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# taz.de -- Fragwürdige Methoden: Time-out für den Chefarzt
> Nach Vorwürfen über Behandlungsmethoden und Mitarbeiterführung wurde dem
> Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Rotenburg/Wümme gekündigt.
Bild: Wurde in der Rotenburger Kinder- und Jugendpsychiatrie als Strafe genutzt…
BREMEN taz | Stundenlang, manchmal mehrere Tage, sollen jugendliche
PatientInnen im sogenannten „Time-Out-Raum“ verbracht haben – einem Zimme…
in dem man durch reizarme Umgebung in kurzer Zeit zur Ruhe kommen soll. Was
eigentlich als Mittel zur Krisenintervention konzipiert ist, wurde in der
Kinder- und Jugendpsychiatrie des Agaplesion-Diakonieklinikums in
Rotenburg/Wümme aber offenbar zur Strafe und als Drohung eingesetzt.
Denn pro Lebensjahr sollen PatientInnen eigentlich nicht länger als eine
Minute in so einem Time-Out-Raum verbringen – bei einem Fünfzehnjährigen
wären das nicht länger als 15 Minuten. Dass die Zeiten in der Rotenburger
Klinik so viel länger waren, berichten mehrere ehemalige PatientInnen und
niedergelassene TherapeutInnen aus der Region.
Gerüchte um fragwürdige Behandlungsmethoden in Rotenburg gab es schon
lange. Dass nun darauf reagiert wird, geht auf Marlene Heuer-Pattschull
zurück. Die niedergelassene Kindertherapeutin arbeitet seit 2011 im nahe
gelegenen Scheeßel: „Ich habe das immer wieder gehört und daher lange auch
keinen meiner Patienten dort hingeschickt“, sagte sie. Als zwei ihrer
PatientInnen, die zuvor in der Rotenburger Kinder- und Jugendpsychiatrie
behandelt worden waren, ihr die Erlebnisse dort schilderten und die
Verhältnisse auch in Beratungen mit anderen KollegInnen immer wieder Thema
waren, schrieb sie im Februar einen Brief an die Klinik. Weil daraufhin
zunächst nichts passierte, wandte sie sich schließlich an die Presse.
Als immer mehr Beschwerden über fragwürdige Behandlungsmethoden von
ehemaligen PatientInnen laut wurden und sich auch die MitarbeiterInnen über
das Führungsverhalten beschwerten, zog die Klinik im Mai schließlich die
Reißleine: Sie stellte den Chefarzt frei, schaltete mit der Hamburger
Mediatorin und Fachanwältin für Familienrecht, Sabine Kramer, eine
unabhängige Anlaufstelle für Betroffene ein und bemüht sich damit um
Aufklärung.
## Da wird auch Lob gesammelt
Vor einigen Tagen folgte dann schließlich auch die fristlose Kündigung des
Chefarztes, der seit der Gründung der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Jahr
2000 dort tätig war. In einer Stellungnahme gegenüber dem Weser-Kurier wies
er die Vorwürfe zurück. Außerdem wehrt er sich vor dem Arbeitsgericht
Verden gegen die Kündigung.
Wie viele ehemalige PatientInnen sich inzwischen bei der Klinik und der
Mediatorin gemeldet haben, wollte die Sprecherin des Klinikums, Ute-Andrea
Ludwig, nicht kommentieren. Sie wies darauf hin, dass dort nicht nur
Beschwerden ankämen: „Da wird auch Lob gesammelt, genauso wie Beschwerden,
Fragen, positive Kritik.“ Eben deshalb habe man sich für eine Mediatorin
entschieden.
Die gesammelten Fälle sollen zunächst der internen Aufarbeitung dienen. Und
die scheint bitter nötig: Wer die Strukturen in einer Klinik kennt, weiß,
dass ein Chefarzt zwar den Rahmen vorgibt – zuständig für die meisten
Behandlungen sind aber die jeweiligen BezugstherapeutInnen. Wenn die – etwa
aus Angst vor dem Chef – die unwürdigen Behandlungsmethoden mitmachen,
stimmt grundsätzlich etwas nicht.
Und auch das Controlling der Klinik wirft Fragen auf: Behandlungen müssen
in Kliniken bis ins Kleinste dokumentiert werden. Lange Verweildauern mit
der für Time-out-Räume üblichen Eins-zu-eins-Betreuung hätten in
Dokumentation und Abrechnungen auffallen müssen. „Ich habe eine meiner
PatientInnen gebeten, ihre Akte von dort anzufordern“, sagte dazu die
Therapeutin Heufer-Pattschull. „Darin stand nirgends etwas von den langen
Aufenthalten im Time-out-Raum“.
## Konsequenzen nur für den Chefarzt
Doch Konsequenzen gab es bislang nur für den Chefarzt: Gegen andere
MitarbeiterInnen werde nicht vorgegangen, sagte Kliniksprecherin Ludwig auf
Nachfrage der taz – sie seien von dienstrechtlichen Maßnahmen nicht
betroffen.
Dass die fragwürdigen Behandlungsmethoden in der Rotenburger
Jugendpsychiatrie überhaupt so lange praktiziert werden konnten, bevor sie
richtig bekannt wurden, liegt nach Meinung von Heuer-Pattschull auch am
Klientel der Betroffenen: „Das sind oft sehr schwierige Kinder und
Jugendliche, die zum Teil aus Heimeinrichtungen kommen oder deren Eltern
eben nicht sofort einen Beschwerdebrief schreiben, wenn etwas ist“, sagt
sie. „Die haben keine Lobby.“
11 Jul 2018
## AUTOREN
Karolina Meyer-Schilf
## TAGS
Psychiatrie
Rotenburg
Schwarze Pädagogik
Medizin
Euthanasie
Psychiatrie
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Inklusion
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