# taz.de -- Der Hausbesuch: Eine Kämpferin für die Seele | |
> Unter den Nazis wurde Dorothea Buck zwangssterilisiert. Seitdem kämpft | |
> sie für eine menschlichere Psychiatrie – auch noch mit 101. | |
Bild: Dorothea Buck in ihrem 101. Lebensjahr: Sie liest noch viel, schreibt auch | |
Es ist ein selten heißer Sommertag im Hamburger Stadtteil Schnelsen. Die | |
Sonne hat das rote, backsteinerne Gemäuer des Pflegeheims aufgewärmt. | |
Draußen: Ein leiser Wind fährt durch Blätter im Innenhof. Das Rauschen | |
dringt durch die Terrassentür. | |
Drinnen: In Dorothea Bucks Zimmer ist es still. An den Wänden: warme | |
Farben. Orchideen, Rosen und Engelsfiguren stehen auf der Fensterbank. Auf | |
der Uhr an der Wand steht für jede Stunde ein anderer Vogel. Gerade ertönte | |
das Gezwitscher der Grasmücke. „Vier Uhr“, sagt Dorothea Buck. „In einer | |
Stunde ist das Rotkehlchen dran.“ Im Regal stehen Bücher, darunter „Und | |
Nietzsche weinte“ und „Über den Tod und das Leben danach“. | |
Leben: Buck sitzt aufrecht in ihrem Bett, hellwach. „Ich fühle mich hier | |
ganz wohl“, sagt die 101-Jährige mit singender Stimme, „hier kann ich | |
lesen.“ Neben dem Bett häufen sich Zeitungen. „Die gebe ich weiter, an | |
einen Patienten, der noch lesen kann und noch nicht dement ist.“ Manchmal | |
schreibt Buck auch noch etwas auf. Sie besteht auch darauf, ihre Bücher zu | |
signieren. | |
Gehen: 2013 kam Buck in das Pflegeheim, weil ihre Füße wund wurden und sie | |
das Antibiotikum nicht vertrug: „Ich fühlte mich ganz schwach. Ich dachte: | |
So, jetzt sterbe ich und war damit ganz zufrieden.“ Buck sagt: „Sie | |
begleiten uns hier ja auf unserem Weg – das muss man so sagen – in den Tod. | |
Wir sind zum Sterben hergekommen.“ Für viele sei das „keine einfache | |
Sache“, Buck vermutet, deshalb würden viele dement, wollten nicht | |
realisieren. Sie selbst habe Vertrauen. „Ich glaube ja, dass der Tod eine | |
gute Erfahrung sein kann, wenn Menschen sich um andere gekümmert haben und | |
alles getan haben, dass es ihnen hier im Leben gut geht, dass es ihnen auch | |
nach dem Leben, also im Tod, gut gehen wird.“ | |
Danken: An den Wänden hängen Glückwünsche zum hundertsten Geburtstag. „Sie | |
müssen wissen, dass mein Geburtstag in der Universität groß gefeiert | |
wurde.“ Während des Symposiums saß sie wie jetzt auf ihrem Bett, | |
zugeschaltet per Skype. „Ich werde ja hoch geschätzt, hoch geachtet“, sagt | |
Buck. An einer Wand hängt ein Plakat mit einem Zitat: „Der Kopf ist rund, | |
damit das Denken die Richtung wechseln kann.“ Darunter ein Gruß: „Danke, | |
dass Sie die Psychiatrie und auch mich verändert haben.“ | |
Engagement: Für ihr Lebenswerk wurde Buck unter anderem mit dem Großen | |
Verdienstkreuz der Bundesrepublik ausgezeichnet. Sie gründete den | |
Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener mit. Startete gemeinsam mit Thomas | |
Bock 1989 das erste Psychose-Seminar nach dem Prinzip des „Trialogs“, das | |
sich in ganz Deutschland ausbreitete. Es sollte darum gehen, „Profis“, also | |
Therapeuten und Ärzte, Angehörige und Betroffene zusammenzubringen, um den | |
„Sinn der Psychose“ zu erkennen, sagt Buck. Es gehe dabei nicht darum, die | |
Symptome zu sehen, sondern den Menschen zu verstehen, mit seiner Erfahrung | |
und seinem Lebensweg. Eine Psychose sei die Reaktion auf eine Lebenskrise. | |
Träumen: Das Welterleben in der Psychose könne man sich ähnlich vorstellen | |
wie in einem Traum. Das Unbewusste breche in das Bewusstsein herein. Die | |
Welt spreche plötzlich in Bildern. Es gelte, sie zu deuten. „Die Psychose | |
hat einen Sinn.“ Könne Chance zur Persönlichkeitsbildung sein. Für Buck ist | |
nicht die Psychose das Quälende gewesen, sondern der Umgang der anderen | |
damit. | |
Eine Helferin: Die Wand neben ihrem Bett ist mit Telefonnummern übersät. | |
Vor allem für Betroffene ist Buck mit ihrer positiven Sicht wegweisend. | |
Früher beantwortete sie viele Briefe, mit ihrer Schreibmaschine in ihrem | |
Gartenhaus. Der Paranus Verlag hat den Briefwechsel veröffentlicht („Der | |
Gartenhaus-Briefwechsel“). Heute, im Pflegeheim, klingelt oft das Telefon. | |
Betroffene rufen Buck an, wollen mit ihr sprechen. Ihre Biografie „Auf der | |
Spur des Morgensterns. Psychose als Selbstfindung“ hat sie früher noch | |
unter dem Pseudonym Sophie Zerchin veröffentlicht, es sind die Buchstaben | |
aus dem Wort „Schizophrenie“. Sie hatte in ihrem Leben fünf psychotische | |
Schübe, zwischen 1936 und 1959. Mit der Einsicht in den Sinn der Psychose | |
habe sie sich selbst geheilt. | |
Entwürdigungen: Mit 19 hatte sie ihren ersten psychotischen Schub. Damals | |
habe sie einen inneren Impuls wahrgenommen, der sie in das Watt zog, in | |
Wangerooge, wo sie aufwuchs. Dort sah sie am Himmel einen Morgenstern | |
aufsteigen. Sie schrieb dieser Erfahrung eine religiöse Bedeutung zu. | |
Später interpretierte sie das als Teil einer Lebens- und Glaubenskrise. | |
Buck kam in die Bodelschwinghsche Heilanstalt in Bethel. Ihre Mutter und | |
ihr Vater, ein Pfarrer, glaubten, „sie hätten das Allerbeste getan“, als | |
sie sie dorthin brachten. „Bethel wurde verehrt“, sagt sie. | |
Vernunft: Das Schlimme sei gewesen, dass man sie in Bethel als bloßes | |
Objekt behandelt habe. „Die sprachen ja gar nicht mit uns, diese | |
merkwürdigen Psychiater.“ Für jede Gefühlsregung wurde sie mit neuen | |
„Beruhigungsmaßnahmen“ bestraft. Sie habe den Umgang in Bethel als tiefe | |
Entwürdigung verstanden. | |
Die Narben an den Bäuchen anderer Patientinnen wurden ihr als | |
Blinddarmnarben erklärt. Auch bei ihr wurde dieser „kleine Eingriff“ | |
vorgenommen, ohne dass sie darum wusste, 1936. Eine Mitpatientin klärte sie | |
anschließend darüber auf. Noch Jahrzehnte nach der Nazi-Zeit wurde | |
Patienten in manchen Psychiatrien geraten, sich freiwillig sterilisieren zu | |
lassen. | |
Wege: „Eigentlich wollte ich Kindergärtnerin werden, das durfte ich aber | |
nicht.“ Als Sterilisierte durfte sie keinen sozialen Beruf ergreifen. „Dann | |
habe ich eben die Bildhauerei für mich entdeckt.“ Buck war freischaffende | |
Bildhauerin, modellierte vor allem Akte. In den 60ern wurden ihre Arbeiten | |
weniger – zugunsten ihres Engagements. | |
Zeitzeugin: Als eine der letzten Zeitzeuginnen kämpft Buck dafür, Opfer von | |
Zwangssterilisationen zu rehabilitieren. 1987 gründete sie mit anderen | |
Betroffenen den Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten | |
e. V. Bis heute werden die etwa 400.000 Opfer nicht als „rassisch | |
Verfolgte“ anerkannt. Psychiater, die darin verwickelt waren, starteten im | |
Nachkriegsdeutschland teils große Karrieren. „Es haben ja namenhafte | |
Psychiatrien mitgemacht.“ Sowohl bei den Zwangssterilisationen als auch bei | |
den Euthanasie-Programmen. | |
Euthanasie: Buck erinnert sich an einen Psychiatrie-Aufenthalt in | |
Frankfurt, 1943. „Da war eine Oberärztin, die sagte, als eine Patientin | |
nicht richtig reagierte, dass es schade um sie sei. Dann fragte ich: Wieso | |
schade? Und dann klärte mich eine alte Mitpatientin aus der | |
Universitätsklinik auf, dass sie in die Eichberger Klinik käme und dass sie | |
dort umgebracht werde. Die kriegten die Patienten, von denen sie glaubten, | |
die werden nicht mehr.“ | |
Krieg: „Ich habe ja auch den Krieg ganz dicht erlebt“, sagt Buck. | |
„Furchtbar, furchtbar. Wir saßen beim Abendbrot.“ Mit Lisbeth, der | |
Kinderpflegerin. „Man hatte so seine Stammplätze und ich hatte mich auf | |
ihren Platz gesetzt. Dann bat sie mich, dass wir die Plätze tauschen.“ Kaum | |
saßen sie, kam der Angriff. „Sie war sofort tot und ich war unverletzt.“ In | |
ihrer Biografie stellt Buck den Umgang mit der Psychose dem Kriegserleben | |
gegenüber. Im Krieg würde man eine Schicksalsgemeinschaft, schreibt sie. | |
Der innere Konflikt mit der Psychose und der Entwertung als „geisteskrank“ | |
sei ein einsamer. | |
18 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Lea Diehl | |
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