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# taz.de -- Fremdnützige Forschung: Blutproben für Genomforscher
> Wissenschaftler suchen bei Kindern nach genetischen Auslösern geistiger
> Behinderung. Es handele sich dabei um fremdnützige Forschung, kritisiert
> die Lebenshilfe.
Bild: Die Sequenzierung des Genoms übernehmen Maschinen.
HAMBURG taz | Im Nationalen Genomforschungsnetz werden auch Wissenschaftler
gefördert, die nach genetischen Ursachen geistiger Behinderung suchen.
Deren Netzwerk Mentale Retardierung (MRNET) wird nun hinterfragt: In einer
multizentrischen Studie "stehen fremdnützige Aspekte der Forschung im
Vordergrund", meint die Bundesvereinigung Lebenshilfe, die die Interessen
von Menschen mit geistiger Behinderung vertritt.
Das Forschungsprojekt trägt den Titel "Aufklärung genetischer Ursachen der
psychomotorischen Entwicklungsstörung". Geleitet wird die Studie von dem
Erlanger Professor André Reis, der auch als MRNET-Koordinator fungiert und
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik ist.
Im Rahmen der Studie werden Mütter und Väter von Kindern mit geistiger
Behinderung gebeten, ihr Kind als Proband zur Verfügung zu stellen. Wer
mitmacht, wird körperlich untersucht und fotografiert; zudem willigen die
Eltern stellvertretend für ihre Söhne und Töchter ein, dass diesen zwecks
genetischer Analyse eine Blut- oder Gewebeprobe entnommen wird, die das
Institut zeitlich unbefristet aufbewahren darf.
Unterschreiben sollen die Eltern auch dies: "Wir sind damit einverstanden,
dass die entnommenen Blut-/Gewebeproben im Rahmen anderer
wissenschaftlicher Kooperationsprojekte an andere Kliniken oder Institute
im In- oder Ausland versandt werden dürfen." Zudem sollen die Mütter und
Väter akzeptieren, dass sie "keinerlei Ansprüche" auf Vergütung, Tantiemen
oder Gewinne haben, die "möglicherweise auf der Basis der Forschung mit
unseren Blut- bzw. Gewebeproben erlangt werden".
Einen gesundheitlichen Nutzen stellt die Einwilligungserklärung den
Teilnehmern nicht in Aussicht. Dies ist auch der Bundesvereinigung
Lebenshilfe aufgefallen, in der über 130.000 Menschen organisiert sind.
Nach Lektüre der Erlanger Unterlagen kam sie im Sommer 2009 zu dem Schluss,
dass bei diesem wissenschaftlichen Projekt mit nichteinwilligungsfähigen
Testpersonen "fremdnützige Aspekte der Forschung im Vordergrund" stehen.
"Eine bloße Einordnung der Behinderung", kritisiert Professorin Jeanne
Nicklas-Faust vom Lebenshilfe-Vorstand, "ist für den oder die Betroffene
nicht gleichbedeutend mit einem tatsächlichen Nutzen, da aus der Zuordnung
nicht zwangsläufig konkrete therapeutische Konsequenzen folgen."
Studienbedingte Erhebung der Familienanamnese, zeitlich unbegrenzte
Verwendung von Blut- und Gewebeproben, Veröffentlichung von Probandenfotos
in Fachzeitschriften oder auf Kongressen - all dies seien für die
betroffenen Kinder "tiefgreifende Eingriffe in das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung".
Fremdnützige Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Menschen gilt
hierzulande als unethisch und nicht erlaubt; die Bioethikkonvention des
Europarats von 1997, die solche Studien unter bestimmten Bedingungen
billigt, wurde bis heute nicht von der Bundesrepublik gezeichnet - zu stark
war damals der Widerstand in der deutschen Öffentlichkeit.
Die Lebenshilfe informierte den MRNET-Hauptfinanzier, also das
Bundesforschungsministerium. Ressortchefin Annette Schavan (CDU) antwortete
Ende Oktober 2009 und erklärte, ein internationales Expertengremium habe
das MRNET begutachtet und "zur Förderung empfohlen". Die Ministerin
versicherte aber, dass das Lebenshilfe-Schreiben ihr Haus veranlasst habe,
den Projektleiter "nochmals auf seine ärztliche und juristische
Verantwortung" aufmerksam zu machen - konkreter wurde Schavan nicht.
Einige Wochen später trafen sich Reis und Nicklas-Faust in Berlin; das
Gespräch brachte keine Klärung. Anschließend formulierte sie ihre Fragen
und Bedenken in einem ausführlichen Brief an den Projektleiter mit der
Bitte um schriftliche Stellungnahme; Kopien gingen an die MRNET-Partner
sowie an die zuständigen Ethikkommissionen. Reaktionen bisher:
konzertiertes Schweigen.
Ausführlich äußerte sich Professor Reis jetzt zu Nachfragen der taz. Die
Bedenken der Lebenshilfe seien "eine persönliche Meinung von Frau
Nicklas-Faust", die in der ethischen Diskussion als "Randposition"
betrachtet werde. Reis betont, neun Ethikkommissionen an allen beteiligten
Studienstandorten hätten das Projekt vorab "begutachtet und als
unbedenklich beurteilt".
Selbsthilfegruppen seien nach Darstellung von Reis nicht informiert worden,
"da uns keine bekannt war, die sich für Ursachenforschung bei geistig
Behinderten interessiert". Dass Betroffene "unser Forschungsprojekt und
unsere Ziele unterstützen", belege aber die Tatsache, dass Eltern von "über
2.100 Patienten" in die Studienteilnahme schriftlich eingewilligt haben.
Reis räumt jedoch ein, dass für die Teilnehmer dieser Studie kein
persönlicher therapeutischer Nutzen zu erwarten sei. Es bestehe aber die
Hoffnung, dass man perspektivisch Formen geistiger Behinderung "wird
lindern oder vielleicht sogar heilen können" - die Grundlagen solle die
Erforschung genetischer Ursachen legen.
Ob und wann therapeutische Optionen Realität werden, lasse sich seriös
nicht vorhersagen; Patentanmeldungen, etwa für neue Testverfahren, die ja
ein erklärter Zweck des Genomforschungsnetzes sind, gibt es aus dem MRNET
laut Reis bisher nicht. Als "Hoffnungsschimmer" wertet er, dass zwei
Schweizer Pharmakonzerne vor einigen Monaten im Ausland erste klinische
Versuche (Phase-II-Studien) zum Fragilen-X-Syndrom (FraX) gestartet haben.
Ein mutiertes Gen, das diese geistige Behinderung verursachen soll, war
1991 entdeckt worden. Probanden mit FraX erhielten zum Beispiel eine
Substanz, die den gestörten Glutamatstoffwechsel im Gehirn beeinflussen
soll.
Allerdings seien die eingesetzten Glutamatrezeptor-Antagonisten
"ursprünglich für andere Indikationen entwickelt worden", erläutert Reis
und fügt grundsätzlich hinzu: "Mir ist keine Firma bekannt, die gezielt
Arzneimittel für geistig Behinderte entwickelt."
Die Zukunft des MRNET ist derzeit ungewiss, die erste Förderphase endet am
31. März 2011. Die Netzwerker wollen weiterforschen, Koordinator Reis
schreibt gerade an einem Förderantrag für weitere drei Jahre.
Unterdessen sucht die Lebenshilfe nach politischer Unterstützung. Ende
April alarmierte sie den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung,
Hubert Hüppe. Der Christdemokrat wird gebeten, die "politische Klärung der
Zulässigkeit" dieses Forschungsprojektes in die Wege zu leiten. Auf Anfrage
der taz sagte Hüppe, er habe den Eindruck, dass die rechtliche Bewertung
der Lebenshilfe zutreffend sei.
3 Aug 2010
## AUTOREN
Klaus-Peter Görlitzer
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