| # taz.de -- Umgang mit Behinderung: Damals war es Karlchen | |
| > Gesellschaftliche Vorstellungen begünstigten die Euthanasie in der | |
| > NS-Zeit. Wir müssen für ein soziales Klima sorgen, in dem jeder | |
| > willkommen ist. | |
| Bild: Was denkt die Gesellschaft über sie? Mädchen auf einer Pflegefachmesse … | |
| Neulich hörte ich eine Lesung des neuen Romans „Alle meine Geister“ von Uwe | |
| Timm. Er erzählt darin über seine Jugendjahre im Nachkriegsdeutschland. | |
| Eine Szene des Buches berührte mich ganz besonders. Timm beobachtet darin, | |
| wie der Junge „Karlchen“ am 4. Mai 1945 – also einen Tag nach der | |
| Kapitulation Hamburgs – zum ersten Mal in seinem Leben die Wohnung | |
| verlässt, in der seine Eltern ihn 12 Jahre lang versteckt hatten. Der Junge | |
| tanzt auf der Straße, er umarmt die Bäume und er gibt seltsame Schreie von | |
| sich. | |
| Karlchen war mit dem [1][Down-Syndrom] auf die Welt gekommen, wie mein | |
| eigener Sohn. Damals hätte man ihn einen „mongoloiden Idioten“ genannt und | |
| ermordet, hätten seine Eltern seine Existenz nicht verheimlicht. | |
| Wie viel Ängste, Entbehrungen und Verzweiflung muss diese kleine Familie | |
| dort in der Wohnung unter dem Dach durchlitten haben? Es kommt mir wie ein | |
| Wunder vor, dass sie es überlebt haben. Unser geliebter Willi wäre ohne | |
| medizinische Hilfe schon in seinem ersten Lebensjahr mehrfach gestorben. | |
| Und was wäre aus meinem Mann und mir geworden, ohne unsere Familie und | |
| Freunde, die immer an unserer Seite sind? Der Gedanke, dass jedes laute | |
| Geräusch von Karlchen – und sei es sein Lachen – ihm das Leben hätte kost… | |
| können, schnürt mir die Kehle zu. | |
| ## Das elementarste Gefühl überhaupt | |
| Waren wohl die Großeltern oder ein paar Freunde eingeweiht? Haben es die | |
| Nachbarn gewusst? Eine Kindheit in einer Wohnung eingesperrt, leise sein, | |
| leise sein, nicht mal aus dem Fenster schauen dürfen – denn dort konnte man | |
| gesehen werden – so viel Schmerz und Einsamkeit kann ich mir unmöglich | |
| vorstellen. | |
| Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, wie es dazu kommen konnte, dass diese | |
| [2][furchtbare Vorstellung vom „lebensunwerten Leben“] behinderter und | |
| psychisch kranker Menschen in den Köpfen der Menschen so verbreitet war, | |
| dass dies andere Eltern dazu brachte, ihre Kinder sogar freiwillig in die | |
| Kliniken zu geben, aus denen keines je [3][wieder nach Hause kam]. | |
| Ich dachte, dass die Liebe zu seinem Kind das elementarste Gefühl überhaupt | |
| sei, das zu jeder Zeit und an jedem Ort gleich groß sein müsste. Aber | |
| tatsächlich haben allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen sogar auf die | |
| Elternliebe Einfluss. | |
| Die Idee der „Rassenhygiene“ war übrigens keine Nazierfindung. Schon vor | |
| dem zweiten Weltkrieg war Eugenik in fast allen sogenannten zivilisierten | |
| Staaten in Mode. In den USA, der Schweiz oder beispielsweise im | |
| sozialdemokratischen Schweden wurden Rassengesetze verabschiedet und im | |
| Namen der Volksgesundheit fleißig vermeintlich „erblich Minderwertige“ | |
| zwangssterilisiert. | |
| Was später in Nazideutschland unter dem Schlagwort [4][Euthanasie] | |
| betrieben wurde, war dann ein beispielloses Tötungsprogramm, das | |
| hunderttausenden als „unnütz“ betrachteter Menschen das Leben kostete – | |
| ganz ohne nennenswerte Proteste. | |
| Mir kommt es geradezu perfide vor, dass auch heute wieder Kinder mit | |
| Behinderung aussortiert werden. Die Verantwortung für ihr Leben oder | |
| Sterben wurde ganz zwanglos in die Hände der werdenden Eltern gelegt, die | |
| dies [5][„allein“ entscheiden sollen]. Doch gerade die Angst davor „allei… | |
| zu sein, macht vielen diese Entscheidung schwer. Dazu kommt ein bunter | |
| Strauß an pränataldiagnostischen Untersuchungsangeboten – [6][oft sogar als | |
| Kassenleistung] – die eine gewisse Erwartungshaltung zumindest ahnen | |
| lassen. | |
| Der [7][AfD-Politiker Höcke spricht sogar ganz offen aus], dass er „gesunde | |
| Schulen“ will, die von der Inklusion „befreit“ werden müssen, da solche | |
| Projekte „Kinder nicht leistungsfähiger machen“. | |
| Ich denke, unsere gesellschaftliche Verantwortung für ein soziales Klima zu | |
| sorgen, in dem jeder Mensch willkommen ist, ist heute so groß wie seit 100 | |
| Jahren nicht. Wer jetzt gegen ein antiindividualistisches Menschenbild | |
| [8][auf die Straße geht], der geht damit auch für alle Karlchens und Willis | |
| dieser Welt auf die Straße – wir brauchen sie dringend, um Menschen zu | |
| sein! | |
| 18 Feb 2024 | |
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| [1] /Down-Syndrom/!t5012501 | |
| [2] /Euthanasie-im-Dritten-Reich/!5358234 | |
| [3] /Euthanasie-in-der-NS-Zeit-in-Hamburg/!5745271 | |
| [4] https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-begi… | |
| [5] /Entscheidung-fuer-Praenataldiagnostik/!5937711 | |
| [6] /Praenataltests-auf-das-Downsyndrom/!5922757 | |
| [7] /Debatte-um-Hoecke-Aussage/!5949598 | |
| [8] /Schwerpunkt-Demos-gegen-rechts/!t5338539 | |
| ## AUTOREN | |
| Birte Müller | |
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