Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Merkels Wiederwahl zur Kanzlerin: Kleinster gemeinsamer Nenner
> Merkel wird im Bundestag zum vierten Mal zur Kanzlerin gewählt – gerade
> eben so. Eine stabile Phase scheint zu Ende.
Bild: Merkels Stuhl (rechts) hat eine verlängerte Rückenlehne
Berlin taz | Angela Merkel sieht in dieser einen Minute fürchterlich einsam
aus. Allein sitzt sie im Bundestag in der Kabinettsbank, ganz links, auf
dem Chefinnensessel mit erhöhter Rückenlehne. Die MinisterInnen sind noch
nicht ernannt. In wenigen Sekunden wird Merkel vor Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble ihren Amtseid leisten. Sie wird schwören, sie werde ihre
Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren und
Schaden von ihm wenden. „So wahr mir Gott helfe.“
Wenn man Merkel, weißer Blazer, die Hände vor sich gefaltet, die Miene
ernst, da so sitzen sieht, dann fragt man sich unwillkürlich: Kann sie das
eigentlich noch, Schaden abwenden und Nutzen mehren?
Die Große Koalition, die sich nun ans Regieren macht, ist kein Bündnis, das
sich auf Überzeugung, gar Leidenschaft gründet. Stattdessen einte vor allem
die Einsicht, dass alles andere schlimmer gewesen wäre. Jamaika geplatzt,
vor Neuwahlen hatten alle Angst, Merkel und die Groko sind das letzte
Aufgebot. Am Mittwoch wurde sie zur Kanzlerin gewählt und ihr Kabinett
vereidigt. Und über allem schwebte die Ahnung, dass eine stabile Phase der
Bundesrepublik endgültig zu Ende gehen könnte.
Schäuble sagt ihr nach dem Eid noch ein persönliches Wort. Er wolle ihr
alle guten Wünsche auf ihrem „schweren Weg mitgeben“. Das ist ausnahmsweise
keine Floskel, sondern ein sehr wahrer Satz. Merkels vierte Amtszeit wird
ihre schwerste, unkalkulierbarste sein. Reicht es danach noch mal für die
Groko, die ja in Wirklichkeit heute schon eine Kleiko ist? Oder zerbröseln
die Volksparteien weiter? Findet sich ein Rezept gegen die AfD? Ob die
Koalition die Dinge zum Guten wenden kann, ist offen.
## Gerne mit den Grünen regiert
„Guten Morgen!“ Merkel und ihr Tross rauschen kurz vor halb neun Uhr am
Nordeingang des Bundestages an wartenden JournalistInnen vorbei. Drinnen,
im Plenarsaal, füllen sich langsam die Plätze. Auf der Besuchertribüne in
der ersten Reihe sitzt Merkels Familie, ihre engsten Vertrauten. Ihre
Mutter Herlind Kasner ist da. Joachim Sauer, ihr Ehemann, auch – das war
er die letzten Male nicht. Sein Sohn aus erster Ehe, Daniel Sauer, sitzt
neben ihm. Auch andere Merkel-Vertraute sind anwesend. Beate Baumann, ihre
Büroleiterin, Eva Christiansen, ihre Medienberaterin, ihr Sprecher Steffen
Seibert.
Merkel geht freundlich nickend durchs Plenum, als sie ankommt. Sie gibt
Wolfgang Kubicki von der FDP die Hand, geht hinüber zu der Grünen Katrin
Göring-Eckardt. Claudia Roth stellt sich dazu. Die drei Frauen plaudern,
lachen, winken zur Besuchertribüne hoch. Man schätzt sich. Merkel hätte
gerne mit den Grünen regiert. Doch da war die FDP vor, die Jamaika platzen
ließ.
Zum vierten Mal ist Merkel jetzt Kanzlerin. Wenn sie die Amtszeit wie
angekündigt beendet – und dafür spricht viel – wäre sie dann 16 Jahre
Regierungschefin gewesen. Sie spielt dann endgültig in einer Liga mit
Konrad Adenauer und Helmut Kohl, den ewigen Kanzlern.
Eine Kanzlerinnenwahl ist ein zeitraubendes Prozedere. Bundestagspräsident
Schäuble erklärt die Regeln. Die Abgeordneten können in Wahlkabinen auf
einem Stimmzettel ankreuzen, ob sie mit Ja, Nein oder Enthaltung stimmen.
Den Zettel werfen sie in gläserne Urnen neben dem Rednerpult – und geben
gleichzeitig einen Stimmausweis ab, damit klar ist, wer schon votiert hat.
Über das Saalmikrofon rufen jetzt Bundestagsmitarbeiter alle Abgeordneten
namentlich auf. Auch Merkel selbst wirft ihren Zettel ein. Während dieser
einen Stunde spielen sich sprechende Szenen im Parlament ab.
## Gabriel zeigt seinen Frust deutlich
Da war zum Beispiel der Auftritt Sigmar Gabriels. Erst ist nichts von ihm
zu sehen in den Reihen der SPDler. Plötzlich schlendert er in den Saal.
Lässig und breitbeinig geht er über den grauen Teppich wie ein
Revolverheld. Er stoppt kurz an der Urne und geht dann die paar Schritte zu
Merkel und Volker Kauder. Sie plaudern und lachen.
Was Gabriel wohl sagt? Die werden schon sehen, was sie davon haben, dass
sie mich wegmobben? Gabriel, daraus hat er kein Geheimnis gemacht, wäre
gerne Außenminister geblieben – doch in dem neuen SPD-Spitzenteam um
Fraktionschefin Andrea Nahles und Finanzminister Olaf Scholz war kein Platz
mehr für ihn.
Gabriel hält noch kurz bei Kubicki, noch so einem politischen Silberrücken.
Seine eigenen Leute, die ein paar Meter weiter sitzen, würdigt er keines
Blickes. Gabriel verlässt den Saal, ohne mit einem einzigen
Sozialdemokraten gesprochen zu haben. Deutlicher kann er seinen Frust nicht
zeigen. Übers Mikrofon ist nun sekundenlang zu hören, wie viele Müllers es
im Bundestag gibt – es sind 11, dann noch 3 mit Doppelnamen. Auf der
Besuchertribüne tippt Joachim Sauer auf einem Laptop auf seinen Knien
herum. Vielleicht nutzt der Quantenchemiker die Zeit, um einen
wissenschaftlichen Aufsatz zu redigieren.
Dann gibt Schäuble das Ergebnis bekannt. 364 Abgeordnete haben mit Ja
gestimmt. Durch den Saal geht ein leises Raunen. 364, das sind 35 weniger,
als zu den Koalitionsfraktionen gehören. Merkel hat gerade mal 9 Stimmen
mehr, als sie braucht. Sie ist gerade so eben zu Kanzlerin gewählt worden.
Das ist kein gutes Omen. Eine so hohe Zahl von Abweichlern sei „ein
deutliches Signal für Unzufriedenheit“, formuliert es FDP-Chef Christian
Lindner später spitz vor den Kameras. „Das ist ein Autoritätsverlust für
die Kanzlerin.“
## Merkel startet mit einem Malus
Die Suche nach Erklärungen beginnt. Carsten Schneider steht mit
durchgedrücktem Rücken im Flur vor dem Plenarsaal. Als
SPD-Fraktionsgeschäftsführer managt er Abläufe und sorgt für Disziplin – …
Idealfall. Seine Leute, das ist seine Botschaft, haben geschlossen Merkel
gewählt. Er habe vorher mit allen, bei denen er nicht sicher gewesen sei,
geredet, erzählt er. Trotzdem kommt mindestens ein Abweichler von der SPD.
Er könne „eine Große Koalition nicht ein drittes Mal mit meiner Stimme
legitimieren“, begründet der Dortmunder Abgeordnete Marco Bülow seine
Verweigerung.
Alexander Dobrindt stellt sich zu dem von Journalisten umringten Schneider.
Der CSU-Landesgruppenchef gibt sich demonstrativ freundlich. „Für das, was
wir hinter uns haben, ist das ein gutes Ergebnis“, sagt Dobrindt lächelnd
in die Runde. Schneider pflichtet ihm nickend bei.
Doch das ist Schönfärberei. Klar ist: Es gibt unter den SPD-Abgeordneten
mehrere dezidierte KritikerInnen der Großen Koalition. Allerdings wirkte
auch auf sie das recht entschiedene Ja der SPD-Basis, jedenfalls kündigte
keiner im Vorfeld an, Merkel nicht zu wählen. Aus der SPD wiederum hört man
die These, dass die Revolte in den Reihen der Union spielt. Es gebe
offenbar in der Unionsfraktion eine Widerstandsbewegung, die näher an der
AfD sei als an Merkels liberalem Kurs.
Woran es wirklich lag, wird unergründet bleiben. Die Abstimmung ist geheim.
Merkel startet mit einem Malus. Sie genießt nicht die volle Rückendeckung
ihrer Abgeordneten, auch wenn sie es zuletzt mit einem frischen
Personaltableau geschafft hatte, die Unruhe in der Union zu dämpfen. Ab
jetzt steht immer auch die Machtfrage im Raum. Wird die Koalition der
Unwilligen in Zukunft stehen, wenn wichtige, strittige Sachfragen zu
entscheiden sind? Man weiß es nicht.
## In Zukunft harte Attacken von rechts
Die Abgeordneten der Union stehen auf und klatschen minutenlang, als Merkel
gewählt ist. Die SPDler bleiben beim Applaudieren sitzen, viele rühren
keine Hand. Begeistert ist das nicht, eher pflichtschuldig. Eine lange
Schlange bildet sich vor Merkel, alle wollen gratulieren. Kauder, Nahles,
Lindner, Göring-Eckardt und Martin Schulz, der Wahlverlierer, sind unter
den Ersten, später kommen einfache Abgeordnete, die die Gelegenheit nutzen,
der Kanzlerin mal die Hand zu schütteln.
Nur von der AfD kommt niemand. Alexander Gauland lehnt sich im Stuhl
zurück, als gehe ihn das nichts an. Alice Weidel, seine Co-Fraktionschefin,
dreht sich unbeteiligt auf ihrem Stuhl hin und her. FDP-Mann Kubicki bleibt
kurz neben ihnen stehen, grinst, sagt ein paar Sätze. Er habe die AfDler
darauf aufmerksam gemacht, dass es höflich sei, der Kanzlerin zur Wahl zu
gratulieren, verrät er später. Ob es an ihm liegt oder nicht, wenig später
stemmt sich Gauland hoch, auch Weidel geht die paar Meter hinüber.
Versteinerte Mienen, ein Nicken, ein kurzer Händedruck, das war’s.
Die AfD wird Merkels Union in den kommenden Jahren hart von rechts
attackieren. Die letzte Groko kannte Opposition nur von links. Der Tonfall
im Parlament ist rauer geworden. Schäuble verhängt vor Merkels Vereidigung
ein Ordnungsgeld von 1.000 Euro über den AfD-Abgeordneten Petr Bystron.
Dieser hatte den Stimmzettel samt seinem Nein-Votum in der Wahlkabine
fotografiert und auf Twitter veröffentlicht.
An diesem Tag hat auch der Mann einen großen Auftritt, dem Merkel und das
Land diese neue Regierung zu verdanken haben. Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier war es, der führenden SPDlern nach dem Jamaika-Ende ins Gewissen
redete. Wie Merkel ist auch er Stabilitätsfan und wollte unbedingt eine
tragfähige Regierung. Er hält wenig von neuen Konstruktionen wie einer
Minderheitsregierung.
## „Neuaufguss wird nicht genügen“
Merkel wippt am Vormittag im Großen Saal im Schloss Bellevue auf den
Fußballen. Sie ist bekanntermaßen uneitel, wirkt aber doch ein wenig
überrascht, wie dröge, fast schon lustlos Steinmeier die Sätze zu ihrer
Ernennung herunterspult. Beharrlich lächelnd nickt Merkel mit dem Kopf,
immer wieder, wie um Steinmeier zu animieren, doch ein bisschen weniger
sauertöpfisch vorzutragen. Nach kaum einer Minute ist es vorbei.
Steinmeier ist einer der Väter dieser Koalition. Dennoch gelingt es auch
ihm nicht, ehrliche Freude darüber aufzubringen. Mittags, bei der Ernennung
des Kabinetts, hält er eine kurze Rede. „Wer Verantwortung in der
Demokratie übernimmt, hat zunächst einmal Respekt verdient“, sagt er
stattdessen. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner: Sie, die neuen
MinisterInnen und ihre Parteien, haben die Verantwortung übernommen, weil
andere nicht wollten.
Man dürfe darüber nicht vergessen, dass diese Koalition bei der vergangenen
Bundestagswahl Stimmen verloren habe, sagt Steinmeier. Und er mahnt: „Um
verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, wird ein schlichter Neuaufguss des
Alten nicht genügen. Diese Regierung muss sich neu und anders bewähren.“
Steinmeier rät etwa zu direkten Gesprächen mit BürgerInnen, die Vertrauen
verloren haben. „Die nächsten vier Jahre sind Bewährungsjahre für die
Demokratie“.
Steinmeiers Botschaft ist klar: Ich habe verstanden. Und die Volksparteien,
so sie überleben wollen, müssen ebenfalls verstehen.
14 Mar 2018
## AUTOREN
Pascal Beucker
Ulrich Schulte
Hanna Voß
## TAGS
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Angela Merkel
Sigmar Gabriel
Schwarz-rote Koalition
Frank-Walter Steinmeier
Blinde Menschen
Goldman Sachs
Migration
SPD
Schwerpunkt Angela Merkel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Hausbesuch: Nicht alle so wie sie
Gika und Lucy Wilke sind Mutter und Tochter und haben eine Band, „Blind &
Lame“. Vorbilder wollen sie nicht sein, sind es aber irgendwie doch.
Ex-Banker wird Finanzstaatssekretär: „Goldman Sachs buhlt um Einfluss“
Darf ein früherer Topbanker Staatssekretär werden? Der Grüne Gerhard Schick
erklärt die Probleme der Berufung von Jörg Kukies – und die Tricks von
Goldman Sachs.
Gastkommentar GroKo und Migranten: Symbolischer Super-GAU
Im neuen Kabinett findet die Einwanderungsgesellschaft weder auf
Personalebene noch inhaltlich deutlich Platz. Es gibt eine riesige
Repräsentationslücke.
Kommentar zur neuen alten Regierung: Magma unter der Oberfläche
SPD und Union sind sich zu ähnlich geworden, die GroKo verstärkt das
Problem noch. Das System der mittigen Volksparteien zerfällt.
Große Koalition besiegelt: Merkels selbstbewusster Scholz
Wie wird die neue GroKo? Wie die alte. Nur Merkel kann nach 12 Jahren auch
mal gereizt sein. Ihr Vizekanzler macht erstmal Werbung für sein Buch.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.