# taz.de -- Dokumentartheater „LebensWert“: Verbrecher in Weiß | |
> Das Stück „LebensWert“ erinnert an „Euthanasie“ in der NS-Zeit in | |
> Schleswig-Holstein. Mittlerweile spielt es das Theater Kiel auf seiner | |
> großen Bühne. | |
Bild: Wer davon wusste, schwieg: Rudi Hindenburg (l.) und Imanuel Humm im Stüc… | |
Am Ende stehen die Opfer: Ihre Namen – darunter Ellen Carl, Liselotte | |
Schümann Irma Sperling, die alle während der NS-Zeit getötet wurden, und | |
Fritz Niemand, der als Zwangssterilisierter überlebte – schreiben die vier | |
Schauspieler:innen mit weißer Kreide auf die großen Glasscheiben; diese | |
bilden an diesem Abend überhaupt die wichtigsten Requisiten auf der Bühne | |
des Kieler Theaters. | |
Und es bleiben Fragen zum Schluss des Stücks „LebensWert“, in den | |
Theatersaal gerufen von den Schauspieler:innen Jennifer Böhm, Rudi | |
Hindenburg, Imanuel Humm und Yvonne Ruprecht: Warum gibt es keine | |
Anerkennung der Leiden der Ermordeten oder Zwangssterilisierten? Warum | |
keine Prozesse gegen Ärzte, die sich an der „Euthanasie“ beteiligten? Und | |
warum trägt ein Studierendenwohnheim in Kiel immer noch den Namen von | |
Wilhelm Hallermann? | |
Denn dieser Hallermann, SA-Mitglied seit 1933, befürwortete die | |
Zwangskastration von „zu Sexualverbrechen neigenden Personen“. Er sorgte | |
nach dem Krieg aber als Gutachter auch gleich noch dafür, dass Mitwissende | |
und Mittäter in der psychiatrischen Kinderabteilung in Schleswig freikamen. | |
Und Hallermann wusste, wie viele andere in Schleswig-Holstein, dass der | |
Arzt Werner Heyde, ein Hauptverantwortlicher der gezielten Ermordung von | |
Menschen mit psychischer Erkrankung und von Menschen mit Behinderung, in | |
Flensburg lebte und praktizierte – unter dem Pseudonym Fritz Sawade. Rund | |
7.000 Gutachten für Versicherungen und Gerichte soll Heyde/Sawade erstellt | |
haben, bevor er aufflog. Vor seinem Prozess tötete er sich in der Zelle | |
selbst. Dieser Skandal steht im Zentrum des Stückes „LebensWert“, das Marie | |
Schwesinger, Text und Regie, im Auftrag des Kieler Theaters erstellt hat. | |
Es läuft noch bis Ende der Spielzeit, seit Kurzem auf der Hauptbühne des | |
Hauses, nachdem es im Herbst auf der kleineren Studiobühne gestartet war. | |
Die gebürtige Hamburgerin Schwesinger hat sich einen Namen mit Arbeiten | |
gemacht, in denen sie Dokumentation mit Theater verbindet, etwa „Gegen alle | |
Widerstände“ über die Auschwitz-Prozesse. Aktuell in Vorbereitung ist eine | |
Arbeit über den NSU 2.0, heißt es [1][auf ihrer Homepage]. | |
Für „LebensWert“ hat sie gemeinsam mit dem Dramaturgen Jens Paulsen ein oft | |
vergessenes Kapitel von Schleswig-Holsteins Nachkriegsgeschichte | |
aufgearbeitet: wie rasch die Opfer der [2][Euthanasie] – in diesem | |
Zusammenhang ein Euphemismus – vergessen wurden. Und wie leicht es den | |
Tätern gemacht wurde, [3][später weiterzuarbeiten.] | |
In zwei Stunden dichtem Theatererlebnis stellen die vier | |
Schauspieler:innen die Historie nach, gestützt auf eine Collage aus | |
Briefen, Zeitdokumenten, Artikeln. Die Bühne ist karg gehalten, fast | |
ausschließlich auf Schwarz, Weiß und Grau reduziert. Neben den großen | |
Glaswänden gibt es nur wenige Requisiten. Immerhin: Es wird viel geraucht, | |
Sektkorken knallen und Konfetti, schließlich sind wir in den 1950er-Jahren, | |
im deutschen Wirtschaftswunderland. | |
In dieser Zeit ging Heyde/Sawade seiner Arbeit in Flensburg nach. Von | |
seiner Doppelexistenz wussten viele, wollten aber nach dem Auffliegen des | |
Pseudonyms nichts geahnt haben. Auf der Bühne werden sie dargestellt durch | |
Sprechchöre der vier Akteur:innen, die das lauthals beteuern. In einer | |
Szene waschen sich Humm und Hindenburg, in weiße Kittel gekleidet, | |
ausgiebig die Hände, während Böhm und Ruprecht die Briefe einer Mutter und | |
der Oberin der Kinderfachabteilung Schleswig über „die kleine Ellen“ | |
vorlasen, die später starb. Ihr Gehirn wurde für wissenschaftliche | |
Forschungen freigegeben: Der Kieler Professor Hans Gerhard Creutzfeld | |
untersuchte es auf „Erbkrankheit“. | |
Der Mitentdecker der Creutzfeld-Jakob-Krankheit rettete einerseits Menschen | |
durch entsprechende Diagnosen und ging auch mit seinen Patienten anständig | |
um: „Hier wurde ich als Mensch behandelt“, wird der Psychiatriepatient | |
Fritz Niemand zitiert. Bei dem Versuch, nach dem Krieg als [4][NS-Opfer] | |
anerkannt zu werden, scheiterte eben dieser Niemand aber: Er sei ja | |
„geisteskrank“, hieß es; weder sein Leiden noch seine Zeugenaussagen über | |
die Tötung von Mitpatienten wurden ernst genommen. | |
Obwohl Creutzfeld wohl einigen half, wusste er mit Sicherheit von den | |
Tötungen und konnte ahnen, was mit den Kranken geschah, die er mit | |
schlechter Prognose weiterschickte. Und auch er unterließ es, den | |
Flensburger Kollegen Heyde zu enttarnen. | |
Creutzfeld war nicht der einzige belastete Arzt an der Kieler Uni: 1954 | |
ging der Lehrstuhl für Kinderheilkunde an Werner Catel, der als Gutachter | |
des „Reichsausschusses“ über Tötungen entschied und eigenhändig mindeste… | |
ein Kind ermordete, heißt es auf der [5][Homepage zum Denkmal], das an die | |
„Aktion T4“ erinnert, die Ausweitung des NS-Tötungsprogramms auch auf | |
„lebensunwerte“ Erwachsene. | |
Nach sechs Jahren verließ Catel die Uni und ging aufgrund öffentlichen | |
Drucks vorzeitig in Ruhestand. Seinen Überzeugungen aber blieb er treu, so | |
veröffentlichte er ein Buch und sprach sich 1964 in einem [6][Interview mit | |
dem Spiegel] dafür aus, „vollidiotische“ Kinder zu töten. Das sollte der | |
Hausarzt übernehmen, nachdem eine Kommission aus (männlichen) Fachleuten | |
sowie „einer Frau, einer Mutter“, die den „unheilbaren“ Zustand des Kin… | |
festgestellt haben. Dennoch wollte die Uni-Leitung nach Catels Tod ein Erbe | |
von ihm annehmen und eine Stiftung in seinem Namen gründen. Asta-Proteste | |
verhinderten das – auch sie werden nun auf der Bühne nachgestellt. | |
Das Thema ist der Universität immer noch unangenehm, verriet Schwesinger in | |
einem [7][Interview mit der Kulturzeitschrift Schleswig-Holstein]. In einem | |
Vorgespräch mit der medizinischen Fakultät seien Intendant Daniel Karasek | |
und Dramaturg Jens Paulsen gebeten worden, nichts allzu Kritisches zu | |
machen. Die Regisseurin, die mit Paulsen die Recherche übernahm, stellte | |
Fakten zusammen – das Urteil bilden sich nun die Zuschauer selbst. | |
21 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.marieschwesinger.de/ | |
[2] /Euthanasie/!t5010021 | |
[3] /Historiker-ueber-Euthanasie-Verbrecher/!5515166 | |
[4] /NS-Opfer/!t5010635 | |
[5] https://www.t4-denkmal.de/Werner-Catel | |
[6] https://www.spiegel.de/politik/aus-menschlichkeit-toeten-a-5ca32135-0002-00… | |
[7] https://schleswig-holstein.sh/blog/2023/12/13/das-unfassbare-haptisch-mache… | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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