| # taz.de -- Der Hausbesuch: Zweimal im Leben schlau sein | |
| > Eigentlich wollte sie nur ein Auto in Deutschland kaufen. Das war 1987. | |
| > Zu Besuch bei Sabina Kalaitsidis in Leipzig, die sich bis heute | |
| > „Jugoslawin“ nennt. | |
| Bild: Durchboxen, das kennt und kann sie: Sabina Kalaitsidis | |
| Dass sich das Leben manchmal von selbst lebt, hat Sabina Kalaitsidis | |
| erfahren. Man trifft eine Entscheidung, den Autokauf in ihrem Fall, der | |
| Rest ergibt sich. | |
| Draußen: Kinder tollen ums Karree. Auf dem Kopfsteinpflaster rasseln ihre | |
| Fahrradklingeln. Dann ist es still im Nordwesten Leipzigs. Hüfthohe Hecken | |
| markieren den Eingang zum Haus von Sabina Kalaitsidis. Neben einer | |
| wuchtigen Haustür parkt ein Rollator. Ein ältere Dame ächzt im Treppenhaus, | |
| schiebt sich vorbei an türkisfarbenen Kacheln, die in der matten | |
| Wintersonne glänzen. | |
| Drinnen: Apfelgrüne Streifen verzieren die Wände im Wohnzimmer. Ein | |
| Hula-Hoop-Reifen klemmt hinter dem Sofa. Für die Fitness. Auf der | |
| Fensterbank sechs Orchideen, ein Strauß Tulpen auf dem Esstisch. Daran | |
| sitzt Tochter Melina und schlürft eine Suppe, sie hatte eine | |
| Weisheitszahn-Operation. Aufgeregt plappert der Moderator im Küchenradio. | |
| RSG heißt der Sender, live aus Sarajevo. Bald schon wird der japanische | |
| Kirschbaum im Innenhof blühen. Sabina Kalaitsidis kann es kaum erwarten. | |
| Kindheit: Eine Kaffeekanne aus Messing mit Verzierungen, dazu passend eine | |
| Zuckerdose sind die einzigen Gegenstände, die in Sabinas Wohnung noch an | |
| ihr Geburtsland, das es heute nicht mehr gibt, erinnern. „Ich sage immer | |
| noch, ich bin eine Jugoslawin.“ 1966 wurde Sabina in der Nähe von Doboj | |
| geboren, im Norden des heutigen Bosnien-Herzegowinas. Den Großeltern | |
| zuliebe schickt sie der Vater zum Koranunterricht. Sabina langweilt sich | |
| und erschreckt den Imam mit einer Gummischlange, die sie aus dem Ärmel | |
| zieht. „Da hat er mich fortgejagt“, erzählt sie lachend. | |
| Ankunft: Ein Auto wollte sie sich kaufen. Um das Geld dafür zu verdienen, | |
| verlässt Sabina 1989 das ehemalige Jugoslawien. Ihre erste Station: | |
| Dortmund. Dort lebt sie zunächst ohne Papiere. Bleiben will sie in | |
| Deutschland aber nicht, auch wenn sie die Sprache bereits in der Schule | |
| gelernt hatte. Zumindest lesen und schreiben. „Aber diese Aussprache!“ In | |
| einem griechischen Restaurant findet sie nicht nur Arbeit, sondern lernt | |
| auch ihren späteren Mann kennen. Als die Mauer fällt, will er ein neues | |
| Lokal in Leipzig eröffnen. Sabina folgt ihm. | |
| Leipzig: 1992 bezieht das Paar seine erste Wohnung in Grünau, einer | |
| Plattenbausiedlung in Leipzig. Sie findet Gefallen am Ort und den | |
| Ostdeutschen: „Die Mentalität ist näher an unserer.“ Wie lange es dieses | |
| „unserer“ noch gibt, steht in den Sternen, denn daheim – in Bosnien, nicht | |
| mehr Jugoslawien – herrscht jetzt Krieg. | |
| Zusammenhalt: Während viele Menschen fliehen, will Sabina ihrer Familie | |
| beistehen und zurück. Die Zöllner erklären sie für verrückt und lassen sie | |
| nicht über die Grenze. In Slowenien findet sie Unterschlupf bei einer | |
| Tante. Der Plan: Die Familie dorthin holen. Aber Sabinas Bruder meldet sich | |
| freiwillig zum Dienst in der bosnischen Armee. Der Vater will ihn nicht | |
| zurücklassen, die Mutter nicht den Vater, und die Schwester nicht die | |
| Eltern. Sabina lebt wie im Exil: „Manchmal wusste ich monatelang nicht, ob | |
| sie leben.“ Abends lauscht sie angespannt den Nachrichten im Radio, erfährt | |
| vom Genozid in Srebrenica. Schuldig hätten sich aber alle Kriegsparteien | |
| gemacht, sagt sie. | |
| Abschiebehaft: „Nichts war mehr zu erkennen“, als der Bürgerkrieg 1995, | |
| nach drei Jahren endet. Zurück in Deutschland bekommt Sabina nur eine | |
| Duldung. Noch arbeitet sie im Restaurant ihres griechischen Partners, sie | |
| wollen heiraten. Als 1997 ihre Arbeitserlaubnis nicht verlängert wird, | |
| nimmt man ihr den Pass weg. „Solange ich hier sitze, bleibst du nicht in | |
| Deutschland“, sagt der Sachbearbeiter der Ausländerbehörde. Sabina wird | |
| festgenommen und entgegnet: „Mal sehen, wie lange du dort sitzt.“ Zusammen | |
| mit acht anderen Frauen muss sie sich eine Zelle in Chemnitz teilen: | |
| Abschiebehaft. Nach zehn Tagen kommt sie frei. | |
| Wiedersehen: Zehn Tage nach der Haft heiratet sie, ihre Tochter wird ein | |
| Jahr später geboren. Der Aufenthaltstitel ist mittlerweile gesichert. Und | |
| Sabina behält recht: Nun ist es der Sachbearbeiter der Ausländerbehörde, | |
| der hinter Gitter muss. Über Jahre hatte er Schmiergeld kassiert. Später | |
| trifft ihn Sabina zufällig beim Einkaufen. Auf einer Leiter stehend räumt | |
| er Regale im Supermarkt ein. Sabina ruft ihm zu: „Na, ist das nicht schön | |
| da oben?“ | |
| Trennlinien: In der Familie gab es viele Religionen. „Ich glaube, es gibt | |
| einen Gott für uns alle“, sagt Sabina. Der Glaube habe aber im Umfeld keine | |
| Rolle gespielt. Dann änderte der Krieg die Menschen. „Ich weiß nicht, ob | |
| ich dort heute noch in Bosnien leben könnte“, sagt Sabina, die mittlerweile | |
| mehr Jahre ihres Lebens in Deutschland verbracht hat. Ein, zwei Mal im Jahr | |
| besucht sie die Verwandten. Ihren Pass abgeben möchte sie nicht. | |
| Neustart: In ihrer Ehe habe es viele Missverständnisse gegeben. Selbst als | |
| Sabina Griechisch lernt, versteht sie ihren Mann nicht. Dennoch hält sie | |
| ihm den Rücken frei, auch als sein Restaurant schließen muss. In 23 Jahren | |
| Beziehung ist sie es, die ständig nachgibt. Auch wegen Tochter Melina: „Ich | |
| wollte ihr eine heile Familie bieten.“ Irgendwann jedoch hat sie das | |
| Gefühl, sie stehe mit dem Rücken zur Wand. Zum 45. Geburtstag fragen ihre | |
| Freundinnen: „Was wünscht du dir?“ Sabina ergreift die Flucht nach vorne | |
| und zieht aus: „Ich habe nichts mitgenommen. Nur persönliche Dinge und mein | |
| Kind.“ | |
| Melina: Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Bosnisch. Stolz zählt | |
| Sabina die Sprachen auf, die ihre Tochter beherrscht: „Und jetzt lernt sie | |
| Koreanisch.“ Bald wird die 19-Jährige Abitur machen, eine Universität | |
| besuchen. Sabina hätte auch gern studiert. Die Aufnahmeprüfung für Jura | |
| hatte sie bereits bestanden. Doch sie wollte der Familie damals keine | |
| finanzielle Last sein. „Heute bereue ich es.“ | |
| Anerkennung: Zuvor hatte sie bereits eine Ausbildung abgeschlossen, | |
| „bestehend aus Psychologie, Staats- und Sozialrecht“, und einen „komplexen | |
| Beruf“ erlernt. In Deutschland sieht man sie achselzuckend an und macht | |
| „Technikerin für Verwaltung und Administration“ daraus. Sabina wird zu | |
| einem Praktikum in der Verwaltung geraten, selbst finanziert: „Nicht mein | |
| Ding.“ Eine Umschulung bekommt sie nie bewilligt: „Man hat mir keine Chance | |
| gegeben.“ Also habe sie sich eben „durchgeboxt“. | |
| Wieder von vorne: Durchboxen, das kennt sie. Auch beruflich wagt sie nach | |
| der Trennung einen Neuanfang. Nach zehn Jahren als Filialleiterin in einer | |
| Bäckerei „habe ich eines Tages einfach die Schürze abgemacht“. Heute | |
| arbeitet sie in einem Delikatessenladen auf der Karl-Heine-Straße, im | |
| hippen Leipziger Westen. Das Team ist so international wie die Kundschaft. | |
| Was ist für sie Glück? Mutter einer Tochter zu sein, die „zu lieb für diese | |
| Welt“ ist. Was noch? Sabina zitiert ein bosnisches Sprichwort: „Du musst | |
| zweimal im Leben schlau sein. Wenn du deinen Beruf und deinen Partner | |
| wählst.“ Bei Ersterem hatte sie keine große Wahl, bei ihrem jetzigen | |
| Partner fühlt sie sich jedoch geborgen. Auch er stammt aus Bosnien, hat | |
| eine Tochter. Sie lachen und verreisen viel, waren kürzlich zu viert | |
| Skifahren. Während er sich mit ihrer Tochter den Hang hinabstürzte, machte | |
| sie es sich mit seiner Tochter im Tal gemütlich. | |
| 3 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna-Theresa Bachmann | |
| ## TAGS | |
| Der Hausbesuch | |
| Leipzig | |
| Bosnien und Herzegowina | |
| Bosnien-Herzegowina | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Blinde Menschen | |
| Der Hausbesuch | |
| Der Hausbesuch | |
| Der Hausbesuch | |
| Der Hausbesuch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Symbol nach der Belagerung von Sarajevo: Die Seilbahn, die verbindet | |
| Als 1992 der Krieg beginnt, kappen sie die Seilbahn. 1.425 Tage dauert die | |
| Belagerung von Sarajevo. 26 Jahre dauert es, bis auch die Seilbahn wieder | |
| fährt. | |
| Der Hausbesuch: Nicht alle so wie sie | |
| Gika und Lucy Wilke sind Mutter und Tochter und haben eine Band, „Blind & | |
| Lame“. Vorbilder wollen sie nicht sein, sind es aber irgendwie doch. | |
| Der Hausbesuch: Gegen schräge Maschen | |
| Der Liedermacher Ludwig Domrös wohnt in einer WG in Cottbus. Er tut viel | |
| dafür, dass das ausländerfeindliche Image der Stadt nicht das einzige ist. | |
| Der Hausbesuch: Beinahe wie ein Ehepaar | |
| Dirk und Stephan lernten sich auf der Straße kennen, sie waren obdachlos. | |
| Sie gaben eine Anzeige auf: „Vermieter mit Herz gesucht“. Und fanden ihn. | |
| Der Hausbesuch: Gehen wie ein Baum | |
| Wächst man in der Westberliner Boheme auf, ist Behinderung auch nur eine | |
| Form von Anderssein. Zu Besuch bei Marcel Mühlenhaupt. | |
| Büchnerpreisträgerin Elke Erb: Mit den Gedanken fliegen | |
| Nach dem Krieg zog ihre Familie von der Eifel in die DDR. Beim Versuch, den | |
| Sozialismus zu verstehen, entdeckte Erb die Poesie. Ein Hausbesuch aus | |
| 2018. |