# taz.de -- Der Hausbesuch: Nicht alle so wie sie | |
> Gika und Lucy Wilke sind Mutter und Tochter und haben eine Band, „Blind & | |
> Lame“. Vorbilder wollen sie nicht sein, sind es aber irgendwie doch. | |
Bild: Die Mutter spielt Gitarre, die Tochter singt | |
Zu Besuch bei Gika und Lucy Wilke in München. Lucys Wohnung befindet sich | |
mitten im neu errichteten Quartier „Am Ackermannbogen“. Mutter und Tochter | |
wohnen seit zehn Jahren nicht mehr zusammen, doch sie sehen sich nach wie | |
vor fast täglich. Seit drei Jahren haben sie auch eine Band zusammen, | |
„Blind & Lame“ heißt sie. Der Name soll das mit ihren Behinderungen schnell | |
abhaken: Gika ist seit 15 Jahren blind und Lucy sitzt wegen einer | |
Muskelerkrankung im Rollstuhl. Das aber, sagen sie, habe mit ihrer Kunst | |
nichts zu tun. | |
Draußen: Sozialwohnungen, ehemalige Kasernenbauten und Holzbungalows „für | |
die Reichen“, sagt Lucy Wilke, 33 Jahre alt, „ein Münchner Modell mit | |
Bewohnern aus aller Welt“. Neubau und Baustellen. Auf dem Spielplatz im | |
Hinterhof spielen Kinder mit Schneeresten. Gegenüber eine | |
Kleingartenkolonie und die Hügel des Olympiaparks mit dem Olympiaturm als | |
Protagonisten, ein Münchner Wahrzeichen. Sonntagsstimmung. Menschen | |
schieben Kinderwägen, fotografieren, joggen. Aus der Ferne sehen sie wie | |
kleine Figuren aus, die sich stumm im Sonnenlicht bewegen. | |
Drinnen: An einer Wohnzimmerwand hängen zwei Frauenbilder, die Lucys | |
Exfreund für sie malte. Er ist einige Tage vor diesem Hausbesuch | |
ausgezogen, sein Atelier ist noch so, wie es war. In Lucys Schlafzimmer | |
sind ihre eigenen Malutensilien, im Schlafzimmer ihrer Assistentin hängt | |
ein Selbstbildnis als Meerjungfrau. Neben einem vollen Schminktisch ein | |
Altar mit weißen und schwarzen Madonnen. „Ich bin nicht religiös“, erklä… | |
Lucy. Aber die heilige Sara, die „Schutzpatronin der fahrenden Völker“, die | |
ist für sie etwas Besonders. Das Holzhimmelbett hat Lucys Vater genauso | |
gebaut wie die Bibliothek, in der sich Bilderbücher reihen. „Ich habe eine | |
kleine Sammlung“, sagt sie. Sie illustriert auch selbst Kinderbücher. | |
Musik: Seit Gika Wilke denken kann, war Musik in ihrem Leben. Im | |
bayerischen Dorf Halfing, in dem sie vor 59 Jahren geboren wurde, waren | |
ihre Eltern – der Vater spielte als Schulhauptlehrer Geige, die Mutter war | |
Solistin und Orgelspielerin – für die gesamte Musik im Dorf zuständig. Gika | |
spielte Klavier und sang mehrstimmig mit ihren drei Schwestern. Entweder | |
klassische Musik oder bayerische Volkslieder, sagt Gika. „Das Exotischste, | |
das wir hatten, war ‚My fair Lady‘.“ Als Jugendliche entdeckte sie die | |
Rockmusik, „das war meine Generation“. Doch sie ging in eine andere | |
Richtung: In Südfrankreich lernte sie die Szene der Rumba-Flamenco und | |
„Gipsy“- Musik kennen und wurde bald Teil einer großen Familie. Sie spielte | |
Gitarre und tanzte. Und sie freundete sich mit einigen Mitgliedern der | |
Gipsy Kings an, bevor diese groß rauskamen. | |
Wagenplatz: „Ich war noch nicht geboren und hörte schon Musik“, sagt Lucy. | |
Ihre Mutter nickt und Lucy sagt: „Sie trommelte auf dem Bauch und sang mir | |
vor.“ Lucy lernte singen, noch bevor sie anfing zu sprechen. „Schon immer�… | |
sagt Gika, sangen Mutter und Tochter zusammen, zweistimmig. Auf dem | |
Wagenplatz in Nordmünchen, wo sie wohnten, störte die Musik niemanden. Für | |
Gika, die heute noch dort wohnt, ist es der ideale Ort für MusikerInnen. | |
Bei langen Jam-Sessions und in Nächten am Lagerfeuer machen alle mit. Lucy | |
war als Kind immer dabei. Am nächsten Tag zur Schule gehen zu müssen war | |
das einzige Problem, erinnern sie sich. | |
Normalität: Auch wenn Lucy in München geboren ist, seien ihre Wurzeln in | |
der Gipsy-Musik und dem Lebensstil, sagt sie. „Ich bin damit aufgewachsen.“ | |
Es dauerte Jahre, bis sie realisierte, dass nicht alle Kinder wie sie | |
lebten. „So wie meine Behinderung normal war, war es für mich auch normal, | |
auf einem Wagenplatz mit Musikern aus aller Welt zu wohnen, die ganze | |
Salsa- und Latino-Szene aus München zu Besuch, und häufig Feste zu feiern“, | |
sagt sie. Ihr Vater, ein Hobby-Heavymetal-Musiker, der 22 Jahre mit Gika | |
verheiratet war, baute für die Tochter den Wagen barrierefrei um, für ihren | |
Rollstuhl entwarf er eine Ledertasche wie für eine Harley Davidson, die | |
Lucy immer trägt. Das kollektive Boheme-Leben, das Mutter und Tochter so | |
gut kennen, zeigten sie in ihrem Musikvideo „Blow“. Immer draußen zu sein | |
und die Nähe zur Natur vermisst Lucy schon. Doch ihren eigenen Alltag in | |
ihrem eigenen Zuhause zu führen war ihr wichtiger. Die Beziehung zu ihrer | |
Mutter blieb eng, und so beschlossen beide Frauen vor drei Jahren, eine | |
Band zu gründen. | |
Band: Das war „ein Späßchen“, sagt Gika zu Lucys Idee, sich „Blind & La… | |
zu nennen. Selbstironie sei ihre Stärke. „Das können wir nicht machen“, | |
sagte die Mutter. „Oh doch!“, mischte sich später die Managerin ein, die | |
mit ihrem Musiklabel Veranstaltungen für Kultur und Inklusion organisiert. | |
„Wir sind keine Behinderten, die Musik machen, sondern Musikerinnen, die | |
eine Behinderung haben“, sagt Gika. „Das wollen wir nicht verheimlichen, | |
aber das steht für uns nicht im Mittelpunkt.“ Lucy wurde mit der | |
Muskelerkrankung geboren. Sie selbst erblindete vor 15 Jahren nach einer | |
Netzhautdegeneration und musste sich an die neuen Umstände gewöhnen. Ihren | |
Beruf als Deutschlehrerin gab sie auf, doch nicht die Musik. „Am Anfang | |
hatte ich Zweifel, mich auf der Bühne zurechtzufinden und mich so zu | |
präsentieren“, sagt Gika. Weil sie Herausforderungen liebe, traute sie sich | |
doch und fand heraus, dass es so gut ging wie früher. | |
Rollenbilder: Neben der Musik machte Lucy eine Bühnenausbildung und spielt | |
zum Beispiel im Theaterprojekt „Fucking Disabled“. Sie versteht sich als | |
Quereinsteigerin in die freie Bühnenszene und macht sich über die | |
Rollenbilder von Menschen mit Behinderung lustig, wie sie Medien | |
transportieren. „Entweder leiden wir ohne Ende oder blühen trotz | |
Behinderung auf.“ Beide Frauen lachen. „Wir sind nicht immer traurig und | |
auch nicht nonstop glücklich. Die Behinderung ist nicht das Zentrum unseres | |
Universums, wir haben andere Probleme.“ | |
Botschaft: „Wir sind keine Aktivistinnen“, sagt Lucy, die „als | |
Privatperson“ zu Demos geht und sich für ein selbstbestimmtes Leben | |
engagiert. Das sei schon ein großes Anliegen. „Wenn unsere Musik ein Signal | |
gibt, dass man alles machen kann, ist das ein netter Nebeneffekt, aber | |
nicht unser Ziel“, sagt Gika dazu. Ihnen gehe es darum, gute Lieder zu | |
produzieren. Sie komponieren, drehen Musikvideos, pflegen ihre Webseite und | |
bereiten ihr zweites Album vor. „Blind & Lame“ sei vielfältig, weil sie es | |
auch seien. Als „echt, unkompliziert, natürlich, passioniert“ beschreiben | |
sie sich. Stile – Swing, Jazz, Rumba, Country – und Sprachen – Deutsch, | |
Englisch, Französisch, Spanisch – mischen sie gerne und spielen für ein | |
gemischtes Publikum mit und ohne Behinderung. Ihr Sound solle schlicht gute | |
Laune machen. | |
Glück: „Wann sind wir glücklich?“, das fragen sich Mutter und Tochter | |
gegenseitig. Für Lucy geht es um das Größere: „wenn ich Kunst und Liebe | |
verwirklichen kann.“ Für Gika dagegen kommt das Glück unerwartet im Alltag, | |
zum Beispiel wenn sie mit einer Freundin schwimmen geht oder in | |
Südfrankreich reitet und plötzlich eine Nachtigall hört. | |
Und wie finden sie Merkel? „Sie hat unsere CD“, sagt Gika. „Lucy hat ihr | |
eine gegeben.“ Sie fügt hinzu: „Fans oder Wählerinnen sind wir trotzdem | |
nicht.“ | |
23 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
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