| # taz.de -- Gemeinsam behindert werden: Der große Einschnitt | |
| > Jörn Schnoor wusste dass er erblinden wird. Wieviel sich für seine Frau | |
| > Sylvia ändern würde, ahnten die beiden zuvor nicht | |
| Bild: Je weniger Jörn Schnoor sehen konnte, desto seltener verreiste er mit se… | |
| HAMBURG taz | Ein sonniger Herbsttag in Hamburg-Farmsen. Sylvia Schnoor | |
| sitzt im Wohnzimmer, Hund Pelle wuselt aufgeregt um ihre Füße herum. Ihr | |
| Mann kocht Kaffee und fragt aus der Küche nach Milch und Zucker. „Hier im | |
| Haushalt bin ich sehr autark“, erklärt Jörn Schnoor, als er den Kaffee | |
| serviert. Der 73-Jährige ist blind. | |
| Die Diagnose „Glaukom“ erhielt er bereits Ende der 70er-Jahre. Lange Zeit | |
| behandelte Jörn Schnoors Arzt die Augenkrankheit mit Medikamenten, die den | |
| vollständigen Sehverlust eine Weile aufhalten konnten. Dann wurden | |
| Operationen notwendig, Schnoor konnte immer schlechter sehen. Vor acht | |
| Jahren erblindete er. Blind ist in Deutschland, wer mit dem bessersehenden | |
| Auge auch mit Brille oder Kontaktlinsen weniger als zwei Prozent von dem | |
| sieht, was ein normalsehender Mensch erkennen kann. | |
| „Der Sehverlust meines Mannes war ein schleichender Prozess“, sagt Sylvia | |
| Schnoor. „Wir haben versucht, es so hinzunehmen. Ich habe nicht darüber | |
| nachgedacht, dass das nicht nur für ihn, sondern auch für mich ein | |
| Einschnitt im Leben bedeutet.“ | |
| Diese Haltung kennt Christiane Rupp sehr gut. Die Psychologin bietet beim | |
| Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) Beratung für Betroffene | |
| und Angehörige an. „Vor allem Ehepartner gestehen sich häufig nicht zu, | |
| selbst einen Anspruch auf Rat und Hilfe zu haben, obwohl für sie die | |
| Situation ebenfalls eine starke Veränderung im Leben bedeutet, die | |
| bewältigt werden muss“, sagt Rupp. | |
| Dabei hätten gerade die Ehepartner völlig andere Sorgen und Nöte als die | |
| Betroffenen selbst. „Dies trifft natürlich auf Kinder, Geschwister oder | |
| andere nahestehende Menschen von Betroffenen gleichermaßen zu“, sagt Rupp. | |
| ## Anderer Alltag | |
| Seit Jörn Schnoor nichts mehr sehen kann, hat sich im gemeinsamen Alltag | |
| der beiden einiges verändert. Sylvia Schnoor bereitet vieles vor, um ihrem | |
| Mann ein hohes Maß an Selbstständigkeit zu ermöglichen – zum Beispiel beim | |
| Einkauf, den Jörn Schnoor einmal die Woche erledigt. „Und ich muss | |
| besonders darauf achten, dass alles an seinem Platz ist“, sagt die | |
| 69-Jährige. | |
| „Ordnung und Struktur sind besonders wichtig, damit sich ein blinder Mensch | |
| in seinem Alltag zurechtfindet“, erklärt Annette Schacht, Sozialberaterin | |
| beim BSVH. Die sehenden Partner müssten sich sehr disziplinieren. Ein | |
| nachlässig vergessenes Messer auf der Arbeitsfläche, eine offenstehende | |
| Schranktür oder ein nicht aufgerolltes Kabel nach dem Staubsaugen könnten | |
| für Menschen mit Seheinschränkungen schnell zu gefährlichen Fallen im | |
| eigenen Zuhause werden. „Deshalb sind die Angehörigen stets in Sorge, etwas | |
| zu übersehen. Das bedeutet eine große Verantwortung und oft auch eine hohe | |
| Belastung“, sagt Schacht. | |
| Auch neigten Angehörige häufig dazu, den blinden oder sehbehinderten | |
| Menschen in ihrem Umfeld zu viele Dinge abzunehmen, um sie nicht zu | |
| gefährden. „Wir erleben es in den Gesprächen sehr oft, dass sehende Partner | |
| die komplette Haushaltsführung übernehmen, ihre Angehörigen stets begleiten | |
| und ihre eigenen Interessen komplett hintenan stellen“, sagt Schacht. | |
| „Häufig gehen sie dabei stark an ihre Grenzen, zumal die meisten Menschen | |
| in Deutschland aufgrund altersbedingter Augenerkrankungen erst im höheren | |
| Alter von Seheinschränkungen betroffen sind.“ Die | |
| Weltgesundheitsorganisation WHO hat Zahlen vorgelegt, nach denen 70 Prozent | |
| der Betroffenen – und damit auch deren Partner –älter als 60 Jahre alt | |
| sind. | |
| ## Gemeinsames schwindet | |
| Sylvia und Jörn Schnoor sind seit 49 Jahren ein Paar, 48 Jahre davon | |
| verheiratet. Früher sind sie gerne gemeinsam verreist. Jörn Schnoor | |
| arbeitete lange im Außendienst, seine Frau bis zur Geburt ihrer gemeinsamen | |
| Tochter im Verkauf. „Über fünf Jahre arbeitete ich in Potsdam. Meine Frau | |
| ist damals manchmal mitgekommen, wir waren häufig in Berlin und sind in den | |
| Ferien regelmäßig mit unserer Tochter in den Urlaub gefahren“, erzählt | |
| Schnoor. Je weniger Jörn Schnoor sehen konnte, desto seltener wurden die | |
| gemeinsamen Reisen. | |
| „Ich kann ja das Schöne an den Ausflügen nicht mehr gemeinsam mit meinem | |
| Mann erleben“, sagt Sylvia Schnoor, zumal sie durch ein Knieleiden | |
| inzwischen selbst eingeschränkt sei. „Aufgrund meiner eigenen Immobilität | |
| müssen wir Besichtigungen mit dem Bus machen. Mein Mann hat davon dann | |
| leider überhaupt nichts.“ | |
| „Für mich ist es einfacher, wenn wir an einen Ort fahren, an den ich mich | |
| noch erinnern kann. Außerdem bekomme ich mehr mit, wenn ich Dinge zu Fuß | |
| erkunde“, bestätigt ihr Mann. Also fahren die beiden weiterhin regelmäßig | |
| nach Berlin oder in ein Hotel für blinde und sehbehinderte Menschen am | |
| Timmendorfer Strand, obwohl sie sich dafür eigentlich zu jung fühlen. Neues | |
| erkunden sie aber nur noch selten gemeinsam. „Das ist sehr schade“, sagen | |
| sie im Chor. | |
| Es gebe nur wenig Menschen, denen man sich in ihrer Situation anvertrauen | |
| könne, sagt Sylvia Schnoor. Familie, Freunden und Bekannten möchte sie mit | |
| dem Thema Krankheiten nicht zur Last fallen. Aber auch unter den sehenden | |
| Angehörigen von blinden und sehbehinderten Menschen, die sie kenne, gebe es | |
| wenig Austausch. „Wir sprechen einfach nicht über unsere eigenen Probleme.“ | |
| Sylvia Schnoor ist eine zupackende Frau. Sie interessiert sich für | |
| Buddhismus, engagiert sich ehrenamtlich im Hospiz Hamburg Leuchtfeuer, in | |
| ihrer Wohnungsgenossenschaft und – gemeinsam mit ihrem Mann – als | |
| Stadtteilbetreuerin beim Blindenverband. „Es hilft, wenn man viel um die | |
| Ohren hat“, sagt sie. „Und die Anerkennung tut gut.“ | |
| 2 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Heiko Kunert | |
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