# taz.de -- Pharmazeutin über Arzneitests im Heim: „Impfstoffversuche an Sä… | |
> Ohne ihr Wissen wurden Medikamente und Impfstoffe an Heimkindern | |
> getestet. Aufgedeckt hat den Skandal die Pharmazeutin Sylvia Wagner. | |
Bild: In dem katholischen Hans-Sales-Haus wurde Ende der 1950er-Jahre an 28 Kin… | |
taz: Frau Wagner, wie kamen Sie auf die Idee, nach Medikamententests an | |
Heimkindern zu suchen? | |
Sylvia Wagner: Ich kenne aus meinem privaten Umfeld viele ehemalige | |
Heimkinder. Die haben erzählt, dass sie dort mit Medikamenten ruhiggestellt | |
wurden, oft über Jahre. Einige meinten, dass an ihnen Versuche durchgeführt | |
wurden, weil es während der „Behandlung“ auch Untersuchungen gab. Und die | |
Kinder selbst haben sich nicht krank gefühlt. | |
Was wurde ihnen denn gesagt, wenn sie gefragt haben? | |
Oft wurde ein „leichter Hirnschaden“ diagnostiziert. Das war dann die | |
proklamierte Ursache der Unruhe, die käme von einem leichten Hirnschaden. | |
Als Sie sich auf die Suche machten: Was haben Sie erwartet? | |
Ich habe schon erwartet, Hinweise auf Versuche zu finden. Allerdings habe | |
ich nicht erwartet, dass sie so gut dokumentiert sind. Es ist schon ein | |
Unterschied, ob man etwas ahnt, oder ob man die schriftlichen Beweise | |
findet. Das hat mich erschreckt. | |
Wie haben Sie diese Dokumente gefunden? | |
Ich hatte die Hinweise aus meinem privaten Umfeld. Dann habe ich die | |
Literatur studiert und bin dabei auf eine Untersuchung über die Weimarer | |
Republik gestoßen. Danach waren Menschenversuche in der Zeit öffentlich in | |
Fachzeitschriften beschrieben, einfach so. Ich habe in ebendiesen | |
Fachzeitschriften nachgeschaut: Mal sehen, was die in den 50er oder 60er | |
Jahren geschrieben haben. Tatsächlich habe ich dort Aufsätze gefunden, in | |
denen sich der Hinweis auf Versuche an Heimkindern fand. | |
Was für Medikamente wurden getestet, was wurde denn genau gemacht? | |
Vor allem Impfstoffe und Psychopharmaka. Ein Arzt hat die Folgen sehr genau | |
dokumentiert, da haben die Kinder Schreikrämpfe und Blickkrämpfe bekommen. | |
Ich habe auch Fälle entdeckt, bei denen zum Beispiel Impfstoffversuche an | |
Säuglingen durchgeführt wurden. Das fand ich besonders schlimm. In einem | |
Fall wurde das Rückenmark untersucht. An Säuglingen. Dieses Experiment | |
wurde vom Bundesgesundheitsministerium angeordnet. | |
Spielten NS-Ärzte eine Rolle? | |
Ja. Einige waren an den Fleckfieberversuchen im KZ Buchenwald beteiligt. | |
Sie konnten einfach unbehelligt weitermachen. Oder der todbringende | |
„Euthanasie-“Gutachter Hans Heinze: Er war ab 1954 Leiter der | |
Jugendpsychiatrie in Wunstorf. Den Kindern dort verabreichte er | |
Psychopharmaka und sie nahmen an Experimenten teil, ohne es zu wissen. | |
Wer war für diese Tests verantwortlich? | |
Die Behörden, die Pharmaunternehmen, die Heime und die Ärzte. Diese | |
Experimente geschahen bundesweit, zum Beispiel für Berlin, München, | |
Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. | |
Warum haben die Ärzte da mitgemacht? | |
Ich habe nur einen Hinweis darauf, dass Ärzte bezahlt wurden. Ich glaube, | |
die Hauptmotivation war ein Forschungsinteresse. | |
Was erwarten Sie heute von den Verantwortlichen? | |
Dass sie Interesse an einer umfassenden Aufklärung haben, zum Beispiel ihre | |
Archive öffnen und unabhängigen Historikern den Auftrag erteilen, die Fälle | |
aufzuklären. Abgesehen davon, dass es rechtlich wohl schon nicht korrekt | |
war, war es moralisch erst recht nicht in Ordnung. | |
Könnte so etwas heute noch passieren? | |
In Deutschland glaube ich nicht. Aber in anderen Ländern ist das möglich. | |
2 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Valerie Höhne | |
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