| # taz.de -- Serie „Wie es sein könnte“ (1): Unsichtbarer Schmerz | |
| > Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit | |
| > Behinderung gut verzichten. Mitreisende ohne Mitgefühl etwa. | |
| Bild: Als junge Frau einen Sitzplatz einfordern? Da reagieren viele kalt und un… | |
| Eilig laufe ich mit meinem großen Reisekoffer über das Gleis. Noch zwei | |
| Minuten, und die Türen des ICE schließen sich. Das erste Problem, mit dem | |
| ich es hier zu tun habe, ist, dass ich immer heimlich renne. Genauer | |
| gesagt: Nur ich weiß, dass ich es eilig habe. | |
| Denn seit meine Wirbelsäule durch vier Titanschrauben und zwei ebensolche | |
| Stäbe ergänzt wurde, funktioniert das mit dem Rennen nicht mehr so. Wenn | |
| ich mich beeile, all meine Kraft zusammennehme, um beispielsweise einen Zug | |
| zu erwischen, ist das höchstens an meinem gequälten Gesichtsausdruck zu | |
| erkennen. | |
| Aber auf Bahnhöfen gucken irgendwie alle gequält. In diesem Fall hatte ich | |
| Glück. Meine Beine trugen mich, die Rollen trugen den Koffer, und so | |
| standen wir dann vor der Zugtür, die zwei Stufen dahinter ein | |
| unüberwindbares Hindernis. „Entschuldigung“, sprach ich einen Herrn an, der | |
| gerade einstieg. „Wären Sie so freundlich, meinen Koffer hineinzuheben?“ | |
| Oft sage ich, dass ich rückengeschädigt bin, denn sieben Jahre nach meinen | |
| Operationen glaube ich noch immer, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass | |
| ich – jung, weiblich und auf den ersten Blick kerngesund – nicht in der | |
| Lage bin, wesentlich mehr als einen Sixpack Bier zu heben. Ich kam nicht | |
| dazu, der Mann drehte sich um und entgegnete: „Nee, nee, junge Frau, wenn | |
| Se Ihren Koffer nich tragen können, dürfen Se nich so viel mitnehmen.“ | |
| Solche Situationen erlebe ich oft. Es werden Maßstäbe an mich angelegt, | |
| denen ich nicht entspreche. Seit sieben Jahren leide ich unter chronischen | |
| Rückenschmerzen, ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt, keine zu haben. | |
| Wenn ich in vollen Bussen lange stehen muss, wünsche ich mir manchmal, ich | |
| sei alt und hutzelig. Da würde man mir dann einen Platz anbieten. | |
| Stattdessen muss ich mich offenbaren, immer mit der Angst, nicht ernst | |
| genommen zu werden. „Nen Bandscheibenvorfall? Das kannste deiner Oma | |
| erzählen“, empörte sich vor vielen Jahren eine Frau, als ich vorsichtig | |
| fragte, ob ich mich setzen dürfe. Damals war ich 13. Mit 13 hat man einfach | |
| keinen Bandscheibenvorfall. | |
| Voreilige Schlüsse ziehen wir alle, keine Frage. Doch erst wenn wir genauer | |
| hinsehen, ja, wörtlich versuchen, Einsicht in unser Gegenüber zu gewinnen – | |
| erst dann leben wir in Gemeinschaft miteinander. Oder anders formuliert: | |
| Wer Vor-urteile hat, sollte dringend nochmal nach-denken. | |
| Julia Frick, Jahrgang 1990, ist Kulturanthropologin und Autorin | |
| 1 Dec 2016 | |
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| Julia Frick | |
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