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# taz.de -- Der Hausbesuch: Beinahe wie ein Ehepaar
> Dirk und Stephan lernten sich auf der Straße kennen, sie waren obdachlos.
> Sie gaben eine Anzeige auf: „Vermieter mit Herz gesucht“. Und fanden ihn.
Bild: Wollen nicht mehr ohne einander leben: Stephan (links) und Dirk in ihrer …
Die beiden sind noch nicht lange hier, in Berlin-Moabit: Dirk und Stephan,
die damals obdachlos waren, hatten erst im September mit einer Annonce nach
einem „Vermieter mit Herz gesucht“ – und auf Ebay-Kleinanzeigen Erfolg.
Draußen: Eine Seitenstraße mit pastellfarbenen Altbauten, einer
Fußballkneipe mit „Fick dich AfD“-Schriftzug an der Fassade – und einer
Grundschule, auf deren Hof ein paar Jungs Fußball spielen.
Drinnen: Dirk und Stephan, die von allen nur beim Vornamen genannt werden,
öffnen die Tür ihrer kleinen Zweizimmerwohnung. Elvis, ein Jack
Russell-Dackelrüde – „vor paar Wochen über Facebook geholt“ – springt…
die beiden herum. Die Wohnung der zwei 54-Jährigen erinnert an ein
Warenlager: Im Flur stapeln sich Kisten und große Einkaufstüten. In Dirks
Zimmer steht ein antikes Radio auf einem modernen Esstisch, an den Wänden
hängen Bilder mit gestickten Blumen und ein Plasmafernseher. „Alles hier
wurde uns geschenkt“, sagt Dirk.
Dirk: Früher hatte Dirk gemeinsam mit seiner Frau in Frankfurt am Main
einen kleinen Bahnhofsladen. Nach der Trennung von ihr ging er nach Berlin
und machte sich selbstständig – mit einem Onlinehandel. Die Geschäfte
jedoch liefen nicht. Im Jobcenter setzte man ihm zu, er solle sich etwas
anderes suchen. „Aber ich leide unter Panikattacken. Da kommen Jobs, bei
denen ich Bahn und Bus nehmen und unter Menschen sein muss, nicht infrage.“
Zu seinen beruflichen Sorgen kamen private: Seine neue Freundin begann zu
trinken. Nach zwei Jahren verließ er die gemeinsame Wohnung und lebte von
Ersparnissen. Dann bekam er, der Asthmatiker ist, schwere Bronchitis. Für
die Behandlung ging sein letztes Geld drauf: „Eine Krankenversicherung kann
ich mir schon lange nicht mehr leisten.“ Er setzte sich an den Ku’damm. Die
erste Zeit wurde er ignoriert: „Dann kannten mich die Leute und haben Essen
und Klamotten gebracht.“
Stephan: Stephan verlor erst im letzten Jahr Arbeit und Wohnung. Die
Hamburger Spedition, für die er jahrelang gearbeitet hatte, meldete
Insolvenz an. Als er sich arbeitslos melden wollte, erfuhr er, dass sein
Arbeitgeber keine Sozialabgaben abgeführt hatte: Ihm stand kein
Arbeitslosengeld zu. Eine neue Arbeit fand er nicht, sein Vermieter setzte
ihm eine Räumungsfrist. Noch vor Ablauf der Frist wandte er sich an ein
Obdachlosenheim. Das Jobcenter aber bewilligte die Kosten nicht. Seit einem
Berufsunfall ein paar Jahre zuvor bezieht der Lkw-Fahrer eine Unfallrente
von 450 Euro. „Der Bearbeiter meinte, für die 50 Euro, die mir noch
zustünden, würde kein Antrag lohnen.“ Stephan ging nach Berlin und fand
einen neuen Job als Spediteur: „Mit 850 Euro, die ich hatte, aber bekommt
man hier keine Wohnung.“
Kennenlernen: Dirk und Stephan haben sich auf der Straße kennengelernt.
„Bis letzten September saßen wir nachts immer mit fünf bis sieben anderen
vor der Mensa der Technischen Hochschule“, sagt Dirk. „Für die waren wir
eine Art kostenlose Security: Wir haben Dreck beseitigt und aufgepasst.“
Dann hob die Universität die Duldung auf, vor dem Gebäude zu nächtigen:
„Wegen einer neu dazugekommenen Gruppe Osteuropäer, die Autos angepinkelt
hat.“
Sozialpolitik: „Ich habe nichts gegen Ausländer“, stellt Dirk klar. „Es
gibt einige Obdachlose, die schimpfen, dass für Flüchtlinge mehr gemacht
wird als für sie. Zu denen gehöre ich nicht. Die Flüchtlinge können doch
nichts für die Politik.“ Er wünscht sich für alle eine bessere
Sozialpolitik. „Besonders im Gesundheitsbereich. Ohne Versicherung wird man
erst behandelt, wenn man ein Notfall ist. Dabei könnte man präventiv viel
mehr erreichen: Eine Bronchitis zum Beispiel kann am Anfang schnell und
günstig behandelt werden. Nach ein paar Wochen wird es schwierig und
kostspielig.“
Zurechtkommen: In einer Unterkunft oder weiterhin auf der Straße zu
schlafen, stand für Dirk und Stephan nicht zur Debatte: „In den
Unterkünften holt man sich alles, was man noch nicht hat, auf der Straße
wird einem für ein Euro der Schädel eingeschlagen“, meint Dirk. Sie taten
sich zusammen: „Im Gegensatz zum Rest unserer Truppe wollten wir weg von
der Straße, auf eigenen Beinen stehen.
Die Anzeige: Dirk inserierte auf Ebay-Kleinanzeigen: „Ordentliche
Obdachlose suchen Arbeit“ und „Ordentliche Obdachlose suchen Wohnung“. Er
lacht. „Auch Penner sind modern!“ Obwohl er die Anzeigen täglich erneuerte,
kamen nur vereinzelte Wohnangebote: „Alle aus der Pampa. Da hätten wir
keine Jobs gefunden.“ Dann änderte Dirk die Titelzeile des Wohnungsgesuchs
in „Obdachlose suchen Vermieter mit Herz“. Kurz darauf klingelte sein
Handy: Nach Journalisten, die Interviews wollten und Menschen, die die
beiden temporär unterbrachten, meldete sich ihr jetziger Vermieter. „Er
meinte, er habe Hunderte Bewerber, aber eine innere Stimme sage ihm, dass
er die Wohnung uns geben sollte.“ Dirk lächelt und fügt hinzu: „Er ist se…
gläubig und war in der Vergangenheit selbst einmal obdachlos.“
Neuanfang: Mittlerweile fühlen sich Dirk und Stephan in der Wohnung ganz zu
Hause. Bislang läuft es für die beiden relativ gut: Stephan liefert
Zeitungen von Berlin nach Hamburg, Dirk arbeitet nachts an der Rezeption
eines Hostels. Mit ihrer Schicksalsgemeinschaft von früher sind sie per
WhatsApp in Kontakt. Ihr neues Zusammenleben verläuft reibungslos. Dirk
nennt Stephan den „Dicken“, Stephan sagt, „wir sind beinahe wie ein altes
Ehepaar“. Von den neuen Nachbarn bekommen sie nicht viel mit: „Ab und an
fragt einer, ob wir wieder ausziehen, wenn Spenden im Hof stehen. Sonst ist
es hier anonym.“
Das Netzwerk: Während der Wohnungssuche begann Dirk, regelmäßig unter dem
Pseudonym Ralf Dirk Farm auf Facebook zu posten: „So nach dem Motto ‚Neues
aus der Anstalt‘.“ Nachdem die Bild-Zeitung über seine Anzeige berichtet
hatte, brachte er es auf fast 5.000 „Freunde“: „Die verfolgen unsere
Geschichte, nehmen Anteil und helfen mit Spenden, wie sie können. Ohne
unser Netzwerk hätten wir hier nichts.“
Unterstützen: Seit sie so leben wie jetzt, sammeln die beiden für ihre
Freundinnen und Freunde von der Straße: „Die meisten von denen haben
psychische Probleme und holen sich nirgendwo Hilfe.“ Seit Kurzem engagieren
sie sich zudem für den Verein Soziale Integration. „Die arbeiten
ehrenamtlich und sind im Gegensatz zu großen Organisationen transparent: Da
weiß man, wo die Spenden hingehen. Außerdem kümmern die sich um alle. Nur
weil wir mal obdachlos waren, heißt das ja nicht, dass wir nur Obdachlosen
helfen wollen. Es gibt so viele Hilfsbedürftige.“
Was halten sie von Merkel? Stephan meint: „Zu der habe ich keine Meinung.
Wer regiert, ist doch ganz egal. Es ändert sich eh nichts.“ Dirk findet:
„Merkel macht eine gute Europapolitik. Innenpolitisch aber versagt sie:
Holt das Elend der Welt hierhin, kümmert sich aber nicht um die sozialen
Schieflagen wie Lohngerechtigkeit, Altersarmut, bezahlbaren Wohnraum oder
Kita- und Schulplätze.“
1 Mar 2018
## AUTOREN
Eva-Lena Lörzer
## TAGS
Der Hausbesuch
Arbeitslosigkeit
Obdachlosigkeit
Jobcenter
Ebay
Anzeige
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