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# taz.de -- Historiker über Euthanasie-Verbrecher: „Die Verfahren wurden ein…
> Christof Beyer erforschte personelle Kontinuitäten in den psychiatrischen
> Anstalten nach 1945. Das Ergebnis: Viele der Euthanasie-Verbrecher*innen
> machten Karriere.
Bild: Ab 1939 wurden sie ermordet: Kinder mit Down-Syndrom, die sich in öffent…
taz: Herr Beyer, nach 1945 konnten viele PsychiaterInnen in Niedersachsen,
die am Mord von Kindern und Erwachsenen beteiligt waren, recht problemlos
weiterarbeiten, viele davon im Landesdienst. Warum war das möglich?
Christof Beyer: Die Frage ist zunächst recht banal zu beantworten: Weil die
juristischen Rahmenbedingungen es möglich gemacht haben. Viele an
Patientenmorden beteiligte PsychiaterInnen wurden nach 1945 entweder als
„unbelastet“ oder als „Unterstützer“ entnazifiziert. Ermittlungen und
Verfahren gegen an Medizinverbrechen Beteiligte wurden bis 1950
eingestellt. Und zudem wurde mit dem Grundgesetzartikel 131 die
Reintegration nationalsozialistischer Beamter in den niedersächsischen
Landesdienst stark begünstigt.
Was hat es mit diesem Grundgesetzartikel auf sich?
Der Artikel, der in einem nachfolgenden Bundesgesetz dann weiter ausgeführt
wurde, verschaffte Beamten, die im Entnazifizierungsverfahren nicht als
belastet eingestuft wurden, die Möglichkeit und auch den Anspruch auf
Wiederverwendung im Staatsdienst. Der Artikel sicherte einerseits das
deutsche Berufsbeamtentum, das die alliierten Siegermächte eigentlich
abschaffen wollten. Andererseits führte es zu einer fast vollständigen
Wiederherstellung der personellen Kontinuität in Justiz und öffentlicher
Verwaltung. Das ist im Allgemeinen bekannt, aber man muss auch betonen,
dass das auch für verbeamtete MedizinerInnen galt.
Um welche Verbrechen geht es in der Studie konkret?
Im Fokus standen PsychiaterInnen, die an der zentral organisierten
Erwachsenen-Euthanasie von 1939 bis 1941, der sogenannten „Aktion T4“, und
an der sogenannten Kindereuthanasie von 1939 bis 1945 beteiligt waren.
Können Sie Beispiele nennen?
Ein Fall etwa ist Willi Baumert. Er war von 1941 bis 1944 Leiter der
„Kinderfachabteilung“ in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Seine
Aufgabe war es, eingewiesene Kinder zu begutachten und diese zur Tötung
vorzuschlagen. Ob er selber Hand angelegt hat, ist nicht nachweisbar. Er
hat aber nachweisbar Pflegekräfte damit beauftragt, Kinder durch
überdosierte Medikamente zu töten. So ist für die „Kinderfachabteilung“
Lüneburg von mindestens 300 minderjährigen Opfern auszugehen.
Das ist im Nachhinein schwer hinzunehmen.
Ein anderes Beispiel ist Ernst Meumann, der bis 1945 Direktor der Heil- und
Pflegeanstalt Königslutter war. Unter seiner Leitung diente die Anstalt
Königslutter der „Aktion T4“ als Zwischenanstalt, auch war er für
Patientendeportationen in die Gasmordanstalt Bernburg und die
„Kinderfachabteilung“ Uchtspringe verantwortlich.
Und diese beiden Täter konnten nach 1945 wieder im Staatsdienst arbeiten?
Baumert wurde 1958 sogar Direktor des Landeskrankenhauses Königslutter,
Meumann wurde 1954 Leiter des Landesfürsorgeheims Moringen.
Was waren die strukturellen Voraussetzungen dafür?
Die psychiatrischen Institutionen wurden nach 1945, wie es überall
stattfand, restauriert. Hypothetisch hätte man die Möglichkeit zu einem
Neuanfang nutzen können, aber das war nicht der Fall. Eher lassen sich
Ansätze von Reformierung und Modernisierung finden. Aber davon abgesehen
wurden die Strukturen bis in die 1970er-Jahre weitergeführt. Die Anstalten
wurden, sofern sie im Krieg nicht zerstört wurden, wieder in Betrieb
genommen. Dies gilt auch für die Anstalten der Provinz Hannover, die zu
Beginn der 1950er-Jahre in Landeskrankenhäuser umbenannt wurden.
Beließ man es bei der bloßen Umbenennung?
Das ist die Frage: Hat sich diese Vergangenheit in der therapeutischen
Arbeit fortgesetzt? Im Fall von Willi Baumert beispielsweise: Hat der dann
nach 1945 eine ähnliche Haltung gegenüber den PatientInnen eingenommen wie
zuvor?
Hat er?
Diese wichtige Frage ist bisher noch offen. Eine derzeit laufende,
ebenfalls vom niedersächsischem Sozialministerium finanzierte Studie zu
Medikamentenversuchen an Kindern und Jugendlichen in Niedersachsen liefert
dazu vielleicht demnächst neue Anhaltspunkte, insbesondere zur
therapeutischen Haltung des ehemaligen NS-Euthanasie-Protagonisten Hans
Heinze, der von 1954 bis 1960 die Kinder- und Jugendpsychiatrie des
Landeskrankenhauses Wunstorf leitete. Manche Täter rückten ab Ende der
1950er dann doch nochmal in den Fokus. Woran lag das?
Der Turning-Point war die Enttarnung von Werner Heyde, der medizinischer
Leiter der nationalsozialistischen Erwachsenen-Euthanasie gewesen war, und
nach 1945 unter falschen Namen in Schleswig-Holstein – mit dem Wissen von
Kollegen und Mitgliedern der Landesregierung – als Psychiater
weiterarbeitete. Ab 1959 ermittelte der Frankfurter Staatsanwalt Fritz
Bauer gegen ihn. Die Wahrnehmung und Skandalisierung in der Öffentlichkeit
änderte sich, wenngleich – zumindest im Fall von Heyde und weiteren in den
1960ern angeklagten Ärzten – die Sache juristisch versandete.
In Ihrer Studie gehen Sie auch auf den Umgang mit niedergelassenen
Medizinern ein, die sich an Verbrechen beteiligten. Einer von ihnen, Klaus
Endruweit, musste, nachdem gegen ihn ermittelt wurde, eigentlich seine
Approbation ruhen lassen – er betrieb seine Praxis dennoch illegal weiter.
Die Bezirksregierung Hannover erfuhr 1984 aus der Presse von diesem
Umstand. Es gab eine große Solidarität aus der Bevölkerung mit ihm, nach
dem Motto „Er ist doch ein guter Arzt.“ Das örtliche Gesundheitsamt in
Hildesheim wusste auch davon. Zudem gab es eine gute Verbindung zur
Ärztekammer, der ihm Schutz gewährte.
Sticht Niedersachsen bei diesen personellen Kontinuitäten bundesweit
heraus?
Im Grundsatz überwogen überall die Kontinuitäten. Allerdings weiß man, dass
es in der britischen Besatzungszone eine weniger strenge Entnazifizierung
als in den anderen Zonen gab. Das hat auch viele belastete MedizinerInnen
angezogen.
3 Jul 2018
## AUTOREN
André Zuschlag
## TAGS
Euthanasie
Psychiatrie
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Nachkriegszeit
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