| # taz.de -- Medizinische Versuche mit NS-Opfern: Anatomie eines Leichenschände… | |
| > Hermann Stieve experimentierte mit Menschen, die von der NS-Justiz zum | |
| > Tod verurteilt wurden. Ihre Gewebeproben werden nun bestattet. | |
| Bild: Der Arzt Hermann Stieve profitierte vom NS-Regime, verkaufte sich aber al… | |
| An diesem Montag wird auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu Berlin eine | |
| ungewöhnliche Bestattung erfolgen. Sie findet mehr als 70 Jahre nach dem | |
| Tod dieser Menschen statt. Am Nachmittag werden dort Pfarrer der | |
| katholischen und evangelischen Kirche und der Rabbiner Andreas Nachama | |
| sprechen. Dann wird eine Gedenktafel enthüllt. | |
| Auf ihr steht geschrieben: „Im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee wurden | |
| während der nationalsozialistischen Diktatur mehr als 2.800 Menschen durch | |
| das Fallbeil oder den Strang ermordet. Die meisten von ihnen wurden danach | |
| im Anatomischen und Anatomisch-biologischen Institut der Berliner | |
| Universität zu Forschungs- und Lehrzwecken seziert. Mehr als 300 der dabei | |
| entstandenen mikroskopischen Präparate, zumeist von Frauen, wurden 2016 im | |
| Nachlass des Anatomen Hermann Stieve aufgefunden. Sie wurden hier am 13. | |
| Mai 2019 bestattet.“ | |
| Der Medizinprofessor Andreas Winkelmann beschreibt den Fund: „Es handelt | |
| sich um Objektträger, kleine rechteckige Glasplatten. Darauf befindet sich | |
| ein sehr kleines Teil eines Organs, ein hundertstel Millimeter dünn. Die | |
| Objektträger befinden sich in schwarzen Kisten.“ | |
| Enkel des 1952 verstorbenen Stieve hatten die Präparate in seinem Nachlass | |
| gefunden, berichtet Winkelmann. „Sie wollten das nicht unbedingt bei sich | |
| zu Hause lagern.“ Winkelmann, der seit 2015 in der Anatomie der | |
| Medizinischen Hochschule Brandenburg arbeitet, begann zu recherchieren, | |
| fand heraus, worum es sich handelte und von wem die Gewebeproben stammten. | |
| Er nahm Kontakt zu Angehörigen von Widerstandskämpfern auf, die in | |
| Plötzensee hingerichtet worden waren. Mit ihrem Einvernehmen findet nun die | |
| Bestattung statt, wobei man auf die Namensnennungen verzichtet, gleichwohl | |
| etwa 15 der Präparate entsprechend gekennzeichnet sind. | |
| ## Bedenkenlose Nutzung | |
| Wer aber war dieser Hermann Stieve? Das herauszufinden, hat sich der Leiter | |
| der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Johannes Tuchel, bemüht. Ende Mai | |
| erscheint sein Buch „Hinrichtungen im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee | |
| 1933–1945 und der Anatom Hermann Stieve“. | |
| Tuchels Urteil ist eindeutig: Der Anatom, den das SED-Blatt Neues | |
| Deutschland 1952 als „großen deutschen Arzt und Wissenschaftler“ feierte, | |
| sei ein „Dienstleister der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz“ gewesen. | |
| Er „nutzte sämtliche Möglichkeiten, die ihm das nationalsozialistische | |
| System bot, bedenkenlos für seine eigenen Interessen“, schreibt Tuchel. | |
| Stieve kam 1935 als Direktor der Anatomie an die Berliner Charité. Damals | |
| hatten die Scharfrichter im Deutschen Reich seit zwei Jahren wieder Arbeit, | |
| dank der Erneuerung der Todesstrafe durch die Nazis. Bis 1945 sollten | |
| unfassbare 16.560 zivile Todesurteile ergehen, der größte Teil davon im | |
| Krieg und in den allermeisten Fällen vollstreckt an NS-Gegnern. Bis 1937 | |
| geschah das mit dem Handbeil, danach mittels Guillotinen, aber bei | |
| politischen Gegnern auch durch Erhängen. | |
| Das Reichsjustizministerium ermöglichte Anatomie-Medizinern in ganz | |
| Deutschland den Zugriff auf diese „frischen“ Leichen. Und Stieve, obwohl | |
| kein NSDAP-Mitglied, griff bedenkenlos zu. Er besorgte die Abholung der | |
| Opfer, stellte die Kosten der „Leichenkisten“ in Höhe von 17,50 Reichsmark | |
| in Rechnung, unternahm an Ausgewählten die Sektion, organisierte die | |
| Verbrennung aller im Krematorium und die Verbringung der Ascheurnen an | |
| anonymen Grabstätten. | |
| ## Stieve machte vornehmlich an Frauen Experimente | |
| Bei den Opfern des gescheiterten Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 ließ | |
| Stieve die Ermordeten gar unmittelbar mit dem Lastwagen seines Instituts | |
| ohne Umweg zum Krematorium verfrachten – ein Arzt als | |
| Bestattungsunternehmer im Auftrag von Massenmördern. Die große Zahl an | |
| Leichen nannte er 1938 stolz „einen Werkstoff, wie ihn kein anderes | |
| Institut der Welt besitzt“. | |
| Sein Interesse galt besonders Frauen im gebärfähigen Alter, denn Stieve | |
| forschte zu Fortpflanzungsorganen. Es sei ihm, so Andreas Winkelmann, dabei | |
| im Besonderen um den Nachweis des Eisprungs und den Einfluss des | |
| Nervensystems darauf gegangen. Stieves Ziel sei es gewesen, die | |
| Unzuverlässigkeit der Verhütungsmethode nach Hermann Knaus („Knaus-Ogino“) | |
| nachzuweisen. Tote junge Frauen lieferte die Hinrichtungsstätte Plötzensee | |
| reichlich: 334 der dort zwischen 1933 und 1945 Getöteten waren weiblich. | |
| Winkelmanns Urteil über seinen Berufskollegen: Stieve habe „die Todesangst | |
| der Frauen vor ihrer Hinrichtung zum Faktor seiner Forschung gemacht“. | |
| Tatsächlich veröffentlichte Stieve 1942 eine Arbeit, in der von | |
| „Schreckblutungen“ „im unmittelbaren Anschluss an eine Nachricht, die die | |
| Frauen stark erregt hatte“, die Rede ist. Welche Nachricht das war, lässt | |
| sich nachvollziehen. | |
| ## Der Nazi-Arzt wurde bis in die Neunziger geehrt | |
| Nach der Befreiung aber machte Stieve sich erfolgreich zum Oppositionellen. | |
| „Während der Zeit seit 1933 bin ich dauernd von den Nationalsozialisten | |
| verfolgt und in meiner Arbeit behindert worden“, erklärte er im Juni 1945. | |
| Politische Opfer der Nazis habe er niemals seziert – eine Lüge, wie Tuchel | |
| nachweist. | |
| Doch kam Stieve damit durch, auch weil Wissende ihre schützende Hand über | |
| ihn hielten und ihn als Lehrkraft behalten wollten. Noch bis in die | |
| neunziger Jahre stand in der Charité eine Stieve-Büste, berichtet Andreas | |
| Winkelmann, es habe auch einen „Stieve-Saal“ gegeben. Sein Bild hängt | |
| weiterhin in der Ahnengalerie der Direktoren – nun mit entsprechendem | |
| Kommentar versehen. Der Fall Hermann Stieve scheint aufgearbeitet, sowie | |
| die Präparate der Opfer eine würdige Ruhestätte erhalten – 74 Jahre nach | |
| der Niederschlagung des NS-Regimes. | |
| 13 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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