# taz.de -- Genom-Forschung an Behinderten: "Rechtlich höchst fragwürdig" | |
> Die Bundesregierung finanziert fremdnützige Forschung an geistig | |
> Behinderten. Die Lebenshilfe kritisiert das als moderne Eugenik – und | |
> fordert einen Geldstopp. | |
Bild: Soll Aufschluss über Ursachen geistiger Behinderungen geben: Analyse von… | |
Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Erbgut und geistiger Behinderung? Das | |
Humangenetiker-Netzwerk Mentale Retardierung (MRNET) sucht nach genetischen | |
Ursachen geistiger Behinderung, unterstützt vom Bundesforschungsministerium | |
(BMBF). Die Bundesvereinigung "Lebenshilfe für Menschen mit geistiger | |
Behinderung" fordert Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) auf, "das | |
rechtlich höchst fragwürdige MRNET-Projekt nicht mehr mit deutschen | |
Steuermitteln zu unterstützen". | |
Im Rahmen einer Studie an sieben deutschen Unis haben Eltern von Kindern | |
mit "psychomotorischer Entwicklungsstörung" zugestimmt, dass ihnen zwecks | |
genetischer Analyse eine Blut- oder Gewebeprobe entnommen wird. Die | |
Forscher dürfen die Proben unbefristet aufbewahren; einen gesundheitlichen | |
Nutzen stellt die Einwilligungserklärung den Probanden nicht in Aussicht. | |
Mit ihrem Appell an Schavan reagiert die Lebenshilfe auf Ausführungen der | |
Bundesregierung zu kritischen Nachfragen der Grünen im Bundestag. Deren | |
Gesundheitspolitikerin Biggi Bender beklagt "die faktische | |
Nichtbeantwortung all unserer Fragen". | |
"Wir gehen davon aus, dass bei dieser Studie an Kindern mit sogenannter | |
geistiger Behinderung fremdnützige Aspekte der Forschung im Vordergrund | |
stehen", sagt Bender; die Regierung betreibe aber "weiterhin eine Politik | |
des Nichthinsehenwollens und Nichtfestlegenwollens". | |
Das BMBF gibt an, es habe nicht selbst geprüft, ob die MRNET-Studie | |
überhaupt rechtmäßig ist. Stattdessen erklärt Staatssekretär Georg Schütt… | |
dass ein "uneingeschränkt positives Votum" aller zuständigen | |
Ethikkommissionen ebenso vorgelegen habe wie eine positive Bewertung eines | |
"unabhängigen und international besetzten Expertengremiums". Diese | |
Stellungnahmen sind jedoch nicht öffentlich zugänglich. | |
Die BMBF-Förderrichtlinien fordern ausdrücklich schriftliche | |
Verwertungspläne und die begründete Aussicht auf Erfindungen und Patente. | |
Doch zur Frage, ob sie denn neue, auch vorgeburtliche Gentests erwarte, | |
schweigt die Bundesregierung ebenso wie zu dieser Selbstdarstellung des | |
MRNET: "Mentale Retardierung", erklärt das Forschernetzwerk auf seiner | |
Website, "betrifft etwa zwei Prozent der Bevölkerung und ist der | |
bedeutendste einzelne Kostenfaktor im Gesundheitswesen." Staatssekretär | |
Schütte teilt lediglich mit: "Die Bundesregierung kommentiert grundsätzlich | |
keine Internetseiten Dritter." | |
Deutlicher wird dagegen der behindertenpolitische Sprecher der Grünen, | |
Markus Kurth: Mit Verschwiegenheit sei der Verdacht nicht auszuräumen, dass | |
im MRNET geforscht würde, "um Geld im Gesundheitswesen einzusparen, indem | |
sogenannte geistige Behinderung wegtherapiert wird bzw. gar nicht erst | |
entsteht". Sollte sich dies bestätigen, "handelte es sich hier um moderne | |
Eugenik, die mit über vier Millionen Euro von der Bundesregierung gefördert | |
wird", meint Kurth. | |
Die Netzwerker forschen derweil weiter. Ende September etwa laden sie zu | |
einer dreitägigen "Internationalen Konferenz über Genetik und Neurobiologie | |
mentaler Retardierung" nach Erlangen. Mitveranstalterin ist die Leopoldina, | |
also die Nationale Akademie der Wissenschaften. Gesponsert wird die Tagung | |
vom BMBF und einigen Firmen, die Technologien für Gen-Analysen anbieten. | |
24 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Peter Görlitzer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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