# taz.de -- 80 Jahre Aufstand im Warschauer Ghetto: Vergebliche Aufklärung | |
> Am 19. April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Szmuel | |
> Zygielbojm warnte da schon lange, dass die Nazis das Judentum vernichten | |
> wollten. | |
Bild: Gedenken an Szmul Zygielbojm in Warschau im Juli 2018 | |
Das „Lied des Hasses“ stammt aus dem Jahre 1942. Darin heißt es: „Ist es | |
mein Schicksal, der letzte Sänger einer ausgerotteten Gemeinde zu sein?“ | |
Mit dieser Frage beginnt das Lied, das der Dichter Itzik Manger schrieb und | |
das er dem [1][polnischen Exilpolitiker Szmuel Zygielbojm] widmete. | |
Zygielbojm hatte als einer der Ersten eindringlich vor der [2][Vernichtung | |
des polnischen Judentums] gewarnt. | |
Zygielbojm, der am 12. Mai 1943 Suizid beging, ist auch fast 80 Jahre nach | |
seinem Tod in der polnischen Zivilgesellschaft präsent, sein Leben und | |
Wirken sind Teil geschichtspolitischer Debatten. 2021 erschien „Śmierć | |
Zygielbojma“ („Zygielbojms Tod“), der erste Spielfilm zu seinem Leben. In | |
Deutschland ist Zygielbojms Wirken als Aufklärer und Ankläger deutscher | |
Verbrechen so gut wie unbekannt. | |
Szmuel Zygielbojm wird 1895 in der Nähe von Chełm geboren. Ab seinem 10. | |
Lebensjahr muss er durch Fabrikarbeit zum Unterhalt der Familie beitragen. | |
Während des Ersten Weltkriegs schließt sich der junge Arbeiter dem | |
marxistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund an, in dem er schnell | |
aufsteigt. | |
Der Bund strebt einen demokratischen Sozialismus an. Im Vordergrund steht | |
zudem der Kampf gegen Antisemitismus. Den Zionismus – die Vorstellung einer | |
„Heimstätte Israel“ – lehnen die Bundisten entschieden ab, die | |
Gleichberechtigung soll in Europa erkämpft werden. „Wir lassen uns nicht | |
als ‚Fremde‘ behandeln!“ lautet Zygielbojms Losung. | |
## Die Familie muss in Polen bleiben | |
Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, zieht Zygielbojm von | |
Łódź in die polnische Hauptstadt. Während viele wichtige Politiker des | |
Bundes in den ersten Tagen des Kriegs Warschau verlassen, organisiert er | |
die Bildung jüdischer Arbeitermilizen zur Verteidigung der Stadt. Nach | |
deren Besetzung muss der Bürgermeister den deutschen Besatzern zwölf | |
Geiseln benennen. Eine der zwei jüdischen Geiseln ist Zygielbojm. | |
Als Mitglied des ersten Judenrats spricht er sich bei Bekanntwerden der | |
ersten Pläne öffentlich gegen die Errichtung eines jüdischen Ghettos aus, | |
wodurch er sich in große Gefahr bringt. Auf Anraten seiner Genossen | |
verlässt er Anfang 1940 sein Heimatland für immer. Nach kurzen Aufenthalten | |
in Belgien und Frankreich erreicht er im Sommer 1940 die USA, während seine | |
Familie in Polen bleiben muss. | |
„Lieber Papa, tu alles, was in deiner Macht steht, um uns zu retten! Lass | |
dein Gewissen rein sein, dass du alles getan hast, was du hättest tun | |
können“, fleht Zygielbojms Tochter Rywka ihren Vater 1941 in einem Brief | |
aus dem Warschauer Ghetto an, wie der Historiker Michał Trębacz | |
nachzeichnete. Zygielbojm beginnt bereits 1940 in Belgien als einer der | |
ersten Augenzeugen, über den deutschen Terror in Polen zu informieren. | |
Angekommen in den USA, reist er durch das ganze Land, um über die | |
Verbrechen aufzuklären. Politische Folgen soll dieser Einsatz genauso wenig | |
haben wie der Versuch, Visa für seine Familie zu organisieren. Nur sein | |
Sohn Josef wird schlussendlich den Holocaust überleben. | |
## Augenzeuge des Terrors | |
Im April 1942 – der Kontakt zur Familie ist mittlerweile abgerissen – reist | |
Zygielbojm nach London, um den Bund im Nationalrat der dort ansässigen | |
polnischen Exilregierung zu vertreten. Hier steht er oft alleine mit seinen | |
Positionen. So wird etwa sein Vorschlag, Antisemitismus zum Verbrechen zu | |
erklären, abgelehnt. | |
Einen Monat nach seiner Ankunft in London berichtet ein Bundist aus | |
Warschau Zygielbojm von der Ermordung von 700.000 polnischen Juden. Es ist | |
einer der ersten Berichte aus den besetzten Gebieten, der über die | |
sogenannte Endlösung informiert. Zygielbojm nutzt seine Stellung in London, | |
um die Welt über den Holocaust zu informieren. Unermüdlich versucht er, | |
durch Radioansprachen, Weitergabe von Informationen an britische | |
Abgeordnete und Journalisten sowie den Kontakt mit anderen Exilanten die | |
Welt aufzurütteln. | |
Im Jahr 1947 berichtete der prominente SPD-Reformer Willy Eichler in der | |
Zeitschrift Geist und Tat, dass Zygielbojm, dem er in London begegnet war, | |
insbesondere über die fehlende Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie | |
im Kampf gegen den Nationalsozialismus enttäuscht gewesen sei. | |
1950 erschien der Bericht des Bundisten Bernard Goldstein über den Aufstand | |
im Warschauer Ghetto in der Europäischen Verlagsanstalt, einem Verlag aus | |
dem Umkreis Eichlers. Die Begegnung mit Zygielbojm dürfte unter anderem ein | |
wichtiger Anstoß für Eichler und andere Sozialdemokraten gewesen sein, sich | |
der Erinnerung an den jüdischen Widerstand zu widmen. | |
## Konflikt mit der Exil-Regierung | |
„Ich berichte mir selbst, weil zu diesem Zeitpunkt ziemlich wahrscheinlich | |
ich der Repräsentant einer Geistergemeinschaft bin. Jedoch, wenn Teile | |
meines Volkes noch leben, rufe ich zu außergewöhnlichen Maßnahmen auf“, | |
sagte Zygielbojm am 13. Dezember 1942 in der BBC. Seine konkreten | |
Forderungen, wie die nach Abwurf von Flugblättern zur Aufklärung der | |
deutschen Bevölkerung über den Völkermord, lehnen die Alliierten ab. | |
Auch mit der polnischen Exilregierung verschärfen sich die Konflikte | |
zunehmend, da Zygielbojm dieser vorwirft, die polnisch-jüdische Bevölkerung | |
zu wenig zu unterstützen. Zygielbojm, der sich in einer psychischen | |
Ausnahmesituation befindet, bittet die Exilführung des Bundes in New York, | |
ihn von seiner Funktion abzuberufen. Im März 1943, noch vor einer | |
Entscheidung über dieses Gesuch, informieren ihn Bundisten aus dem | |
Warschauer Ghetto per Telegramm über die Revolte vom Januar 1943: „Nur du | |
kannst uns noch retten, die Nachwelt wird über dich urteilen.“ | |
Am 19. April 1943 bricht gegen die endgültige Vernichtung des Warschauer | |
Ghettos ein Aufstand aus. Am 16. Mai 1943 erklärt die deutsche Seite, den | |
Aufstand niedergeschlagen zu haben. Bereits am 12. Mai 1943 begeht | |
Zygielbojm aus Protest gegen die weltweite Tatenlosigkeit angesichts des | |
Völkermords an den Juden Suizid. In einem Abschiedsbrief erklärt er mit | |
Bezug auf die Menschen, die er 1940 zurückließ und für deren Rettung er | |
sich verantwortlich fühlte: „Ich kann nicht ohne sie leben. Ich gehöre doch | |
zu ihnen.“ | |
Geht man heute durch Chełm, kann man entdecken, wie ein Abschiedsbrief | |
Zygielbojms als Mural verewigt wurde. Auch in Warschau erinnert an ihn ein | |
Gedenkstein im Rahmen der Gedenkroute des Martyriums und des Kampfes der | |
Juden.Michał Trębacz kritisiert jedoch eine gewisse Einseitigkeit des | |
polnischen Erinnerns. Es konzentriere sich oft auf Zygielbojms Kritik | |
alliierter Tatenlosigkeit angesichts des Holocausts und blende seine | |
kritische Haltung gegenüber der polnischen Exilregierung weitgehend aus. | |
## Deutsches Erinnern? | |
Gleiches gilt auch für das ohnehin kaum vorhandene deutsche Erinnern an den | |
polnischen Politiker. Obwohl einige deutsche Exilanten in den 1950er Jahren | |
ein umfassenderes Bild von Szmuel Zygielbojm zeichneten, wird seine Person | |
im deutschen Erinnerungstheater oftmals auf seinen Abschiedsbrief vom Mai | |
1943 reduziert, so auch in der taz im Jahre 1993. Auch vielen informierten | |
Deutschen dürfte der Name Szmuel Zygielbojm heute noch gänzlich unbekannt | |
sein, obwohl er einer ihrer ersten öffentlichen Ankläger war. | |
Achtzig Jahre nach seinem Tod verdient Szmuel Zygielbojm, dass man an sein | |
Leben und das, was ihm in seinem Leben von Bedeutung war und wofür er sich | |
einsetzte, erinnert: an sein Wirken für ein demokratisches Polen, für seine | |
politische Heimat, den Bund, und für seine Familie – nur so können die Wut | |
und die Trauer des „letzten Sängers“ ansatzweise begriffen werden. | |
17 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Ich-kann-nicht-leben-waehrend-das-juedische-Volk-liquidiert-wird/!1620117/ | |
[2] /!275416/ | |
## AUTOREN | |
Stefan Braun | |
## TAGS | |
Holocaust | |
Warschauer Ghetto | |
Polen | |
Juden | |
Judenverfolgung | |
NS-Gedenken | |
Holocaust | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
Warschauer Ghetto | |
Polen | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Deutsche Geschichte | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Polen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gedenken an „Fabrikaktion“ in Berlin: Protest vor den Augen der Gestapo | |
Am 27. Februar 1943 wurden in Berlin tausende Jüdinnen und Juden | |
inhaftiert. Nichtjüdische Ehepartner protestierten gegen ihre Deportation. | |
Am Ende wurden sie freigelassen. | |
Ringelblum-Archiv aus Warschauer Ghetto: Vermächtnis in Milchkannen | |
Im Münchner NS-Dokumentationszentrum gibt eine Ausstellung erstmals | |
Einblick in Originale aus dem Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. | |
Shoa-Museum der Warschauer Ghettokämpfer: Viel jüdisches Blut und Tränen | |
1943 leistete die jüdische Jugend im Warschauer Ghetto Widerstand. Zivia | |
Lubetkin gründete mit anderen Ghettokämpfern das erste Museum der Shoa. | |
Besuch des Bundespräsidenten in Polen: Steinmeier bittet um Vergebung | |
Als erstes deutsches Staatsoberhaupt hält Frank-Walter Steinmeier 80 Jahre | |
nach dem Aufstand im Warschauer Getto eine Rede am Heldendenkmal. | |
Kampagne der Regierung in Polen: Deutschen-Bashing bis zur Wahl | |
Die polnische Regierungspartei PiS setzt auf das Feindbild Deutschland. | |
Auch Steinmeier kommt bei seinem Besuch nicht gegen diese Stimmung an. | |
Aufstand im Warschauer Getto 1943: Helden, nicht Opfer | |
Vor 80 Jahren kämpften Juden und Jüdinnen im Warschauer Getto gegen die | |
Nazis. Heute fordern viele eine neue Erinnerung, die auch ins Jetzt führt. | |
Veranstalter über Willy-Brandt-Konzert: „Letztlich geht es um Frieden“ | |
Vor 52 Jahren fiel Willy Brandt auf die Knie, um der Helden vom Warschauer | |
Ghetto zu gedenken. Ein Konzert in Lübeck erinnert an die politische Geste. | |
Schriften aus dem Warschauer Ghetto: Chronik des Sterbens | |
Rachela Auerbachs Schriften aus dem Warschauer Ghetto vermitteln das | |
grausame Bild von Hunger und Tod. Jetzt sind sie auf Deutsch erschienen. | |
Ein Jahr zwischen Danzig und Berlin: Wenn Polen offen ist | |
Ein Jahr lebten Freundin und Tochter unseres Autors in Gdańsk. Er pendelte | |
hin und her, im Gepäck: polnische Grammatik, Döblin und Ostseesand. |