# taz.de -- Probanden für medizinische Experimente: Kotzen für die Wissenscha… | |
> In Deutschland nehmen jährlich 200.000 Menschen an medizinischen | |
> Versuchen teil. Manche tingeln von Studie zu Studie. Sie riskieren ihr | |
> Leben des Geldes wegen. | |
Bild: Man weiß nie genau wie die Spritze wirkt, doch viele lockt das Geld für… | |
Der Versuch war schrecklich fehlgelaufen. Die Haut des Probanden war | |
violett verfärbt, sein Kopf grotesk angeschwollen. Wenige Stunden, nachdem | |
ihm der Wirkstoff TGN412 verabreicht worden war, fiel er ins Koma. Das | |
Experiment, bei dem im März 2006 in London die deutsche | |
Biotechnologie-Firma Tegenero ein neues Medikament gegen Arthritis, | |
Multiple Sklerose und Leukämie testen wollte, sorgte für Diskussionsstoff | |
in den internationalen Medien. Ist es zulässig, lautete eine häufig | |
gestellte Frage, dass Menschen für einige tausend Euro Testhonorar ihr | |
Leben aufs Spiel setzen? | |
Seit 60 Jahren wird diese Frage offiziell mit Ja beantwortet. 1947 wurde | |
mit dem „Nürnberger Kodex“ das Grundlagenpapier der modernen medizinischen | |
Ethik verabschiedet, in dem erstmals festgelegt wurde, wie zulässige | |
medizinische Versuche am Menschen durchzuführen seien. Entstanden war er | |
unter dem Eindruck, den die in den Nürnberger Prozessen geschilderten | |
Experimente von Nazi-Ärzten an KZ-Insassen hinterlassen hatten. Das erste | |
und wichtigste der zehn Gebote, an denen alle klinischen Studien in Zukunft | |
ausgerichtet sein sollten, besagt, dass alle Probanden über Risiken des | |
geplanten Tests informiert sein müssen - und vor allem, dass sie freiwillig | |
teilnehmen müssen. | |
Die sechs jungen Männer, die in London Leib und Leben riskierten, wurden | |
dazu nicht gezwungen. Auch die über 200.000 Probanden, die sich nach | |
Schätzungen des in Bonn ansässigen Bundesinstituts für Arzneimittel und | |
Medizinprodukte in Deutschland jedes Jahr für Arzneimitteltests zur | |
Verfügung stellen, tun dies freiwillig. Und in den allermeisten Fällen | |
dürfte es das Testhonorar sein, dass sie dazu treibt. Die | |
Aufwandsentschädigungen, welche die Pharmaunternehmen zahlen, können bis zu | |
mehreren hundert Euro pro Tag betragen. Der Londoner Testant, der | |
28-jährige Nino El Hady, der erst nach einigen Monaten aus dem Koma | |
erwachte, soll nach Berichten des britischen Boulevardblatts The Sun durch | |
medizinische Tests in vier Jahren 90.000 Pfund, rund 130.000 Euro,verdient | |
haben. | |
Dieses Tingeln von einer Studie zur nächsten sollte zwar eigentlich durch | |
die Ethikkommissionen, die erstmals 1978 von den Ärztekammern zur | |
Beobachtung medizinischer Tests eingerichtet wurden, wegen des erhöhten | |
Risikos für Testanten unterbunden werden, dem entgegensteht aber, wie | |
Thomas Sudhop vom Arzneimittel-Bundesinstitut erklärt, die unzulängliche | |
Datenlage: „Da bisher die Eingabe von Probanden in Sperrdatenbanken für die | |
Tester nicht verpflichtend ist, kann ein solcher Test-Tourismus nicht | |
sicher ausgeschlossen werden.“ | |
Websites wie [1][topratgeber.de] oder [2][heimarbeit-testsieger.de] preisen | |
medizinische Tests als gute Möglichkeit an, sein Einkommen aufzubessern. | |
Dass die menschlichen Versuchskaninchen dabei Unannehmlichkeiten auf sich | |
nehmen müssen, dass vor allem die Teilnahme an vielen Tests innerhalb | |
kurzer Zeit die Gesundheit gefährden kann, wird zwar nicht verschwiegen, | |
als viel wichtiger aber werden die finanziellen Anreize geschildert. Die | |
stehen auch in diversen Chatrooms im Vordergrund: „Für 500 bis 3.000 Euro | |
würde ich auch mal kotzen“, heißt es da. In Studentenkreisen sind | |
medizinische Tests, zu denen nicht nur Arzneimittelstudien gehören, eine | |
beliebte Methode, sich das Studium zu finanzieren. | |
In der Medizintechnik-Metropole Erlangen legten sich für einige Zeit | |
Studenten reihenweise als Erste in die von Siemens neu entwickelten | |
Kernspintomografen, und ein Medizinstudent erregte bei seinen | |
Wohnheimgenossinnen ein Gefühl morbider Faszination, weil er als Teilnehmer | |
einer gastrologischen Testreihe tagelang damit beschäftigt war, einen zwei | |
Meter langen Plastikschlauch zu schlucken - bis das geschafft war, baumelte | |
er aus seinem Mundwinkel. | |
Der Schlauchesser befand sich, historisch gesehen, in guter Gesellschaft. | |
Immer wieder stellten sich Vertreter der Ärzteschaft Experimenten. So | |
manchen medizinischen Fortschritt hätte es ohne diese Selbstversuche nicht | |
gegeben. Die Blutgruppen wurden durch einen Test unter Ärzten entdeckt, den | |
ersten Herzkatheter führte ein Mediziner sich selbst durch die Armvene ein, | |
die Betäubungsmittel Äther und Chloroform probierten Ärzte zuerst an sich | |
selbst aus. Viele Mediziner bezahlten ihren Forscherdrang mit dem Leben. | |
Der englische Arzt Andrew White infizierte sich 1802 in einem ägyptischen | |
Krankenhaus absichtlich mit Malaria und Pest, weil er überzeugt war, dass | |
die Malaria gegen die Pest immunisiere. Er starb sechs Tage nach | |
Versuchsstart. Der peruanische Medizinstudent Daniel Carrión steckte sich | |
absichtlich mit der im Andenstaat häufig vorkommenden Hautkrankheit Verruga | |
an, um zu beweisen, dass ihr Erreger auch das oft tödlich verlaufende | |
Oroya-Fieber verursacht. Er starb 19 Tage nach dem Beginn seines | |
Experiments. | |
Andere medizinische Selbsttester kamen zwar mit dem Leben davon, mussten | |
aber ihren Wagemut mit teils massiven gesundheitlichen Einschränkungen | |
bezahlen. Der schottische Anatom und Chirurg John Hunter ritzte Ende des | |
18. Jahrhunderts an zwei Stellen seines Penis die Haut an und brachte auf | |
die Wunden Eiter eines Gonorrhoe-Kranken auf. Danach konnte er, wie | |
geplant, die Krankheit an sich selbst studieren. Nicht geplant war, dass | |
der Eiter-Spender auch mit Syphilis infiziert war - so wie Hunter bald | |
auch. Um zu Erkenntnissen und zu Ruhm zu gelangen, ließen sich Ärzte von | |
ihren Mitarbeitern ans Schienbein treten - August Bier 1899 bei der | |
Entwicklung der Rückenmarks-Anästhesie - oder tranken Bakterien-Cocktails, | |
die wie Teichwasser schmeckten - Barry Marshall 1984 bei seinem Beweis, | |
dass Magengeschwüre vom Bakterium Helicobacter pylori verursacht werden. | |
Egal aber, ob die Tests mit ärztlichen Versuchskaninchen erfolgreich | |
verliefen oder ein fatales Ende nahmen, der Nürnberger Kodex hätte sie | |
erlaubt. Denn er verbietet zwar explizit Experimente, die zu dauerhaften | |
gesundheitlichen Schäden oder gar zum Tod der Probanden führen könnten, | |
macht aber eine Ausnahme: Ärzte oder Versuchsleiter, die sich selbst diesen | |
Risiken aussetzen wollen, dürfen dies. Vorausgesetzt, sie tun es | |
freiwillig. Firmeninteressen, wie sie beim dänischen Pharmaunternehmen | |
Medicinalco im Vordergrund gestanden haben dürften, wo in den 40er- und | |
50er-Jahren eine Gruppe von Ärzten und Pharmazeuten die Wirkung neuer | |
Medikamente an sich selbst testete und deshalb „Todesbataillon“ genannt | |
wurde, dürfen dabei keine Rolle spielen. | |
Auch der Versuch eines Jobvermittlers der Agentur für Arbeit, von dem ein | |
Chatter berichtet, einen Hartz-IV-Empfänger zu einem Medikamententest zu | |
bestellen, verstößt klar gegen die strengen Richtlinien des Nürnberger | |
Kodexes, sogar gegen die laxeren Vorschriften, die in den letzten Jahren | |
die zehn Gebote der medizinischen Ethik unterwanderten. Die Einwilligung | |
des Probanden, heißt es in der EU-Richtlinie „Good Clinical Practice“, muss | |
zwar gegeben werden - wenn er dies aber nicht kann, etwa, weil er im Koma | |
liegt, darf der Test auch ohne ein explizites Ja durchgeführt werden. Denn | |
der Nutzen, den die Gesellschaft vielleicht von einem neuen Medikament | |
hätte, wiegt dann höher als das Wohl des Testanten. Ein Schicksal, das | |
vielleicht auch dem Londoner Laboropfer El Hady geblüht hätte, wäre er | |
nicht mehr aus dem Koma erwacht. Ob er heute immer noch als | |
Versuchskaninchen arbeitet, ist nicht bekannt. | |
19 Dec 2007 | |
## LINKS | |
[1] http://topratgeber.de/ | |
[2] http://heimarbeit-testsieger.de/ | |
## AUTOREN | |
Barbara Dicker | |
## TAGS | |
Medikamente | |
Heimkinder | |
Medikamententest | |
Frühkindliche Bildung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nebenwirkungen von Arzneimitteln: „Solche Studien sind unbrauchbar“ | |
Postmarketingstudien sollen nach der Zulassung Nebenwirkungen von | |
Medikamenten aufdecken. Veröffentlicht werden die Ergebnisse nur selten. | |
Pharmazeutin über Arzneitests im Heim: „Impfstoffversuche an Säuglingen“ | |
Ohne ihr Wissen wurden Medikamente und Impfstoffe an Heimkindern getestet. | |
Aufgedeckt hat den Skandal die Pharmazeutin Sylvia Wagner. | |
Hirntot nach Medikamententest: Versuche abgebrochen | |
Eigentlich sollte das Medikament Schmerzen lindern, doch schon die | |
Versuchsreihe endete tragisch: Sechs Teilnehmer wurden in eine Klinik | |
gebracht. Einer ist hirntot. | |
Nachwuchswissenschafter an den Unis: Zeitspiel um Zeitverträge | |
Die Koalition will die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses | |
verbessern. Während die SPD drängelt, hat die Union Muße. |