# taz.de -- Euthanasie im Dritten Reich: Vom Mensch zum Objekt degradiert | |
> In Zeiten von Donald Trump und AfD ist der Blick zurück wichtiger denn | |
> je. Denn manche Parallelen zur NS-Geschichte sind erschreckend. | |
Bild: Der Wert des Lebens von Walter Frick wurde als ungenügend eingestuft | |
Vor bald 90 Jahren schickte mein Großvater Walter Frick einen Brief mit | |
Bild an seine Eltern nach Zweibrücken in der Pfalz. „Ihr seht auf dem Bild | |
den ‚Dirigiergalgen‘, wie er sonntags aussieht, wenn er mehr der | |
Unterhaltung dient. Denn man könnte von einem Ernste bei der Arbeit hier | |
nicht reden, oder? Ja, ich bin gerade noch rechtzeitig auf den Stuhl | |
gekommen – da ging das Blitzlicht los. Findet ihr das Bildchen nicht | |
ulkig?“ | |
Er studierte zu dieser Zeit in München Dirigieren, Klavier und Komposition, | |
das Foto ist eine Momentaufnahme aus einem glücklichen, unbeschwerten | |
Leben. Einem Leben, über das sich ab 1933 ein immer länger werdender | |
Schatten legte. Einem Leben, das für meinen Großvater 1941 in der | |
Nervenheilanstalt in Bernau bei Berlin endete. Ein Jahr zuvor hatte er | |
seine Stelle als Opernkapellmeister am Rostocker Stadttheater verloren, | |
seine Frau Luise war mit dem zweiten Kind schwanger. | |
Um die Familie ernähren zu können, sah Walter sich gezwungen, eine Art | |
Weiterbildung zum Musiklehrer zu absolvieren, doch gleichzeitig stand sein | |
Wehrmacht-Einzug kurz bevor. Walter hatte große Angst vor dem Dienst an der | |
Waffe, bewarb sich verzweifelt auf alle nur denkbaren Vakanzen. Seine | |
letzte Hoffnung war eine Vormerkung auf die Intendantenstelle in Metz. | |
Diese wurde anderweitig besetzt, der Gang zur Wehrmacht unausweichlich. | |
## In der „Irrenanstalt“ gestorben | |
Wie sollte er das überstehen? Was würde aus seiner Familie werden? Während | |
eines Besuchs bei seiner Schwester Hedwig verließ ihn alle Hoffnung, alle | |
Kraft. Weinend sei er zusammengebrochen, erzählte Hedwig meinem Vater | |
vierzig Jahre später. Ihr Mann, der SS-Hauptsturmführer Armin Beilhack, | |
habe Walter dann wegbringen lassen in eine Irrenanstalt. Dort sei er fünf | |
Monate später gestorben, laut Sterbeurkunde an „trauriger Verstimmung, | |
Depression und Erschöpfung“. | |
Doch die Sterbeurkunde wurde nach Aussage Armin Beilhacks ausgefüllt. Und | |
auf die Frage meines Vaters, was sie denn glaube, hatte Hedwig damals | |
lapidar entgegnet: „Die werden meinem Bruder die Spritze gegeben haben“. | |
Dieser Dialog zwischen meinem Vater und seiner Tante liegt mehrere | |
Jahrzehnte zurück und war zugleich Anfang und Ende seiner Bemühungen, etwas | |
über das Schicksal des eigenen Vaters zu erfahren. | |
Nie könnte ich es ihm übelnehmen. Er ist 1940 geboren, ich 1990. Wie könnte | |
ich mir anmaßen ihn anzuklagen, hatte er doch von Kindesbeinen an gelernt, | |
dass bestimmte Fragen mit Schweigen beantwortet wurden und dass nicht | |
gestellte Fragen das Zusammenleben aller Beteiligten erleichtern würden – | |
zumindest nach außen hin. | |
## Eingemauert, was schmerzhaft war | |
Mit bloßen Händen hatten die Menschen nach dem Krieg ihre Fassaden | |
wiederaufgebaut, die ihrer Häuser und die ihrer Seelen. Hatten eingemauert, | |
was schmerzhaft war. Doch nicht nur unter ihnen, auch unter ihren Kindern, | |
Enkeln und Urenkeln gibt es mittlerweile immer mehr Menschen, die sich | |
wenig begeistert zeigen vom „Erinnerungsboom“, der vor allem in den letzten | |
Jahren in Deutschland ausgebrochen zu sein scheint. Man habe doch | |
mittlerweile wirklich genug aufgearbeitet, heißt es dann. | |
Doch dieser Erinnerungsüberdruss ist der Mörtel, der die Mauer des | |
Schweigens an manchen Stellen bis zum heutigen Tage zusammenhält. Eine | |
Mauer, die nicht nur vor der Vergangenheit und den damit verbundenen | |
Gefühlen hochgezogen wurde, sondern uns gleichsam von der Zukunft trennt. | |
Ja, Deutschland ist ein Land der Denkmäler, Gedenkstätten und | |
Erinnerungsorte. Beinahe hilflos stehen sie manchmal da, die verwitternden | |
Statuen und Tafeln und die stillen Gebäude, in denen einen das Grauen | |
vergangener Zeiten empfängt. Gerade Gedenkstätten wollen mit ihrem | |
umfangreichen pädagogischen Angebot weit mehr, als Vergangenes vor Augen | |
führen. Sie wollen Bezüge herstellen, wollen die Frage beantworten, die den | |
Besucher_innen ins Gesicht geschrieben steht: Was hat das mit mir zu tun? | |
Ein Kapitel des Dritten Reiches, mit dessen Auseinandersetzung die | |
Deutschen sich bis heute besonders schwertun, ist das der NS-„Euthanasie“, | |
der Tötung Hunderttausender Patient_innen in Heil- und Pflegeanstalten. | |
Legitimiert wurde dieser gezielte Massenmord mit den „Erkenntnissen“ der | |
Eugenik, der Erbgesundheitslehre, die Menschen in lebenswertes und | |
lebensunwertes Leben einteilte. | |
## Den Wert eines Lebens in Frage stellen | |
„Krankes Erbgut“, so hieß es, müsse „ausgemerzt“, der „Volkskörper… | |
„Ballastexistenzen“ befreit werden. Gemeint waren Menschen mit körperlichen | |
und geistigen Behinderungen, psychischen oder chronischen Krankheiten, aber | |
auch unangepasste Kinder, alte Menschen, ja sogar schwer verwundete | |
Soldaten. Der Wert ihres Lebens wurde infrage gestellt. Das Kriterium für | |
ihre Ermordung war ihr nicht mehr vorhandener Nutzen für die Gesellschaft. | |
Was zunächst nach einer „typisch nationalsozialistischen“ Ideologie klingt, | |
hat seine Wurzeln weit vor 1933 und war nach 1945 alles andere als gebannt. | |
Menschen, die nicht der Norm entsprechen, sind auch heute noch nicht gern | |
gesehen, dabei ist es die Gesellschaft selbst, die ebenjene Norm stetig | |
reproduziert: Würde keiner von „normal“ sprechen, gäbe es auch kein | |
„anders“. Die Ausgrenzung von Minderheiten ist in unserem sozialen Gefüge | |
immer noch fest verankert; das zeigt sich an Vorhaben wie dem umstrittenen | |
Bundesteilhabegestz oder der Debatte um Arzneimitteltests an Demenzkranken. | |
Mögen die NS-Patientenmorde auch eine historische Gegebenheit sein, etwas, | |
das passiert ist, so haben wir die Stigmatisierung von Behinderung, | |
Krankheit und Schwäche noch lange nicht „passiert“. | |
Mein Großvater war sehr empfindsam – hochsensibel würde man heute sagen. | |
Vielleicht würde man ihm auch „depressive Episoden“ attestieren. Aber was | |
tut das zur Sache? Worum es wirklich geht, ist die Degradierung von | |
Menschen zu Objekten, über die man bestimmen kann – ein Vorgehen, das | |
damals wie heute praktiziert und von großen Teilen der Gesellschaft | |
geduldet wird. Die Kluft zwischen „Gesunden“ und „Kranken“ existiert | |
weiter. | |
Behinderungen und psychische Erkrankungen sind noch immer ein Tabu, ein | |
Makel, den man besser für sich behält. Ist dies nicht möglich, wird man | |
schnell auf ebenjenen Makel reduziert. Gerade im Hinblick auf diese | |
Kontinuität der Ausgrenzung von Menschen ist die Auseinandersetzung mit der | |
deutschen Geschichte so wichtig. Dann merken wir vielleicht, dass | |
Vergangenheit kein Geschichtsbuch ist, in dem man bestimmte Kapitel | |
überspringen oder das man einfach zuklappen kann. Vielmehr sind wir selbst | |
längst Teil der Geschichte. | |
Diese Erkenntnis aber ist mit Verantwortung verbunden – Verantwortung für | |
einen bewussten und gegenwartsbezogenen Umgang mit dem, was hinter uns | |
liegt. Und dazu gehört auch die Gewissheit, dass hinter jedem Opfer der | |
Zeit des Nationalsozialismus ein Mensch zu finden ist. Ein Mensch, in dem | |
wir uns selbst erkennen können. Das wurde mir in den vergangenen Jahren | |
durch die Geschichte meines Großvaters bewusst. | |
2 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Julia Frick | |
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