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# taz.de -- Jurist Jens Rommel über NS-Prozesse: „Hinter jeder Zahl steht ei…
> Jens Rommel von der Zentralen Stelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen
> über das Problem des zunehmenden zeitlichen Abstands.
Bild: Oskar Gröning, der „Buchhalter von Auschwitz“, in einer Verhandlungs…
taz: Herr Rommel, prägt es Ihre Arbeit, dass die Uhr tickt – dass es
vielleicht noch drei, fünf Jahre sind, in denen Sie NS-Täter vor Gericht
stellen kann?
Jens Rommel: Im Moment verfolgen wir Personen, die zwischen 92 und 95 Jahre
alt sind. Aus diesen Jahrgängen sind die allermeisten schon verstorben. Und
die wenigen, die noch leben, sind oft körperlich oder geistig nicht mehr in
der Lage, sich so einem Strafverfahren zu stellen. Wir wollen keine
Schauprozesse führen gegen Leute, die nicht mehr verstehen, was man ihnen
vorwirft. Aber unsere Motivation, die die Kolleginnen und Kollegen in
Ludwigsburg umtreibt, ist nicht die Zahl der Gerichtsverfahren, sondern es
wenigstens zu versuchen, diese großen Verbrechen aufzuklären. Und zu
schauen, wer von den einzelnen Menschen, die diese Taten begangen haben,
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.
Wie viel Bitterkeit ist da, wenn man sieht, wie viele, die an höherer
Stelle gestanden haben, nicht zur Verantwortung gezogen wurden, weil die
Nachkriegsjustiz wenig Nachdruck zeigte?
Ganz so schwarz-weiß würde ich die Bemühungen der Nachkriegszeit nicht
sehen. Man muss berücksichtigen, dass die Alliierten rund 100.000 Deutsche
und Österreicher zur Rechenschaft gezogen haben. Auch in den ersten Jahren
der Bundesrepublik hat es Bemühungen gegeben, die aber Mitte der 50er-Jahre
extrem zurückgehen. Das ist nicht allein der Justiz anzulasten, sondern
eine Entwicklung, die die gesamte Gesellschaft und den gesamten Staat
betrifft, etwa weil Straftaten verjähren konnten oder ein Schlussstrich
gewünscht war. Da fallen bei der Betrachtung allerdings Herz und Hirn
auseinander.
Und wo landet das Herz?
Mit unserem heutigen Ansatz verfolgen wir auch niederrangige und damals
sehr junge Leute, weil sie zumindest einen Anteil der Schuld auf sich
geladen haben. Wenn das richtig ist, dann sind sehr viele davongekommen,
die es viel eher verdient hätten. Intellektuell sehen wir das natürlich
ein, aber trotzdem denkt man sich oft, dass das unseren heutigen
Vorstellungen nicht mehr entspricht. Man muss aber auch sehen, dass diese
Entscheidungen aus der damaligen Zeit heraus getroffen worden sind – was es
nicht entschuldigen soll.
Was bedeutete das konkret?
Zum Personal in Auschwitz gibt es eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs
von 1969, die besagt: Nicht jeder, der irgendwie in Auschwitz beteiligt
war, ist für alles verantwortlich, was im Rahmen dieses
Vernichtungsprogramms geschah. Sondern man müsse konkret nachweisen, wie
sich diese Unterstützung ausgewirkt hat. Diese Entscheidung war auch der
Tatsache geschuldet, dass es die Justiz damals nicht geschafft hätte,
wirklich alle zu verfolgen. Der Aufwand für so ein Gerichtsverfahren –
damals noch mit Ermittlungsrichter und Geschworenengericht – wäre für die
Justiz nicht zu stemmen gewesen. Es lebten damals von den 6.500 Wachleuten
in Auschwitz viel mehr als heute. Von den gesellschaftlichen Auswirkungen
gar nicht zu sprechen: Man hätte Leute aus der Mitte der Gesellschaft in
Untersuchungshaft nehmen müssen.
Das ist für Außenstehende schwierig hinzunehmen: dass geltendes Recht
praktischen Gegebenheiten, aber auch einer gesamtgesellschaftlichen
Mentalität geschuldet ist, die sich ändern kann.
Das geht mir auch so. Es kommt hinzu, dass sich das eigentliche
Strafgesetz, was Mord ist und was Beihilfe zum Mord, seit den Taten nicht
geändert hat. Und dennoch kommen wir über die Jahrzehnte zu völlig
unterschiedlichen Ergebnissen. Die Einflüsse von außen sind in der
Auseinandersetzung mit dem, was man für strafwürdig hält, ganz schwer
festzustellen. Noch etwas anderes kommt hinzu, was vielleicht auch die
neueren Prozesse beeinflusst hat: Der internationale Terrorismus, der sehr
arbeitsteilig vorgeht. Der Beitrag des Einzelnen mag sehr klein sein, etwa
was die Vorbereitung der Anschläge vom 11. September angeht, und trotzdem
waren sie in ihrer Gesamtheit notwendig, um diese Verbrechen zu
ermöglichen.
Wo ist diese Auffassung dann für die Verfolgung von NS-Tätern relevant
geworden?
Diese Gedanken sind in das Urteil gegen Oskar Gröning mit eingeflossen, den
sogenannten Buchhalter von Auschwitz: Wir schauen bei der Frage, ob jemand
zur Verantwortung gezogen wird, nicht auf die Größe seines Beitrags. Wenn
sich dieser Beitrag ausgewirkt hat, ist er mitverantwortlich. Erst danach
stellt sich die Frage, wie hoch seine persönliche Schuld ist und wie hoch
die Strafe. Wenn wir nachweisen könnten, was jemand im Einzelfall getan
hat, ob er an einem bestimmten Tag Giftspritzen gesetzt hat, dann wäre der
Prozess kein Problem. Leider können wir das heute nicht mehr beweisen, weil
es meist nicht dokumentiert ist und die Zeugen, vor allem von Opferseite,
in der Regel nichts zum Verhalten eines Einzelnen an einem einzelnen Tag
aussagen können. Wir lösen uns jetzt aber nicht von der individuellen
Schuld, wenn wir fragen, welches Verhalten des Einzelnen wir nachweisen
müssen.
Frühere Mitarbeiter der Zentralstelle haben bitter beklagt, dass man mit
Ludwigsburg absichtsvoll eine zahnlose Institution geschaffen habe.
Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen ist 1958 eingerichtet
worden, nachdem durch Zufall in Ulm der „Einsatzgruppenprozess“ zustande
gekommen war – wegen des Mordes an Tausenden jüdischer Kinder, Männer und
Frauen. Dann haben die Justizminister gesagt: So können wir das nicht
weitermachen. Deswegen unser Auftrag, unabhängig vom Tat- und Wohnort diese
Verbrechen systematisch aufzuarbeiten. Jedoch wallten nicht alle eine
effektive Strafverfolgung. Als politischer Kompromiss ist dann eine
Vorermittlungsbehörde ohne Eingriffskompetenzen entstanden. Wir dürfen also
keine Vernehmungen gegen den Willen von Personen machen oder Durchsuchungen
beantragen oder gar Anklage erheben. Das ist auch der entscheidende
Geburtsfehler für die Zentralstelle.
Warum wurde später nie daran gerührt?
Man dachte bei der Gründung, dass man diese Stelle nur ein paar Jahre
braucht. Denn 1965 wäre der Mord eigentlich verjährt und damit die letzte
verfolgbare Straftat. Dann hat man die Verjährung von Mord auf zunächst
Ende 1969 herausgeschoben, dann auf 1979 und letztlich aufgehoben. Auch die
Zentrale Stelle ist scheibchenweise in ihrer Existenz verlängert worden,
womit man diesen Kompromiss verlängert hat.
Gibt es nach wie vor blinde Flecken in der Verfolgung von NS-Verbrechen?
Schwachstellen sehe ich bei den eigentlichen Kriegsverbrechen. Diese sind
vom Auftrage der Zentralen Stelle ausgenommen worden und verblieben damit
in der alleinigen Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften. Bei den
Justizverbrechen hatte der Bundesgerichtshof relativ früh die Hürden so
hoch gelegt, dass man an die Beteiligten an rechtswidrigen Todesurteilen
nicht mehr herankam.
Kann man jetzt noch an diesen Stellen rütteln?
Bei den Justizverbrechen ist es aus meiner Sicht zu spät, denn die
Personen, die nach Jurastudium und Probezeit in verantwortlichen Funktionen
in der Justiz waren, leben schlicht nicht mehr. Bei den Verbrechen im
Rahmen der Kriegsführung besteht die Schwierigkeit darin, ein Mordmerkmal
nachzuweisen. Auch hier kommen wegen der langen Zeit nur noch damals sehr
junge und niederrangige Soldaten in Betracht; bei denen ist es nahezu
unmöglich nachzuweisen, dass die Tötung heimtückisch erfolgte oder der
einzelne Soldat aus niedrigen Beweggründen gehandelt hat. Wir versuchen es
daher bei den Konzentrationslagern, wo das systematische Verbrechen
offensichtlich war, wo auch der Einzelne seine Mitverantwortung versteht,
wenn er monatelang seinen Dienst tut und seine Funktion diese Morde
ermöglicht.
Wie erleben Sie die öffentliche Reaktion auf die späten NS-Verfahren?
Von offiziell politischer Seite, also den 16 Landesjustizministerien, die
unsere Arbeit hier tragen, gibt es einstimmige Unterstützung. Das ist auch
das überwiegende Bild, das ich in den Medien wahrnehme – in ausländischen
Medien vor allem ein Erstaunen, dass Deutschland diese Prozesse immer noch
betreibt.
Inzwischen betreibt, muss man wohl sagen.
Das sind oft jüngere Journalisten, die unsere Schwachstellen nicht so parat
haben. Die muss ich sogar dämpfen, damit das Bild nicht zu strahlend
erscheint. Wenn man in die Kommentierungen schaut, dann ergibt sich schon
ein anderes Bild. Dann kommt ein Einwand, den ich für sehr nachvollziehbar
halte, nämlich die Frage: „Was wollt ihr heute noch mit den alten
Männern?“, manchmal kombiniert mit „Haben wir nicht andere Probleme?“ bis
hin zu extremen Positionen aus dem rechten Spektrum – die sind aber nicht
prägend.
Und: Was wollen Sie mit den alten Männern?
Das ist die Frage, die mich seit dem ersten Tag umtreibt. Zum Zweck gibt es
eine ganz nüchterne Antwort: Die hat der Gesetzgeber gegeben, indem er sich
dazu durchgerungen hat, dass Mord nicht verjährt. Ich glaube aber, dass es
darüber hinausgeht: Diese Verbrechen hat der damalige deutsche Staat
organisiert. Daraus erwächst für den nachfolgenden demokratischen
Rechtsstaat die Verpflichtung, mit seiner Justiz zu versuchen, diese
Verbrechen aufzuklären und es nicht anderen Initiativen allein zu
überlassen. Unser Blick auf die „kleinen Rädchen“ macht klar, dass diese
Verbrechen nicht einfach geschehen, sondern von einzelnen Menschen begangen
werden.
Die allermeisten Verfahren werden eingestellt. Wie empfinden Sie das?
Die Einstellungen beruhen nicht darauf, dass die Staatsanwaltschaft unsere
Rechtsauffassung nicht teilt, sondern weil die Täter sterben oder nicht
verhandlungsfähig sind. Ich und die meisten Kollegen können damit leben,
dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können, solange wir das Gefühl haben,
dass alle Beteiligten versuchen, das Verfahren zu befördern.
Wie ordnen Sie die Morddrohungen ein, die Sie erhalten? Sind das einzelne
Unbelehrbare?
Wir bekommen nur selten ernsthafte Drohungen. Soweit die Polizei die Fälle
aufklären konnte, handelte es sich um Personen, die mit der Politik im
Allgemeinen oder der Flüchtlingsfrage unzufrieden waren.
Ein Kollege, der an vielen späten NS-Prozessen teilnahm, sagte mir, dass er
nur bei einem einzigen, nämlich dem gegen Oskar Gröning, so etwas wie Reue
erlebt hat.
Ich selbst überblicke keinen so großen Zeitraum. Mein Vorgänger Kurt
Schrimm hat sich 33 Jahre lang mit nationalsozialistischen Verbrechen
beschäftigt; er berichtet, dass er keinen einzigen Beschuldigten erlebt
habe, der sich zu seiner eigenen Beteiligung bekannt oder gar Reue gezeigt
hätte. Das hat kurz nach dem Krieg noch stattgefunden, aber dann hat sich
herumgesprochen, dass es die geschicktere Verteidigung ist, gar nichts zu
sagen oder dass man nichts mitbekommen habe.
Was hat Sie stärker verfolgt: Ihre Arbeit als Staatsanwalt für
Tötungsdelikte in Ravensburg oder die Arbeit in der Zentralstelle?
In Ravensburg war es die Nähe, die räumliche und zeitliche Nähe, was es
belastend machte – das Erleben der Angehörigen und Zeugen, das Leben des
Opfers, das dokumentiert ist. Bei den NS-Verbrechen ist es anders, da hat
man ja etwas Abstand, weil die Beweismittel oft Papier sind oder in wenigen
Fällen vergilbte Fotos. Und leider die Opfer größtenteils anonym bleiben,
bestenfalls können sie als Mindestzahl herausgearbeitet werden. Trotzdem
packt mich bei der Arbeit immer wieder die Erkenntnis, dass hinter jeder
Zahl der Deportierten und sofort Getöteten ein Mensch steht. Trotz aller
Professionalität ist da jeder Tag unterschiedlich.
9 May 2019
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
NS-Straftäter
NS-Justiz
Aufarbeitung
NS-Verbrechen
Schwerpunkt Nationalsozialismus
NS-Verfolgte
John Demjanjuk
SS
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Reinhold Hanning
Justizministerkonferenz
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