| # taz.de -- Der Hausbesuch: Einfach Linus | |
| > Linus Giese ist trans. Lange hat er sich niemandem anvertraut. Nun | |
| > spricht er offen darüber. Um andere zu ermutigen, auch für sich | |
| > einzustehen. | |
| Bild: Linus Giese in seinem Zimmer in Berlin | |
| In seinem Personalausweis steht bislang noch ein weiblicher Vorname. Der | |
| Buchblogger und Buchhändler lebt und arbeitet aber bereits seit einem | |
| Dreivierteljahr offiziell als Linus Giese. | |
| Draußen: Eine breite Straße mit unsanierten Altbauten im Berliner Bezirk | |
| Friedrichshain. Der Ostwind bläst den Passanten Kälte in die Gesichter. | |
| Eine junge Mutter kommt vorbei. Ihr schlafendes Baby trägt einen | |
| pinkfarbenenen Schneeanzug mit Fäustlingen und eine rosa Mütze. | |
| Drinnen: Mit den Worten: „Es ist noch spärlich möbliert“, bittet Linus | |
| Giese in sein WG-Zimmer. Darin: unausgepackte Kisten, ein Regal mit Büchern | |
| „alle aus den letzten vier Monaten und nicht sortiert“, eine Matratze, ein | |
| kleiner Tisch mit Laptop und Teepackungen. Der Buchhändler und Buchblogger | |
| ist erst vor drei Wochen eingezogen: „Meine Möbel sind alle noch | |
| eingelagert, zu Ikea habe ich es noch nicht geschafft – ich habe gleich 40 | |
| Stunden gearbeitet.“ Den kleinen Tisch hat er am Einzugstag mit einem | |
| Freund auf dem Sperrmüll gefunden, Matratze und Regal von seiner neuen | |
| Mitbewohnerin geliehen. An das Zimmer in ihrer Wohnung kam er über einen | |
| Suchaufruf bei Twitter: „Dort kannten wir uns bereits. Mir war es wichtig, | |
| irgendwo einzuziehen, wo ich geoutet und akzeptiert bin.“ | |
| Damals: Geboren und aufgewachsen ist er in Bremen. Die Formulierung: „Als | |
| Mädchen zur Welt gekommen“ findet er falsch: „Ich wurde als Baby geboren.�… | |
| Seine Eltern erzogen ihn weitestgehend genderneutral: „Ich habe Playmobil, | |
| Lego oder Turtles gespielt.“ An seinem 6. Geburtstag wurde ihm das erste | |
| Mal schmerzlich bewusst, dass sein Selbstbild von dem Bild anderer | |
| abweicht: „Ein Junge, den ich sehr mochte, hat mir eine Barbie gebracht.“ | |
| Mit Einsetzen der Pubertät wurden seine Probleme mit der Genderidentität | |
| größer: „Ich habe mich in meinem Körper nie wohlgefühlt. Als Mara habe ich | |
| meist schwarz getragen. Hauptsache unauffällig.“ | |
| Scham: Selbst seinen Eltern und seiner damaligen Partnerin wagte sich der | |
| 32-Jährige nicht anzuvertrauen. „Ich habe mich geschämt und hatte Angst, | |
| sie ekeln sich und nehmen mich nicht so an, wie ich bin.“ Von klein auf | |
| hatte er gelernt, alles mit sich selbst auszumachen: „In meiner Familie war | |
| Totschweigen Mantra.“ Nur im Internet, auf seinem Blog Buzzaldrins Bücher | |
| und in den sozialen Netzwerken wagte Linus Giese es, aus sich | |
| herauszugehen. „Da habe ich auch mal Persönliches wie den Tod meines Hundes | |
| geteilt.“ | |
| Ermutigung: Im letzten Sommer sprach er zum ersten Mal offen über sich „mit | |
| einem Bloggerkollegen, der einen Beitrag von mir für eine Anthologie | |
| gegengelesen hat“. In der Anthologie sollte es um Butches gehen. Als eine | |
| solche sah er sich zu dem Zeitpunkt selbst. „Obwohl ich irgendwo wusste, | |
| dass das nur die halbe Wahrheit ist.“ Nach intensiven Gesprächen ermutigte | |
| sein neuer Freund ihn, als Mann zu leben: „Er hat gesagt: ‚Du bist okay, so | |
| wie du bist.‘“ Während er davon erzählt, liegt Rührung in seiner Stimme. | |
| Outing: Sein offizielles Outing war spontan: Bei Starbucks antwortete er | |
| auf die Frage nach seinem Namen einfach: Linus. „Das hat sich richtig | |
| angefühlt. Der Name war schon immer da.“ Den Kaffeebecher mit seinem | |
| Wunschnamen teilte er am Abend vor der Frankfurter Buchmesse auf Twitter. | |
| Auf der Messe wollte er neu anfangen: als Blogger. Seine Eltern sahen den | |
| Tweet. „Sie haben angerufen und mich darauf angesprochen.“ Verstanden haben | |
| sie ihn bislang nicht. „Sie nennen mich immer noch Mara. Mit seiner | |
| damaligen Freundin kam es zu einer Entfremdung. Er ging nach Berlin. „In | |
| der Buchhandlung hier habe ich mich noch als Mara beworben. Dann hat meine | |
| Chefin im Internet von meiner Namensänderung erfahren und mir angeboten, | |
| mich auch auf der Arbeit Linus zu nennen.“ | |
| Reaktionen: „Mich genau vor der Buchmesse zu outen, war eine gute | |
| Entscheidung. In der Buchmenschenblase haben alle zustimmend reagiert.“ Auf | |
| Twitter fielen nicht alle Reaktionen positiv aus. Bis zu zehnmal am Tag | |
| wird Linus Giese bis heute von Sifftwitter, einem Netzwerk von Trollen, mit | |
| Hassreden bombardiert. Als die Trolle die Adresse seiner neuen Buchhandlung | |
| in Berlin veröffentlichten und dazu aufriefen, dort anzurufen und nach Mara | |
| Giese zu fragen, wandte er sich an die Polizei. „Die haben mich zum Glück | |
| ernst genommen und die Screenshots an einen extra Staatsanwalt für Trans | |
| geschickt.“ Im analogen Leben wird er weniger mit Intoleranz konfrontiert. | |
| Eher mit einer großen Unsicherheit im Umgang mit Transgender: Sein alter | |
| Chef wünschte ihm viel Glück mit der „neuen Genderrolle“ – und selbst | |
| Fachärzte verwenden im Gespräch über ihn das falsche Personalpronomen. | |
| Heute: Eine Namensänderung konnte er sich bislang weder zeitlich noch | |
| finanziell leisten. „Da muss man zu zwei Gerichtsterminen und 2.000 Euro | |
| bezahlen.“ In seinem Körper fühlt er sich bis heute nicht wohl. „Der hat | |
| sich ja noch nicht geändert.“ Dennoch ist er glücklich. „In den letzten | |
| vier Monaten habe ich viele Freunde gefunden und bin viel selbstbewusster | |
| geworden.“ Das sieht man auch seiner Kleidung an. Zur geblümten Jacke trägt | |
| er grüne Socken mit Schildkrötenprint. Manchmal aber wünschte er, es gäbe | |
| ein Kleidungsstück, das ihn als Mann kenntlich machen würde. „Ich werde oft | |
| noch als Frau gelesen – wohl wegen meiner hohen Stimme.“ Die wird sich bald | |
| ändern: Vor ein paar Tagen hat er seine erste Testosteronspritze bekommen. | |
| Eines Tages möchte er seine Brüste entfernen lassen. „Um die Entscheidung | |
| treffen zu dürfen, muss ich aber erst einmal anderthalb Jahre Therapie | |
| machen.“ | |
| Genderklischees: „Im Buchladen höre ich oft Sachen wie: ‚Können Sie das | |
| bitte für ein Mädchen verpacken?‘ ‚Das Papier mit den Sternen ist nichts | |
| für einen Mann.‘ Oder: ‚Ich suche ein Buch für eine Frau‘. Als ob das | |
| Geschlecht etwas über den Geschmack sagen würde!“ Nachdenklich fügt er | |
| hinzu: „Ich wünschte, Kinder würden nicht so in Rollen gedrängt.“ Gerade… | |
| der Kinderliteratur, meint er, sei die Indoktrinierung stark. „Alleine so | |
| etwas wie pinke Hochzeitsstickerbücher für Mädchen.“ Als eine Mutter ihrem | |
| Sohn einmal kein Buch von Prinzessin Elsa kaufen wollte, hätte er gerne | |
| etwas gesagt. „Aber meine Teamleiterin meint, ich habe keinen | |
| Erziehungsauftrag.“ Neulich musste er feststellen, dass er selbst nicht | |
| frei ist von Rollenklischees: „Eine Frau hat nach einem Fußballbuch für ihr | |
| Enkelkind gesucht. Ich habe gefragt: ‚Wie alt ist Ihr Enkel?‘ Dann habe ich | |
| ihre Enkelin gesehen.“ | |
| Gegen Intoleranz und Hass: Von den Hassbotschaften im Netz lässt er sich | |
| nicht einschüchtern. „Ich werde immer lauter und sichtbarer.“ Sein neues | |
| Mantra: „Das beste Gegenmittel gegen Scham ist Ehrlichkeit“ – eine Zeile | |
| aus dem Buch „Die Argonauten“ von Maggie Nelson. Mit seiner Stimme in den | |
| sozialen Medien hofft er, andere zu ermutigen, auch für sich einzustehen. | |
| Seine Selbstbeschreibung auf Twitter ist gleichsam Kampfansage. Da steht | |
| auf Englisch. „Manche Jungs haben Vaginas. Find dich damit ab.“ Nun möchte | |
| er auch im Alltag sichtbarer werden – gerade hat er sich ein T-Shirt mit | |
| dem Slogan drucken lassen. | |
| Update, 02. April, 17:30 Uhr: Diesen Artikel haben wir am Sonntag, 01. | |
| April 2018, auf taz.de, Twitter und Facebook veröffentlicht. Wir haben bei | |
| der Veröffentlichung Formulierungen verwendet, die unachtsam waren und | |
| einer angemessenen Darstellung von Transmenschen nicht gerecht werden. | |
| [1][Wir möchten uns dafür entschuldigen], es war nicht unsere Absicht, | |
| jemanden damit zu verletzen. Die entsprechenden Stellen haben wir geändert. | |
| 1 Apr 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://blogs.taz.de/hausblog/2018/04/03/entschuldigung-zu-einfach-linus/ | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Lena Lörzer | |
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| 2018. |