| # taz.de -- Adolf-Hitler-Koog zu besichtigen: Deutsche Provinz vom Feinsten | |
| > Die Nazis wollten auf dem heutigen Dieksanderkoog eine Volksgemeinschaft | |
| > im Kleinen schaffen. Nun ist auf dem Gelände ein Lernort entstanden. | |
| Bild: Neulandhalle: Am früheren Versammlungsort ist jetzt eine Ausstellung. | |
| Dieksanderkoog taz | Unter blauen Himmel liegen Felder und Wiesen, aus | |
| denen Getreide und Windräder wachsen, zwischen den Äckern stehen großzügige | |
| Gehöfte, blühende Bäume beschatten die Häuser. Dithmarschens Kooglandschaft | |
| ist deutsche Provinz vom Feinsten, entstanden auf Land, das Menschen dem | |
| Meer abgetrotzt haben. Das klang in den Ohren der Nationalsozialisten | |
| ideal. | |
| Im 1935 eingedeichten „Adolf-Hitler-Koog“ sollte eine Modellgemeinde | |
| entstehen, eine idealtypische Volksgemeinschaft im Kleinen. Nun ist an der | |
| Neulandhalle, dem ehemaligen Versammlungsort des Koogs, eine Ausstellung | |
| eröffnet worden, die an die Geschichte erinnern und sich zu einem | |
| Anziehungspunkt entwickeln soll. | |
| Rund 200 Gäste, darunter Schleswig-Holsteins Landtagspräsident Klaus Schlie | |
| (CDU) und der Schleswiger Bischof Gothart Magaard, nahmen an der Eröffnung | |
| teil. Einige Tage später sind die Ehrengäste fort, aber immerhin ein gutes | |
| Dutzend Neugierige wandert zwischen den mannshohen Stahlbuchstaben herum, | |
| die die Worte Leben, Raum, Volk und Gemeinschaft bilden – die prägenden | |
| Begriffe der ehemaligen NS-Mustergemeinde. | |
| Diese Buchstaben sind die Ausstellungsfläche, auf denen die Projektgruppe | |
| um den Historiker Uwe Danker, Professor an der Europa-Universität | |
| Flensburg, die Geschichte des Ortes behandelt. Die Ausstellungsfläche liegt | |
| also unter freiem Himmel. Die Neulandhalle steht zwar im Zentrum, ist aber | |
| nur für Gruppen oder bei den wöchentlichen Führungen zu besichtigen. | |
| ## Eher martialisch als klerikal | |
| Das Haus gehört seit 1971 der evangelischen Kirche, die es zunächst als | |
| Jugendherberge nutzte. 2011 wurde der Betrieb eingestellt. Abriss oder neue | |
| Nutzung? Danker entwickelte die Idee eines „Historischen Lernortes“. Die | |
| Evangelisch-Lutherische Nordkirche, der Kirchenkreis Dithmarschen und das | |
| Land einigten sich 2017 auf ein Konzept und einen Kostenplan: Mit einer | |
| Million Euro von kirchlicher Seite und einer halben vom Land wurde die | |
| Ausstellung aufgebaut. | |
| Die Neulandhalle liegt am Ende der schnurgeraden Straße, die quer durch den | |
| Koog führt – heute heißt er neutral Dieksanderkoog. Durch die Lage auf | |
| einer Warft, einem künstlichen Hügel, und mit dem Türmchen in der Mitte | |
| wirkt es wie eine Festung. Von einer Anti-Kirche spricht der Kirchenkreis | |
| Dithmarschen in einer Mitteilung. | |
| Das stimme nicht, sagt eine Mitarbeiterin des Ausstellungs-Projektteams. | |
| Warum in der Koog-Gemeinde keine eigene Kirche gebaut wurde, sei unklar – | |
| in den Plänen war sie vorgesehen. Die Neulandhalle sei eher martialisch als | |
| klerikal. Sie diente damals als Treffpunkt für Männer- und Frauengruppen | |
| und war Treffpunkt für Parteiveranstaltungen. | |
| Auf den Buchstaben aus Stahl geht es um Landgewinnung, um die Vorgeschichte | |
| des Kooges, die Siedlerfamilien, um die Ereignisse im Krieg und die Zeit | |
| danach. Als weiteres Element haben Auszubildende des Landesbetriebes | |
| Küstenschutz hinter dem Haus-Hügel Deiche im Kleinformat und Lahnungen | |
| aufgestellt – zwischen diesen Zäunen, die in die See hinausragen, wächst | |
| das Land, aus dem irgendwann ein neuer Koog wird. | |
| Eben weil Landgewinnung so aufwendig ist, war sie ein ideal in der | |
| Wirtschaftskrise der 20er-Jahre. Denn Arbeitskräfte für den Knochenjob gab | |
| es im Überschuss. Ein Kieler Planer entwickelte sogar den | |
| größenwahnsinnigen Plan, die gesamte Küste bis zu den Inseln Föhr, Amrum | |
| und Sylt in eine geschlossene Landfläche zu verwandeln. Dazu kam es nicht. | |
| ## 67 Prozent für die Nazis in Dithmarschen | |
| Doch die Ausstellung zeigt, wie der Gauleiter Schleswig-Holsteins, Hinrich | |
| Lohse, die Westküstentradition mit der NS-Ideologie vermengte: „Lebensraum | |
| gewinnen“ passte bestens ins Konzept. Und die Nazis passten offenbar | |
| bestens in die Region: Bereits 1932 bekam die braune Partei in Dithmarschen | |
| 67 Prozent Zustimmung, in Schleswig-Holstein waren es 51 Prozent. Im | |
| Gesamtreich landete die NSDAP bei 37 Prozent. | |
| Da seit Anfang des Jahrhunderts verstärkt in Landgewinnung investiert | |
| worden war, konnte Gauleiter Lohse schnell Erfolge präsentieren: Die | |
| Dieksanderbucht war 1935 zum Eindeichen bereit. Zur Einweihung der | |
| Mustergemeinde kam der Führer persönlich vorbei, der Reichsrundfunk | |
| berichtete ausführlich von den Feierlichkeiten. | |
| Nur ausgewählte Familien durften hier siedeln: „Alte Kämpfer“, die bereits | |
| vor 1930 in die Partei eingetreten waren, Dithmarscher Bauernsöhne, die als | |
| Zweit- oder Drittgeborene nicht die Höfe ihrer Familien übernehmen konnten. | |
| Alle sollten gleich sein, aber die Felder waren unterschiedlich groß – es | |
| gab Gleiche und Gleichere. Die Bauernfamilien standen Schlange um die | |
| kostenlosen Höfe. | |
| Sie mussten dafür „Propagandatourismus“ ertragen, berichtet die | |
| Historikerin aus dem Projektteam: „Täglich rückten bis zu 20 Busse mit | |
| Journalisten und Neugierigen aus dem ganzen Reich an. Die Leute standen | |
| richtig unter Beobachtung.“ Trotz der handverlesenen Gruppe ging einiges | |
| schief: „Mein Liebling ist ein koffeinsüchtiger Bauer, der irgendwann den | |
| Koog verlassen musste“, sagt die Historikerin. | |
| ## Die Devotionalien sind weg | |
| Nach dem Krieg gab es Gerüchte, dass sich „hochrangige Nazis“ im Musterkoog | |
| versteckten – gefunden wurde niemand. Aber Devotionalien-Fans stahlen die | |
| alte Sturmglocke und den Grundstein der Halle. Ebenfalls verschwunden sind | |
| die grimmig dreinschauenden Wächterfiguren, die in den 30er-Jahren vor der | |
| Neulandhalle standen. | |
| Draußen bewundert ein Landwirt aus der Nachbarschaft die Ausstellung. Es | |
| sei wichtig, dass an die Geschichte erinnert wird, sagt der Mann, dessen | |
| Familie „damals“ treu zum Regime gestanden habe: „Mein Opa war glühender | |
| Nazi. Verrückt, dass alle damals so darauf reingefallen sind.“ Damit es | |
| nicht wieder passiere, „ist so wichtig, dass es nie vergessen wird“. Und | |
| obendrein sei die Ausstellung wichtig für die Region: „Das zieht | |
| hoffentlich auch ein paar Leute her.“ | |
| 16 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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