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# taz.de -- Elżbieta Ficowska über Warschauer Ghetto: Lebender Beweis für di…
> Im Berliner Admiralspalast steht Elżbieta Ficowska beim Musical „Irena“
> auf der Bühne, die als Kind aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt wurde.
Bild: Elżbieta Ficowska bei der Warschauer Premiere von „Irena“
taz: Frau Ficowska, Sie wurden 1942 im Warschauer Ghetto geboren, im
Inferno des deutsch besetzten Polens. Über 80 Jahre später wird nun im
Berliner Admiralspalast das Ghetto-Musical „Irena“ Premiere feiern. Was
empfinden Sie dabei?
Elżbieta Ficowska: Ich freue mich sehr. Ich fahre zusammen mit dem Posener
Musiktheater nach Berlin und werde dort auch auf der Bühne stehen.
Natürlich nicht als Schauspielerin oder Sängerin. Ich werde als lebender
Beweis für die Rettung jüdischer Kinder aus dem Warschauer Ghetto ein paar
Sätze über mein eigenes Schicksal sagen. Denn ich bin ein solches
Ghettokind. Ich war sechs Monate alt, als ich in einer kleinen Holzkiste,
versteckt unter Stapeln von Ziegeln, aus dem Ghetto geschmuggelt wurde.
Finden Sie sich in diesem Musical wieder? Singen und tanzen über den
Holocaust?
Ich hatte auch diese Befürchtung, als mich der Direktor des Posener
Musiktheaters besuchte und mir von den Musicalplänen erzählte. Vor meinem
inneren Auge sah ich, wie sich die dramatische Geschichte in eine Art
Hollywoodproduktion verwandelte, die vor allem eines wäre: unerträglich.
Aber ich wurde angenehm überrascht. Das Musical ist sehr gelungen!
Was gefällt Ihnen an „Irena“?
Für mich ist das Popkultur im besten Sinne, also „populär“ in seiner
ursprünglichen Bedeutung: Jeder findet einen Zugang, egal ob
Straßenarbeiter, Professor, Ärztin oder Verkäuferin, egal ob jung oder alt.
Die Handlung ist sehr dynamisch und hochemotional. Doch es ist kein Kitsch,
wie ich befürchtet hatte. Ich hoffe sehr, dass viele junge Leute zu den
Aufführungen in Berlin kommen. Denn in diesem Musical geht es nicht um die
oft wiederholte Anklage „Ihr, die bösen Deutschen!“, sondern um den zivilen
Widerstand gegen das Böse. Es gibt kein Tätervolk. So wenig, wie es ein
Opfervolk gibt. Es gibt nur gute und böse Menschen – in jeder Nation.
Das sagen Sie, obwohl Sie von den Deutschen so viel Böses erfahren haben?
Ja, die Deutschen haben meine ganze Familie ermordet. Am Leben blieb nur
ich – ein damals sechs Monate altes Baby. Eigentlich hätte ich auch sterben
müssen. Aber ich habe überlebt. Das verdanke ich Irena Sendler, die als
Sozialarbeiterin das Kinderreferat der polnisch-jüdischen
Widerstandsorganisation Żegota leitete, und natürlich meiner Adoptivmutter,
der Hebamme Stanisława Bussold. Sie spielte ebenfalls eine führende Rolle
in der Żegota. Aber Polen ist keine Heldennation, wie uns Politiker in den
letzten Jahren weismachen wollten. Es gab damals auch Verräter unter den
Polen oder Menschen, die das Böse zwar sahen, aber gleichgültig wegsahen
und so ebenfalls zum Tod vieler Juden beitrugen. Marian Turski, der das
Ghetto in Łódź und mehrere KZs überlebt hat, sprach sich erst kürzlich
wieder für ein elftes Gebot aus: „Du sollst nicht gleichgültig sein!“
Zusammengefasst: Es gab unter den Polen gute Menschen, schlechte und viele
gleichgültige. So wie unter den Deutschen und allen anderen Nationen auch.
Wenn Sie jetzt nach Berlin kommen, haben Sie bestimmte Erwartungen?
Nein, gar nicht. Aber ich werde mir die Reaktionen des Publikums natürlich
sehr genau ansehen. Ich werde ja gewissermaßen als Epilog des Stücks auf
die Bühne gehen und sagen: „Seht her! Ich bin der lebende Beweis für die
Wahrheit dieser Geschichte!“ In den letzten Monaten hat sich dann meist ein
kurzes Gespräch mit dem polnischen Publikum ergeben. Für mich ist natürlich
sehr spannend, was für Fragen das deutsche Publikum haben wird.
Wussten Sie von Anfang an, dass Sie ein jüdisches Kind aus dem Ghetto sind
und adoptiert wurden?
Nein, ich habe das durch Zufall erfahren. Als ich schon aufs Gymnasium
ging, besuchte mich eine Freundin aus meiner früheren Schule und warf mir
vorwurfsvoll an den Hals: „Wieso hast du mir nie gesagt, dass du Jüdin
bist?“ Ich starrte sie an und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Erst
später kamen mir verschiedene Szenen aus der Kindheit in den Sinn, die
darauf hindeuteten, die ich damals aber nicht verstand.
Haben Sie dann gleich Ihre Adoptivmutter gefragt, ob die Freundin recht
hatte?
Nein, ich wollte ihr nicht wehtun. Sie liebte mich über alle Maßen und ich
fühlte instinktiv, dass sie den Moment fürchtete, wo ich erfahren würde,
dass sie nicht meine richtige Mutter ist. Ich habe diese Last lange mit mir
herumgetragen. Dabei war „das Jüdische“ noch das kleinste Problem, denn ich
hatte absolut keine Ahnung von Juden oder dem Judentum. Schlimmer war der
Gedanke, dass meine Mutter gar nicht meine Mutter war. Das ist wohl typisch
für adoptierte Kinder, die nicht wissen, dass sie adoptiert sind. Immerhin
bin ich dann aber zu meinem Polnischlehrer gegangen und habe ihn direkt
gefragt: „Wer sind Juden?“ Er fragte mit keinem Wort, warum ich das wissen
wollte, sondern erzählte mir nach dem Unterricht zwei Stunden lang von
Juden, vom Holocaust, von den Ghettos. Ich wollte es dann aber doch nicht
so genau wissen und verdrängte die Frage wieder, wer denn meine
eigentlichen Eltern waren.
Wie wurden Sie aus dem Ghetto geschmuggelt? War es Irena Sendler
persönlich, wie es oft heißt?
Nein, Sendler hat als Chefin des Żegota-Kinderreferats viele
Rettungsaktionen koordiniert, aber selbst fast keine Kinder aus dem Ghetto
geschmuggelt. In meinem Fall war es der Stiefsohn meiner künftigen „zweiten
Mutter“, der als Bauunternehmer ins Ghetto rein- und auch wieder rausfahren
konnte. Ich bekam ein paar Tropfen des Schlafmittels Luminal eingeflößt,
sodass ich fest schlafen und auf gar keinen Fall schreien würde. In einer
kleinen Holzkiste verließ ich unter einer Fuhre Ziegel das Ghetto. Meine
Eltern steckten noch einen silbernen Teelöffel, auf dem mein jüdischer
Vorname Elzunia und mein Geburtsdatum 5. 1. 1942 eingraviert waren, in die
Kiste. Mein Vater wurde wenig später erschossen, weil er nicht in den Zug
ins deutsche Vernichtungslager Treblinka einsteigen wollte. Meine Mutter
überlebte zwar das Warschauer Ghetto, wurde dann aber im NS-Lager Poniatowa
bei Lublin ermordet.
Wie kam es, dass gerade Irena Sendler zur „Mutter der Holocaust-Kinder“
wurde?
Weltweit berühmt wurde sie erst gegen Ende ihres Lebens. Ohne ihre engen
Żegota-Vertrauten hätte sie kaum etwas ausrichten können. Die Hilfe für die
naziverfolgten Juden war sehr gefährlich. Man konnte dafür verhaftet und
sogar mit dem Tod bestraft werden. Daher gebührt allen
Żegota-Widerstandskämpfern der Titel „Heldin“ oder „Held“ ganz genaus…
Irena Sendler. Aber sie war die Sprecherin der Żegota-Kindersektion. Zudem
wurde sie fast 100 Jahre alt, überlebte also alle anderen. So kam es, dass
fast alle Żegota-Verdienste ihr persönlich zugeschrieben wurden.
Andererseits war sie ganz ohne Zweifel eine willensstarke und sehr
energische junge Frau.
Die polnisch-jüdische Journalistin Anna Bikont hat weltweit in Archiven
Zahlen, Fakten und Namen überprüft und kommt in ihrer umfangreichen
Sendler-Biografie zu dem Schluss, dass vieles von dem, was heute über
Sendler in Umlauf ist, nur eine schöne Legende sei. Die Zahl von angeblich
2.500 aus dem Ghetto geschmuggelten Kindern sei nicht nachvollziehbar.
Zudem seien weder die vergrabenen Einmachgläser mit den Namenszetteln der
Kinder noch die „Sendler-Liste“ – analog zur „Schindler-Liste“ – ge…
worden. Wie stehen Sie dazu?
Ich kann mit dieser Art von Wahrheit nicht viel anfangen. Wichtig ist, dass
jüdische Kinder aus dem Warschauer Getto gerettet wurden und dass dies
Irena Sendler als Chefin der Kindersektion von Żegota zusammen mit ihren
engsten Vertrauten getan hat. Der Rest – du meine Güte! Ist das wichtig?
Ich wurde gerettet und mein ganzes Leben lang mit Liebe überschüttet.
Allein das zählt.
3 May 2024
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Bühne
Musical
Warschauer Ghetto
Rettung
Jüdisches Leben
Schwerpunkt Nationalsozialismus
NS-Widerstand
Literatur
Staatsoper Hamburg
Kiel
Holocaust
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