# taz.de -- Serie „Wie es sein könnte“ (3): Der richtige Ton | |
> Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit | |
> Behinderung gut verzichten. Auf Assistenz allerdings nicht. | |
Bild: Assistenten bedeuten Freiheit | |
Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl sein mag, sich selbst die Socken | |
anziehen zu können. Oder sich spontan am Kopf zu kratzen. Man hebt ohne | |
nachzudenken den Arm und kratzt sich, zack, fertig! Zwei Sekunden, maximal. | |
1994 sind meine Eltern aus der Provinz als Russlanddeutsche nach Hamburg | |
gezogen und dann ging alles recht schnell: „Das Mädchen wird niemals laufen | |
können, sie wird für immer auf fremde Hilfe angewiesen sein, hoffentlich | |
erlebt sie ihren elften Geburtstag.“ Seit meinem siebten Lebensjahr ist die | |
progressive Muskelerkrankung offiziell diagnostiziert: Körperlich werde ich | |
immer auf Hilfe der Anderen angewiesen sein. | |
Jetzt bin ich neunundzwanzig und lebe selbstbestimmter denn je. | |
„Du kannst doch nicht mal deine Pizza allein schneiden“, sagten mir | |
Menschen. „Vielleicht wäre eine WG für Behinderte was für dich?“ | |
Seit dem Einzug in meine erste eigene Wohnung sind nun neun Jahre | |
vergangen. Ich erinnere mich gut an das Gefühl, als ich dort die erste | |
Nacht – in Anwesenheit einer mir noch unbekannten Assistentin – verbracht | |
habe. Mit welchem Genuss ich den ersten Lebensmitteleinkauf getätigt habe, | |
um anschließend die fast verbrannte Tiefkühlpizza zu essen. Heute arbeiten, | |
um meinen Alltag zu sichern, sieben Assistentinnen in | |
24-Stunden-Schichten-Diensten für mich. Ich mache den Einsatzplan und die | |
Abrechnung am Monatsende selbst, wenn es zwischenmenschliche | |
Schwierigkeiten gibt, vermittelt keine Personalentwicklung zwischen uns. | |
Die Herausforderung besteht darin, wie bei jedem Topmanager auch, den | |
richtigen Ton zu treffen, um die Mitarbeiter zu motivieren. Vierzig | |
Assistentinnen waren bislang hier angestellt. Die meisten bleiben zwei bis | |
fünf Jahre, so lange, bis sie einen „echten Job“ finden. | |
Es erfordert Flexibilität, sich auf die einzelnen Persönlichkeiten | |
einzustellen. Immer und immer wieder, denn jeder braucht andere | |
Kommunikationsarten. Am meisten lerne ich dabei über mich. | |
Sonntagnachmittag: Im Fernsehen läuft eine Reportage über die | |
Gesetzesentwürfe zum neuen Bundesteilhabegesetz. Ich schaue fassungslos auf | |
die Mattscheibe und kann nicht glauben, dass manche nicht verstanden haben, | |
was für eine Freiheit die persönliche Assistenz allen Menschen mit einer | |
körperlichen Einschränkung ist. Ich bitte meine Assistentin, mir ein Glas | |
Wasser zu bringen und bin froh, dass ich die Möglichkeit noch habe. | |
Anastasia Umrik, Jahrgang 1987, ist Unternehmerin und bloggt auf | |
[1][anastasia-umrik.de] | |
2 Dec 2016 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Umrik | |
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