Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Reisen mit Behinderung: Sehen mit den Füßen
> Bei „Tour de Sens“ begleiten Sehende die Blinden als Mitreisende und
> müssen weniger bezahlen. Oft werden die Teilnehmer schnell vertraut.
Bild: Blinde Reisende testen Kräuter
Die Augen scannen den Weg. Hier kommt die Pfütze, weiter hinten liegt ein
schmaler Baumstamm. „Pfütze voraus“, warne ich. Patsch. „Das war etwas zu
spät“, meint Dietmar, der geradewegs in die Lache gestapft ist. Seine
Schuhe sind nass. Aber Dietmar bleibt locker. „Macht nichts“, sagt er. Als
Blinder ist man hart im Nehmen, was kleine Hindernisse betrifft.
Dietmar läuft ganz dicht hinter mir, ich bin sozusagen sein Führhund hier
im Thüringer Wald. An meinen Rucksack hat er eine knallrote Warnweste
gehängt, ein verschwommenes rotes Etwas ist das in seinen Augen. Es reicht
zur Orientierung für ihn, der fast blind ist.
Vor mir führen drei andere sehende Begleiter jeweils einen blinden Wanderer
oder eine Wanderin. Geli fasst den Oberarm von Suse, Jan hält sich an
Annemarie. Wer etwas mehr Abstand möchte, kann auch nur ein Bändchen
ergreifen, das der Begleiter in der Hand hält. Einige der Blinden haben
zusätzlich noch einen weißen Taststock dabei. Man duzt sich.
Beim Reiseveranstalter „Tour de Sens“ führen sehende Teilnehmer Blinde,
aber nicht als bezahlte Dienstleister, sondern als Mitreisende, die einen
reduzierten Reisepreis zahlen. Zusätzlich zu den Blinden und Sehenden
fahren auf dieser viertägigen Wanderreise in Thüringen auch noch fünf
Sehbehinderte mit, die ohne Führung zurechtkommen.
Zweierteams wechseln täglich
Heute sind wir unterwegs zum Berghotel „Stutenhaus“ am Rande des
Biosphärenreservats im Vessertal. „Leichte bis mittelschwere Wanderung, 14
Kilometer, 275 Meter Höhenunterschied“ steht auf dem Reiseplan. Die
Zweierteams wechseln täglich, und ich bin an diesem Tag für Dietmar aus
Riesa zuständig; seinen Nachnamen will er nicht in der Zeitung haben.
Dietmar ist superfit, 68 Jahre alt, war früher Ingenieur in einem
Lebensmittelbetrieb, bevor der Unfall mit der Natronlauge vor 30 Jahren
seine Hornhaut fast vollständig zerstörte. „Mein Motto nach dem Unfall war
ein Spruch von Shakespeare“, erzählt er: ‚Steter Gram um das Unvermeidliche
höhlt nur das Herz, anstatt zu heilen.‘ “ Er hat seine Warnweste immer im
Gepäck, für den Begleiter, und war in der Pfalz, in den Alpen, in Hamburg,
München, auf Hiddensee unterwegs.
Mitleid oder betüddeln sind auf der Reise tabu. Dietmar macht das Führen
eher zu einer Art technischen Aufgabe. Und das bedeutet für mich: Ich muss
flotter gehen und nicht jede kleine Unebenheit ansagen. „Ich habe schon
eine gewisse Lockerheit in den Knien, um bei Stufen oder Kuhlen flexibel zu
sein“, sagt er, „man entwickelt einen breiteren Gang.“ Ich scanne den Weg,
nach einer gewissen Zeit fallen mir nur noch größere Baumstämme,
Matschlöcher und grobe Wurzeln auf.
Mit Blinden zu gehen ist erst mal merkwürdig für eine Sehende wie mich. Man
stellt sich das so vor, dass da Leute durch eine tiefdunkle Welt
marschieren. Aber so ist es nicht, das kapiere ich schnell. Es fehlt den
Leuten einfach ein Sinneskanal, der visuelle, dafür sind die anderen um so
weiter geöffnet, weil viel weniger Informationen aus der Umwelt kommen als
bei einem Sehenden und jede Information daher umso kostbarer ist und
sorgfältig abgespeichert werden muss. Der britische Religionsphilosoph John
Hull, selbst spät erblindet, bezeichnete Blinde als „Ganzkörperseher“.
## Programmpunkt Käuter tasten
„Es ist aufregend, die verschiedenen Bodenarten unter den Füßen zu spüren,
die Feld- oder Waldwege, das Gras, das Moos, die Wurzeln oder den Kies“,
sagt Geli Walch aus Ulm, die munter bergan stapft, am Arm von Suse
Mannsperger. Blinde Wanderer sehen „mit den Füßen“. Walch,
Betriebstelefonistin, ist seit ihrer Kindheit blind. „Für mich ist das
Wandern eine Möglichkeit, mit der Natur in Kontakt zu kommen“, erzählt sie.
Walch war schon im Trentino, in Andalusien, auch in den Alpen mit dem
österreichischen Blindenverband.
Dietmar verfügt noch über einen Bilderspeicher aus der Zeit vor seiner
Erblindung; der wird abgerufen, wenn es irgendwo rauscht und plätschert und
alles grün oder grau oder weiß ist um ihn herum, schildert er. „Ich brauche
keine langen Beschreibungen.“ Sein Kopf erzeugt nach Geräuschen und
Farbflecken selbst Bilder von Bäumen, Wiesen, Felsen, auch wenn die Formen
sich mit der Zeit verändert haben. Wenn Sehende manchmal fragen, warum
Blinde überhaupt reisen, wo das doch so aufwendig sei und sie doch eh
nichts sehen, dann „könnte ich in die Luft gehen“, erzählt eine
Teilnehmerin.
Eine der beiden Reiseleiterinnen, Sandra Jeuck, ist Umweltbiologin und für
die Tast- und Riechführungen zuständig, die unabdingbar sind auf jeder
Sehbehindertenreise. Während eines Zwischenstopps im Biosphärenreservat, im
grünen, vor Feuchtigkeit dampfenden Wald, reicht sie eine großblättrige
Pflanze herum, die alle betasten und erriechen: Pestwurz, „ein Kraut, von
dem man sich früher Heilung von der Pest erhoffte“, erzählt Jeuck. Dann
geht ein Zweigchen „Frauenmantel“ herum; der Stiel ist haarig, das Kraut
verwendet man für Tee.
„Das ist das Größte, wenn eine Botanikerin dabei ist, die sich mit Pflanzen
auskennt“, sagt Walch. Schon die Führung am Vortag, in einem botanischen
Garten am Rennsteig, kam gut an. Die Teilnehmer betasteten die pelzigen
Blätter vom Edelweiß, die Wasserperlen am Habichtskraut und konnten am Ende
der Führung die Zapfen von Tannen, Kiefern und Lärchen unterscheiden. Alles
ist konzentrierte Beschaffung von Informationen über die Umwelt, mithilfe
der Fingerspitzen, der Nase, der Ohren.
## Richtungsänderung nach der Uhr
Der Aufstieg zum „Stutenhaus“ ist geschafft. Sogar die Sonne zeigt sich.
„Tür schwenkt rechts weg“, sage ich zu Dietmar. Blinde müssen vorher
wissen, in welche Richtung eine Tür aufgeht, das hat er mir zuvor erklärt.
Im „Stutenhaus“ bestellt Dietmar Rostbrät mit Kartoffeln und kleinem Salat.
„Brät auf sechs, Kartoffeln auf zwölf, Salat auf drei“, teile ich ihm mit.
Die Ansage von Richtungen und Platzierungen nach dem Schema der Uhr, um
beispielsweise zu beschreiben, an welcher Stelle das Essen auf dem Teller
liegt, ist wichtig für die Blinden, damit sie nicht suchend auf dem Teller
herumstochern müssen. Es gehört zum Service der Sehenden ebenso wie das
Vorlesen der Speisekarte und die Begleitung zur Toilettentür.
Manche Blinde mögen es, wenn man Richtungsänderungen mit klaren Angaben
ankündigt: „Nach links 90 Grad“, sage ich, als wir uns später auf den Weg
zur Toilette machen. Dietmar hält mich am Oberarm. Dann geht es noch mal
nach rechts 90 Grad, schließlich die Treppe runter. Dietmar zählt die
Stufen, um später wieder selbstständig nach oben steigen zu können.
Im Restaurant haben die andern ausführlich über das Essen diskutiert. Warum
machen Sehende bei einem solchen Urlaub mit, obwohl die
Reisepreisermäßigung ja nur 30 Prozent beträgt? „Ich wollte mal etwas
anderes machen“, schildert Suse Mannsperger ihre Motivation. Die 60-Jährige
hat in einem großen Industriekonzern gearbeitet, ein Bürojob, jetzt ist sie
in Altersteilzeit. Ja, die Begleitung der Blinden sei „schon ein bisschen
Arbeit, man hat Verantwortung“, räumt sie ein, „da war am Anfang schon
Unsicherheit. Aber es ging leichter, als ich dachte“.
„Ich empfinde es nicht als Belastung, zu begleiten“, sagt Annemarie Babbel,
Verwaltungswirtin und seit diesem Sommer im Ruhestand. Sie mag die
Gruppenatmosphäre, „man geht vom ersten Moment an offen aufeinander zu“.
Sie ist als Sehende schon zum dritten Mal dabei und hat eine sehbehinderte
Freundin, die gleichfalls mitreist.
## Betreuung strengt an
Wer als Single reist, findet in der Inklusionswanderung eine Art
zusätzliche Aufgabe und Kontakt. Trotzdem ist das Programm der Wanderreise
sportlich anspruchsvoll. Dietmar mokiert sich über die „Wanderpflaumen“,
die ihm im Laufe seiner Wanderreisen schon begegnet seien. Ich bin froh,
mit ihm, genauer gesagt, vor ihm, Schritt halten zu können.
Bei der Betreuung ist keine pflegerische Hilfe für die Blinden notwendig.
Einmal von den Reiseleiterinnen auf das Zimmer gebracht, tasten sich die
blinden TeilnehmerInnen am ersten Abend durch ihr Zimmer: Bett, Tisch,
Schrank, dann wieder zurück und links in die Tür zum Bad. Keiner braucht im
Zimmer eine Unterstützung. Um am Abend wieder vom Restaurant aufs Zimmer
zurückzufinden, hilft der weiße Stock mit der rollenden Kugel an der
Spitze, der auf dem Boden im Halbkreis hin- und hergeschwenkt wird und vor
Hindernissen warnt. Manche der Blinden haben tastbare Punkte auf die
Türklinken geklebt; an deren Position erkennen sie „ihre“ Türklinke wiede…
Wenn, wie auf der Thüringenreise, etwas mehr Sehende als Blinde dabei sind,
haben die Sehenden auch mal einen Tag „führungsfrei“. Die Nachfrage der
Blinden und Sehbehinderten nach den Reisen ist groß, entscheidend aber
bleibt, dass sich genügend Sehende finden. Deren Zahl entscheidet über die
Größe der Gruppe, denn Tour de Sens verspricht den Blinden eine
1:1-Betreuung während der Programme. Blinde zahlen einen entsprechend
höheren Preis.
Inzwischen sei das Problem entschärft, denn es habe sich ein kleiner Stamm
sehender Mitreisender gebildet, erzählt Geschäftsführerin Laura Kutter,
studierte Tourismusmanagerin. Für die Indienreise, im Winter im Programm,
gebe es sogar mehr sehende Teilnehmer als nötig. Während die Firma im Jahre
2012 mit vier Reisen begann, sind im nächsten Jahr schon 24 Reisen im
Progamm.
Vom „Stutenhaus“ laufen wir durch den Wald nach Schmiedefeld zurück. Der
Wald ist feucht, ich höre Tropfen von den Ästen fallen. „Es ist so schön,
wie es knackst, wenn man durch den Wald trapst“, sagt Geli Walch, „ich
liebe es , wenn man die Naturklänge hört.“ Die Bäume rauschen
unterschiedlich, stelle ich fest. Die Laubbäume rascheln, bei den Kiefern
höre ich eher so ein Brausen. Die Wolken fahren wie Luftschiffe am Himmel
entlang. Die Welt ist schön. Fällt mir oft gar nicht so auf.
4 Dec 2016
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Blinde Menschen
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Reiseland Albanien
Wandern
Blinde Menschen
Partnerschaft
tazbehinderung
Teilhabegesetz
Inklusion
## ARTIKEL ZUM THEMA
Albanische Alpen: Die wilden Gipfel des Balkans
Den Peaks of the Balkans Trail absolviert zu haben, zählt in der Szene
inzwischen nicht weniger als eine Alpenüberschreitung.​
Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Sie läuft und läuft und läuft
Christine Thürmer hat mehr als 30.000 Kilometer auf Langgstreckenwegen
zurück gelegt. Sie ist ein radikaler Outdoor-Junkie mit
Managementqualitäten.
Sportereignisse blind erleben: Das Gefühl, den Ball zu sehen
Angebote für Blinde gibt es abseits vom Fußball nur selten.
Goalball-Nationalspieler Stefan Hawranke nennt Möglichkeiten und
Beschränkungen.
Serie „Wie es sein könnte“ (4): Das Gefühl, Mama zu sein
Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit
Behinderung gut verzichten. Auf eigene Kinder sicher nicht.
Gemeinsam behindert werden: Der große Einschnitt
Jörn Schnoor wusste dass er erblinden wird. Wieviel sich für seine Frau
Sylvia ändern würde, ahnten die beiden zuvor nicht
Serie „Wie es sein könnte“ (3): Der richtige Ton
Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit
Behinderung gut verzichten. Auf Assistenz allerdings nicht.
Serie „Wie es sein könnte“ (2): Bitte nicht anfassen!
Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit
Behinderung gut verzichten. Ungefragt berührt zu werden etwa.
Serie „Wie es sein könnte“ (1): Unsichtbarer Schmerz
Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit
Behinderung gut verzichten. Mitreisende ohne Mitgefühl etwa.
Reform der Behindertenhilfe: Nachbesserungen am Teilhabegesetz
Kurz vor der Verabschiedung hat die große Koalition nochmal nachgebesert.
Unter anderem wird der Zugang zur bisherigen Eingliederungshilfe nicht
eingeschränkt.
Autorin über Inklusion: „Ein behindertes Kind irritiert“
Mareice Kaisers erste Tochter kam mit mehrfacher Behinderung zur Welt. Über
die Herausforderungen eines inklusiven Alltags hat sie ein Buch
geschrieben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.