute | |
ganz klar widerlegt. | |
Was ist daran problematisch? | |
Unter Fischer wurde am KWI-A später darüber geforscht, wie bestimmte | |
äußerliche Merkmale, Krankheiten und Verhalten sich vererben. Es ging | |
weniger um die Frage, ob als wie diese Vererbung stattfindet. Diese | |
Forschung war nicht ergebnisoffen. Sie lieferte die wissenschaftliche | |
Rechtfertigung dafür, dass man in der Gesundheitspolitik eine Selektion von | |
Menschen mit unerwünschten Merkmalen durch eugenische Maßnahmen | |
durchführte. | |
Welche Folgen hatte die Forschung am KWI-A in der Praxis? | |
Mitarbeiter*innen des Instituts waren zum Beispiel an der Vorbereitung des | |
„Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beteiligt, das | |
Zwangssterilisierung ab 1934 legal machte. Institutsmitarbeiter*innen | |
arbeiteten dann an Erbgesundheitsgerichten mit, wo über solche Maßnahmen | |
entschieden wurde. Über 300.000 Menschen wurden zwangssterilisiert, weil | |
sie als psychisch krank galten oder eine Behinderung hatten. 1937 sind im | |
Rheinland knapp 400 afrodeutsche Kinder systematisch sterilisiert worden. | |
Diese Personen waren in der Gesellschaft nicht erwünscht. Besonders | |
erschreckend ist, dass Mitarbeiter*innen des KWI-A an Körperteilen von in | |
Auschwitz Ermordeten geforscht haben. | |
Warum wird die koloniale Vorgeschichte des Instituts bislang nicht auf der | |
Gedenktafel am Dahlemer Institutsgebäude erwähnt? | |
Dass dieser Aspekt auf der Gedenktafel keine Rolle spielt, spiegelt den | |
Stand von Erinnerungspolitik in Deutschland in den 1980er Jahren wider. Zu | |
der Zeit eine Gedenktafel anzubringen, die auf die Verbindungen zwischen | |
dem KWI-A und den Verbrechen in Auschwitz hinweist, war alles andere als | |
selbstverständlich, sondern Ergebnis eines langen Kampfes von Dozentinnen | |
des Otto-Suhr-Instituts gegen Kräfte, die die NS-Vergangenheit lieber | |
„ruhen lassen wollten“. Dieser wichtige Prozess hat erst einmal wenig Raum | |
für den Blick auf andere Unrechtsgeschichten gelassen. Heute ist es | |
allmählich möglich, unterschiedliche deutsche Unrechtsregime konstruktiv | |
zusammen zu denken. | |
Welche Parallelen sind offensichtlich? | |
Gerade in der Eugenik kann man Kontinuitäten erkennen. In den Kolonien | |
wurden unter dem Stichwort „Rassenhygiene“ Afrikaner*innen von | |
Europäer*innen in unterschiedliche Wohnviertel getrennt, mit dem Argument, | |
Erstere würden eine kulturelle und gesundheitliche Gefahr für die | |
Kolonisierenden darstellen. In Krankenlagern wurden an ihnen Medikamente | |
getestet. Wer als Gefahr oder unerwünscht markiert wurde, das hat sich über | |
die Jahrzehnte verändert, aber diese Grundidee des Stigmatisierens ist | |
geblieben und hat in der NS-Zeit dazu geführt, dass ein Teil der | |
Bevölkerung zur massenhaften industriell organisierten Vernichtung | |
freigegeben wurde. | |
Wie werden Sie vorgehen, um die Geschichte des KWI-A sichtbar zu machen? | |
Eine Idee ist, Ausstellungspunkte zu schaffen, über die Menschen stolpern, | |
wenn sie sich durch die Gebäude bewegen. Ich möchte hier aber keine | |
Geisterbahn kreieren. Man kann zwar den Hinweis geben, wo das Büro von | |
Eugen Fischer oder der Raum für Zwillingsforschung war, aber es muss vor | |
allem um die Ideen hinter diesen Forschungen gehen. Ich möchte ungern | |
Täterorte fetischisieren, sondern darüber nachdenken, wie Wissenschaft und | |
Entmenschlichung zusammenhängen. Wichtig ist mir auch, das nicht im stillen | |
Kämmerlein zu überlegen, sondern in Rücksprache mit Expert*innen und mit | |
Personen, die von der Geschichte betroffen sind. | |
Sie sind Expertin für Kolonialgeschichte und für Medizin Anfang des 20. | |
Jahrhunderts. Was interessiert Sie an diesen Themen? | |
Ich interessiere mich grundsätzlich für Machtverhältnisse, vor allem für | |
unsichtbare. Die Kolonialgeschichte ist Teil meiner Familiengeschichte, kam | |
aber im Geschichtsstudium fast gar nicht vor. Kolonialismus ist auch eine | |
Geschichte der Verdrängung von altem Wissen. Das Gleiche gilt für die | |
Biomedizin, die sich als Standard etablierte, indem sie unter anderem | |
Heilwissen von Frauen verdrängte, denen der Zugang zur Universität verwehrt | |
wurde. Dinge sichtbar zu machen, die durch machtvolle Prozesse unsichtbar | |
gemacht wurden, finde ich wichtig. | |
6 May 2019 | |
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## AUTOREN | |
Hannah El-Hitami | |
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