# taz.de -- Ringelblum-Archiv aus Warschauer Ghetto: Vermächtnis in Milchkannen | |
> Im Münchner NS-Dokumentationszentrum gibt eine Ausstellung erstmals | |
> Einblick in Originale aus dem Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. | |
Bild: Warschau am 18. September 1946: Das Ringelblum-Archiv wurde in der Nowoli… | |
Es sind Stimmen wie die des 19-jährigen David Graber, die einen noch lange | |
nach der Ausstellung über das Warschauer Untergrundarchiv im Münchner | |
NS-Dokumentationszentrum begleiten. Unter dem Eintrag „Mein letzter Wille“ | |
notiert der junge Mann am 3. August 1942 in sein Tagebuch: „Nur zu gerne | |
würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird | |
und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit.“ David Graber sollte diesen | |
Augenblick selbst nicht mehr erleben dürfen. So wie 300.000 Bewohnerinnen | |
und Bewohner des Warschauer Ghettos wurde er von den Nazis ermordet, viele | |
von ihnen im Vernichtungslager Treblinka. | |
Der Schatz, von dem Graber berichtet, und für dessen Bewahrung er selbst | |
mit gesorgt hatte, wird später unter dem Namen Ringelblum-Archiv in die | |
Geschichtsbücher eingehen. Es handelt sich dabei um eine 35.000 Seiten | |
umfassende Dokumentation des Lebens der Bewohner im Warschauer Ghetto, ein | |
beispielloses Sammlungsprojekt, zusammengetragen von der Gruppe mit dem | |
Tarnnamen Oneg Schabbat (Freude am Schabbat) um den Historiker Emanuel | |
Ringelblum. | |
Als die deutschen Besatzer 1940 einen Teil der Stadt abriegeln und die | |
jüdische Bevölkerung Warschaus und der umliegenden Gemeinden dorthin | |
verschleppen, entsteht mit dem Warschauer Ghetto das größte Sammellager | |
dieser Art. Ringelblum und seine im Geheimen arbeitenden Mitstreiter | |
beginnen ihre Arbeit inmitten von Chaos und Elend, um das Geschehene für | |
die Mit- und Nachwelt zu dokumentieren. | |
„Ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger …“, | |
schreit ein Mann im Prosagedicht von Icchak Berensztein den Passanten ins | |
Gesicht. Das Gedicht ist Teil der Ringelblum-Sammlung, so wie auch die | |
Aufzeichnungen eines Unbekannten, der angesichts des von den Nazis | |
systematisch ausgehungerten Ghettos schreibt: „[…] der Hunger verlässt die | |
Augen nie. Tödlicher Hunger. […] Die ganze Straße ist eine Wunde. Das | |
Ghetto ist eine stinkende, eiternde Wunde.“ | |
## „Sterbekasse“ – die Zeichnung eines toten Kindes | |
[1][In den abgeriegelten Vierteln breiten sich rasant Krankheiten wie | |
Fleckfieber und Typhus aus,] unter dem Hunger leiden am schlimmsten die | |
Kinder. Eine Zeichnung von Benjamin Rozenfeld, die den Titel „Sterbekasse“ | |
trägt, zeigt den kleinen, ausgemergelten Körper eines Kindes tot auf dem | |
Asphalt liegend, sein Kopf mit einem Tuch bedeckt. Die Umstehenden werfen | |
Münzen für seine Beerdigung in ein tönernes Gefäß, die „Sterbekasse“. | |
Szenen wie diese gehörten zum Alltag im abgeriegelten Ghetto, dessen | |
Bewohner nur aufgrund der in die jüdischen Viertel geschmuggelten | |
Nahrungsmittel nicht noch schneller an Auszehrung starben. | |
Zeichnungen wie die Rozenfelds gehören zu den Dokumenten, die Oneg | |
Schabbat systematisch zusammenträgt, aber auch Fotografien, Briefe, | |
Plakate, Zeitungsberichte, NS-Verlautbarungen, Passierscheine, Einladungen | |
zu Kulturveranstaltungen, mitunter unscheinbare Objekte wie ein buntes | |
Bonbonpapier. In der Gesamtschau lassen die Sammlungsstücke einen Eindruck | |
vom Leben und Sterben im Ghetto zu. | |
Die Ausstellung im Münchner NS-Dokumentationszentrum gewährt erstmals | |
Einblick in eine größere Auswahl an Originalen aus dem Archiv und eine | |
umfassende an Reproduktionen. Viele der schriftlichen Zeugnisse wurden vom | |
Ensemble der Münchner Kammerspiele eingesprochen, was den Archiv-Stimmen | |
eine bedrückende Gegenwärtigkeit verleiht. | |
Die gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum | |
initiierte Ausstellung lässt einen Eindruck davon zu, dass es sich bei der | |
Arbeit der rund 60 Oneg-Schabbat-Leute – darunter Intellektuelle, | |
Geschäftsleute, Künstler, Kommunisten – auch um eine Form des zivilen | |
Widerstands handelte. Der Wille zur jüdischen Selbstbehauptung sollte | |
später auch beim [2][blutig niedergeschlagenen Warschauer Ghettoaufstand im | |
Jahr 1943] eine entscheidende Rolle spielen. Oneg Schabbat hatte in den | |
Monaten zuvor begonnen, die systematische Ermordung der jüdischen | |
Bevölkerung in den deutsch besetzten Gebieten Polens zu dokumentieren. | |
Zahlreiche Quellen und Aussagen von überlebenden Geflüchteten, etwa aus dem | |
Lager Treblinka, belegten den Massenmord. Die Nachricht führte im Ghetto | |
zur schieren Panik. | |
## Arbeit des Untergrundarchives bis heute wenig bekannt | |
Trotz ihrer historischen Bedeutung ist die Arbeit der Frauen und Männer um | |
den linken Zionisten Emanuel Ringelblum bis heute weitgehend unbekannt. Ein | |
bedauerlicher Missstand, dem die Münchner Ausstellung sich zur Aufgabe | |
gesetzt hat, entgegenzuwirken. Nur drei Mitglieder des Aktivistenkreises um | |
Oneg Schabbat sollten die Shoah überleben. Das Werk, das sie hinterließen, | |
passte schließlich in 15 Blechkisten und zwei Milchkannen, die die | |
vollständige Vernichtung des Warschauer Ghettos wie durch ein Wunder | |
überdauerten. 1946 wurden sie unter den Ruinen des Ghettos gefunden. | |
In einem der Zeugnisse – den eingangs erwähnten Tagebuchaufzeichnungen | |
David Grabers –, heißt es angesichts der ungeheuren dokumentarischen | |
Anstrengungen an einer Stelle: „Wir müssen uns beeilen, weil wir nicht | |
wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt. […] Wir spürten die Verantwortung. | |
Wir hatten keine Angst, ein Risiko einzugehen. Uns war bewusst, dass wir | |
Geschichte machten. Und das war wichtiger als unser Leben.“ | |
„'Wichtiger als unser Leben’. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos�… | |
NS-Dokumentationszentrum München, bis 7. Januar | |
5 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Chris Schinke | |
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